BT-Drucksache 17/9148

Grundlegende Reformen der EU-Verträge umsetzen - Änderung von Artikel 136 des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union verhindern

Vom 27. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9148
17. Wahlperiode 27. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord, Alexander
Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Werner Dreibus, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch,
Niema Movassat, Wolfgang Neskovic, Paul Schäfer (Köln), Michael Schlecht,
Kathrin Vogler, Sahra Wagenknecht, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Grundlegende Reformen der EU-Verträge umsetzen – Änderung von Artikel 136
des Vertrags zur Arbeitsweise der Europäischen Union verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise, die sich
insbesondere in den Staaten der Eurozone zu einer Schuldenkrise verlagert
hatte, kamen die Regierungen der Eurozone und der übrigen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union (EU) überein, die als „Euro-Rettungsschirm“ be-
kannte temporäre Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) durch
einen dauerhaft angelegten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu
ersetzen. Vor allem die Bundesregierung hatte darauf gedrängt, die Einrich-
tung des ESM durch eine Änderung des Vertragswerks von Lissabon recht-
lich abzusichern. In dem Zusammenhang hatten sich die EU-Regierungs- und
Staatschefs bereits auf dem Europäischen Rat vom 16./17. Dezember 2010
geeinigt, mit der Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeits-
weise der Europäischen Union (AEUV) die rechtliche Grundlage für die Ein-
richtung des ESM zu legen. Auf dem Europäischen Rat vom 24./25. März
2011 wurde die Ergänzung des Artikels 136 um einen Absatz 3 mit dem fol-
genden Wortlaut formell beschlossen: „Die Mitgliedstaaten [der EU], deren
Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der
aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Wäh-
rungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Fi-
nanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterlie-
gen.“

2. Tatsächlich erfordern die aktuellen wirtschaftlichen und finanziellen Pro-
bleme der EU und ihrer Mitgliedstaaten, vor allem der südlichen Staaten der
Eurozone, eine grundlegende Reform sowohl des EU-Vertrags (EUV) als
auch des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Für solche Refor-

men enthält das Recht der EU die Möglichkeit der Vertragsänderung nach Ar-
tikel 48 EUV, der ausdrücklich die Anhörung des Europäischen Parlaments
und die Einberufung eines Konvents mit der Konsequenz einer ausführlichen
öffentlichen Debatte vorsieht.

3. Die Regierungen der Mitgliedstaaten, vor allem die deutsche Bundesregie-
rung, haben jedoch einen anderen Weg eingeschlagen: Sie suchen nach We-

Drucksache 17/9148 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gen außerhalb des EU- und des Verfassungsrechts. Den vorläufigen soge-
nannten Rettungsschirm – die EFSF – haben sie als privatrechtliche Aktien-
gesellschaft luxemburgischen Rechts gestaltet. Der Euro-Plus-Pakt ist eine
quasi private Abrede zwischen den Staats- und Regierungschefs zweifelhaf-
ter Rechtsnatur. Auch die von der Bundesregierung auf EU-Ebene forcierte
Änderung bzw. Ergänzung des Artikels 136 AEUV um einen Absatz 3 ist ein
weiterer Schritt auf diesem Weg, mit dem versucht wird, diese Praxis auf eine
rechtliche Grundlage zu stellen.

4. Zur Umsetzung dieser Änderung des Artikels 136 AEUV wählten die Regie-
rungen das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren nach Artikel 48 Absatz 6
EUV. Damit wurden dem Europäischen Parlament und den Parlamenten der
Mitgliedstaaten die Möglichkeiten einer effektiven Mitgestaltung an der Ver-
tragsänderung entzogen und eine notwendige breite öffentliche Debatte wurde
verhindert. Darüber hinaus erlaubt das vereinfachte Änderungsverfahren
keine Vertragsänderungen, die zu „einer Ausdehnung der der Union […]
übertragenen Zuständigkeiten“ führen (Artikel 48 Absatz 6 EUV). Die auf
Basis des ergänzten Artikels 136 Absatz 3 AEUV ermöglichte Ausgestaltung
des ESM (und auch des Fiskalvertrags) räumt jedoch der EU-Kommission
weitreichende Kompetenzen bei der Überwachung der Vertragsstaaten bis
hin zur Formulierung bindender haushaltspolitischer Vorgaben für Defizit-
staaten ein. Eine Änderung der EU-Verträge von derart großer politischer
Tragweite hätte darum ein ordentliches Änderungsverfahren nach Artikel 48
Absatz 2 EUV erforderlich gemacht.

5. Was den Anschein der Vereinbarkeit der Politik der „Eurorettung“ mit gelten-
dem EU-Recht erwecken soll, stellt sich in Wahrheit als weiterer Schritt zur
undemokratischen Desintegration der EU heraus. Denn der Zusatz zum Arti-
kel 136 legt die Grundlage für die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus
außerhalb des EU-Rechts: Der dauerhafte Rettungsschirm ESM ist als inter-
nationale Finanzinstitution konzipiert, die auf einem völkerrechtlichen Ver-
trag und nicht auf EU-Recht basieren soll. Auch der Fiskalvertrag ist seinem
Inhalt nach bewusst nicht in das EU-Recht eingefügt, sondern als gesonderter
völkerrechtlicher Vertrag gefasst worden. Dort wird zwar das Ziel formuliert,
den Vertrag nach fünf Jahren in den Rechtsrahmen der EU überführen zu wol-
len. Dies behebt aber nicht das aktuelle Problem: Durch die Konstruktion
völkerrechtlicher Verträge außerhalb des Vertragswerkes der EU werden zen-
trale EU-Organe – z. B. die Kommission – partiell einer anderen Rechtsord-
nung als der der EU unterworfen. Damit wird die Rechtseinheit der EU in
einem ihrer Kernbereiche – der Wirtschafts- und Währungsunion – in Frage
gestellt und ein Prozess der Desintegration der EU wird eingeleitet. Das kann
nicht akzeptiert werden.

6. Auch wenn die Bundesregierung inzwischen zugestanden hat, dass die Rati-
fizierung des Fiskalvertrags mit verfassungsändernder Mehrheit erfolgen
soll, stellen alle genannten Maßnahmen Schritte zur Entdemokratisierung der
EU dar. Es wird die Einberufung eines Konvents mit der Begleitung durch
eine breite demokratische Diskussion vermieden. Die Rechte des Bundes-
tages aus Artikel 23 des Grundgesetzes sind zumindest in Frage gestellt. Vor
allem aber wird so die institutionelle Mitwirkung des Europäischen Par-
laments umgangen, die für den überwiegenden Teil der EU-Rechtsetzung
durchgesetzt wurde. Das lehnt der Deutsche Bundestag ab.

7. Mit dieser geplanten Vertragsänderung und der Unterzeichnung von ESM-
Vertrag und Fiskalvertrag soll somit ein wirtschaftlich gescheiterter und
politisch gefährlicher Kurs fortgesetzt werden: Die Erfahrungen der Länder,
die Kredite aus dem „Euro-Rettungsschirm“ in Anspruch genommen haben

– vor allem in Griechenland –, zeigen deutlich, dass die Kopplung sogenann-
ter Finanzhilfen an strikte Sparauflagen und marktradikale Reformen die

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Empfängerländer weiter in die Rezession treibt, die Sozialstaatlichkeit zer-
stört und die Bevölkerungen in Unsicherheit und Armut stürzt. Dadurch wird
die wirtschaftliche und soziale Spaltung in der Eurozone und der EU insge-
samt vertieft. Zudem bedeuten die von der demokratisch nicht legitimierten
Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Interna-
tionalem Währungsfonds (IWF) überwachten Spar- und Reformprogramme
massive Eingriffe in die Haushaltssouveränität der betroffenen Staaten und
stellen so einen dramatischen Angriff auf die Demokratie in der EU und ihren
Mitgliedstaaten dar. Diese Entwicklungen werden durch die geplante Verbin-
dung des ESM mit dem Fiskalvertrag institutionalisiert.

8. Die Wirtschafts-, Finanz-, und Demokratiekrise in der EU macht deutlich,
dass die EU in der Verfassung des Vertrags von Lissabon keine Zukunft hat.
Tatsächlich tragen die darin festgeschriebene Politik des freien und umfas-
senden Wettbewerbs und der Liberalisierung und Privatisierung, die vertrag-
liche Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf Haushaltsdisziplin und das Ver-
bot effektiver Kapitalverkehrskontrollen sowie die einseitige Verpflichtung
der Geldpolitik der EZB auf das Ziel der Preisstabilität eine maßgebliche
Mitverantwortung am Ausbruch und der Verschärfung der Krise. Das aus die-
sen vertraglichen Verpflichtungen resultierende Steuer-, Lohn- und Sozial-
dumping gefährdet die europäische Integration ebenso wie die beschleunigte
Aushöhlung der Demokratie auf europäischer wie auf Ebene der Mitglied-
staaten. Um diesen Desintegrationsprozessen zu begegnen und den in der EU
zunehmenden europafeindlichen rechtspopulistischen Tendenzen entgegen-
zuwirken, sind weitreichende Änderungen der EU-Verträge notwendig, die
eine soziale, wirtschaftlich stabile und demokratische EU ermöglichen.

9. Der Deutsche Bundestag lehnt das Ratifizierungsgesetz zur Änderung des
Artikels 136 AEUV ab.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Gesetz zur Ratifizierung der Vertragsänderung zurückzuziehen und auf
EU-Ebene den Vertragspartnern mitzuteilen, dass sie nicht beabsichtigt, die
Vertragsänderung zur Ergänzung des Artikels 136 Absatz 3 AEUV zu ratifi-
zieren;

2. sich auf EU-Ebene für einen vertraglichen Neustart der EU einzusetzen. Dies
beinhaltet im konkreten Fall, sich für eine Revision derjenigen Artikel in den
EU-Verträgen einzusetzen, die eine ursachenorientierte, wirtschaftlich effek-
tive und sozial verträgliche Politik zur Überwindung der gegenwärtigen
Krise verhindern. Dies umfasst die folgenden Änderungen:

a) Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf ein System offener Märkte mit
freiem Wettbewerb (Artikel 119 f., 127, 170 und 173 AEUV) muss gestri-
chen und stattdessen muss Sozialstaatlichkeit gleichrangig mit Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit zum Grundwert der EU nach Artikel 2 EUV er-
klärt werden.

b) Die Verträge müssen um eine „Soziale Fortschrittsklausel“, wie sie von
deutschen und europäischen Gewerkschaften seit langem gefordert wird,
ergänzt werden, um den Vorrang der Grundrechte vor den Kapitalfreihei-
ten sicherzustellen. Des Weiteren sind die Verträge um bindende Regelun-
gen zur Einführung eines EU-weiten Mindestlohns in Höhe von 60 Pro-
zent der nationalen Durchschnittslöhne zu ergänzen.

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c) Um die Ursachen der Finanzkrise erfolgreich zu bekämpfen, müssen das
Verbot von Kapital- und Zahlungsverkehrskontrollen (Artikel 63 AEUV)
aufgehoben und die Verträge um verbindliche Regelungen müssen ergänzt
werden, die eine strikte Regulierung der Finanzmärkte und die EU-weite
demokratische Kontrolle des Bankensektors ermöglichen.

d) Es sind eine vertragliche Grundlage für die Beendigung des innereuro-
päischen Steuerwettbewerbs und eine wirksame Koordinierung der Steu-
erpolitik zu schaffen, die Steuerhinterziehung und Schattenfinanzplätze
wirksam bekämpfen sowie Steuerdumping, insbesondere bei Unterneh-
men und hohen Vermögen, verhindern.

e) Anstelle von Rettungsschirmen, die im Ergebnis nur den Finanzkonzernen
nützen, ist der grundlegende Aus- und Umbau der Struktur- und Kohä-
sionspolitik geboten. Die Regelungen über Beihilfeverbot und Beihilfe-
aufsicht müssen unter den Gesichtspunkten von Ökologie, sozialen Krite-
rien und Dezentralität reformiert werden. Anstatt die Mitgliedstaaten zur
Kommerzialisierung und Liberalisierung von Dienstleistungen zu zwin-
gen (Artikel 101 ff., 106 und 170 AEUV), muss die öffentliche Daseins-
vorsorge von den Bestimmungen des Binnenmarkt-, Wettbewerbs- und
Beihilferechts ausgenommen und öffentliche Dienstleistungen müssen als
eigenständiger Pfeiler in den EU-Verträgen verankert werden.

f) Um die vertraglichen Voraussetzungen einer alternativen wirtschaftspoli-
tischen Koordinierung zu schaffen, muss der Stabilitäts- und Wachstums-
pakt durch einen Pakt für nachhaltige Entwicklung, Vollbeschäftigung,
soziale Sicherheit und Umweltschutz ersetzt werden, der auch Maß-
nahmen zur außenwirtschaftlichen Stabilität einschließt. Hierzu sind die
Artikel 119 bis 126 AEUV sowie das Protokoll 15 über das Verfahren bei
einem übermäßigen Defizit grundlegend zu ändern bzw. zu streichen.

g) Um die EZB einer wirksamen demokratischen Kontrolle zu unterwerfen
und die einseitige Verpflichtung auf das geldpolitische Ziel der Preisstabi-
lität aufzuheben, ist Artikel 127 ff. AEUV zu korrigieren;

3. sich dafür einzusetzen, dass zur Ausgestaltung der Vertragsrevision ein Kon-
vent einberufen wird, der die Zusammensetzung sowohl des Europaparla-
ments als auch der nationalen Parlamente angemessen widerspiegelt. Über
das Ergebnis des Konvents soll die Bevölkerung in einem Referendum ent-
scheiden.

Berlin, den 27. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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