BT-Drucksache 17/9147

Ratifizierung des Fiskalpakts ablehnen - Ursachenorientierte Politik zur Krisenbewältigung einleiten

Vom 27. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9147
17. Wahlperiode 27. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, Annette Groth,
Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Andrej Hunko, Harald Koch, Niema
Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Michael Schlecht, Kathrin Vogler,
Sahra Wagenknecht, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Ratifizierung des Fiskalvertrags ablehnen – Ursachenorientierte Politik zur
Krisenbewältigung einleiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union (EU) – mit Aus-
nahme von Großbritannien und der Tschechischen Republik – haben am
2. März 2012 als Antwort auf die Eurokrise den „Vertrag über Stabilität,
Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (Fis-
kalvertrag) unterzeichnet. Dieser soll nun bis Anfang 2013 in allen Unter-
zeichnerstaaten ratifiziert werden; in Deutschland ist die Ratifizierung bis
Ende Juni 2012 vorgesehen.

2. Der Fiskalvertrag soll die EU angeblich in eine Stabilitätsunion umwandeln
und auf diese Weise dazu beitragen, die Eurokrise zu überwinden. Dies wird
jedoch nicht gelingen: Die Eurokrise wurde nicht etwa dadurch ausgelöst,
dass die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt bzw. eine zu laxe Ausgaben-
politik betrieben hätten. Die hohe Verschuldung einiger Mitgliedstaaten ist
vielmehr auf die Finanzkrise zurückzuführen, in der die Staaten Banken, die
sich verspekuliert hatten, mit Milliardensummen gerettet haben. Zur Abwehr
der darauf folgenden Wirtschaftskrise mussten weitere Milliarden aufge-
bracht werden. Anstatt nun endlich die Finanzmärkte zu disziplinieren, d. h.
zu regulieren, werden mit dem Fiskalvertrag die Vertragsstaaten „diszipli-
niert“, d. h. zu einer strikten Kürzungspolitik gezwungen. Dies wird die
Eurokrise nicht lösen, sondern verschärfen, da die auferlegten Ausgaben-
kürzungen auf direktem Weg in die Rezession führen.

3. Die wirklichen Ursachen der Krise werden im Fiskalvertrag nicht einmal an-
gesprochen. Entsprechend sind auch keine wirksamen Instrumente zu ihrer
Überwindung vorgesehen: Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte,

zur Entkopplung der Staatsfinanzierung von den privaten Kapitalmärkten,
zur Vermeidung von Leistungsbilanzungleichgewichten oder ähnliche Instru-
mente kommen nicht einmal ansatzweise vor. Damit geht auch die massive
Umverteilung von unten nach oben weiter; die Verursacher und Profiteure
der Krise werden nicht zur Finanzierung der Krisenkosten herangezogen und
am europäischen Steuer-, Lohn- und Sozialdumping wird sich nichts ändern.

Drucksache 17/9147 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Der Fiskalvertrag soll die Mitgliedstaaten zu einer dauerhaften Politik der
Ausgabenkürzung und Austerität zwingen. Die Vertragsparteien verpflichten
sich auf das Ziel eines ausgeglichenen oder sogar überschüssigen Haushalts.
Um dies auch tatsächlich einzuhalten, müssen sie – vorzugsweise in ihren
Verfassungen – sogenannte Schuldenbremsen verankern, mit denen ihr struk-
turelles Defizit auf 0,5 bzw. bei gering verschuldeten Staaten 1 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzt wird. Wird die Schuldenbremse nicht
eingehalten, greifen automatische Korrekturmechanismen, deren Art, Um-
fang und Zeitrahmen von der Europäischen Kommission bestimmt werden.
Ob die Schuldenbremsen ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt
wurden, prüft die Kommission. Kommt sie zu einem negativen Ergebnis,
muss die amtierende EU-Ratspräsidentschaft das betroffene Land vor dem
Europäischen Gerichtshof verklagen. Auch der bereits 2011 verschärfte
Stabilitäts- und Wachstumspakt wird durch die Einführung automatischer
Sanktionen und die Regel, dass Staaten, die sich im Defizitverfahren befin-
den, faktisch die Haushaltssouveränität genommen wird, noch einmal strikter
gefasst. Zusätzlich müssen die Staaten ihren Gesamtschuldenstand verringern:
Alle Schulden, die die Marke von 60 Prozent des BIP übersteigen, müssen
um ein 20stel pro Jahr abgebaut werden.

5. Der Fiskalvertrag bedroht die Sozialstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und
das Europäische Sozialmodell. Eine Beteiligung der Krisenverursacher und
- profiteure, zum Beispiel im Rahmen einer Millionärssteuer, wird von der
herrschenden Politik ebenso ausgeschlossen wie eine sozial gerechte Steuer-
politik zur Steigerung der Einnahmen. Deshalb werden die neuen haushalts-
politischen Regelungen alle Mitgliedstaaten zu verschärftem Sozialabbau,
Privatisierung staatlichen Eigentums sowie einem Abbau öffentlicher Leis-
tungen zwingen. Allein die Eurostaaten, die aufgrund der Finanzkrise und der
Bankenrettung meist Schuldenstände von über 60 Prozent des BIP aufwei-
sen, müssen in den nächsten fünf Jahren über 1,5 Bio. Euro kürzen. Dieser
brutale Angriff auf Löhne und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, der sys-
tematische Druck auf Renten und Sozialleistungen sowie die flächendecken-
den Privatisierungen werden auch die Menschen in Deutschland empfindlich
treffen. Die unsoziale, neoliberale Kürzungs- und Austeritätspolitik, der im
Rahmen der Eurokrise bereits viele südeuropäische Staaten unterworfen wur-
den, soll mit dem Fiskalvertrag EU-weit ausgedehnt, radikalisiert, völker-
rechtlich festgeschrieben und faktisch unumkehrbar gemacht werden.

6. Der Fiskalvertrag ist auch ein massiver Anschlag auf die Demokratie in allen
beteiligten Staaten. Sobald ein Land von den neuen haushaltspolitischen Re-
gelungen und damit vom strikten Weg der Austerität abweicht, verlieren die
nationalen Parlamente ihr demokratisches Haushaltsrecht. Das Budgetrecht
ist jedoch eines der zentralen Elemente der Demokratie, denn die Entschei-
dung über die Verteilung der Finanzressourcen ist elementar für das Zusam-
menleben einer Gesellschaft. Zukünftig sollen die Europäische Kommission
und der Rat ein Vetorecht gegenüber den nationalen Haushaltsplänen der
Staaten erhalten, die sich im Defizitverfahren befinden. Auch die automati-
schen Korrekturmechanismen bei Verfehlung der Schuldenbremse und die
automatischen Sanktionen im Stabilitäts- und Wachstumspakt schränken den
Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Parlamente massiv ein. Eine
aktive Konjunkturpolitik wird künftig ebenso unmöglich sein wie eine gestal-
tende Finanzpolitik, z. B. zur Einleitung der sozial-ökologischen Wende. Das
Europäische Parlament (EP) wird im Rahmen der neuen Regeln auch völlig
marginalisiert und die im Vertrag vorgesehene Einrichtung einer Konferenz
der relevanten Ausschüsse aus EP und Mitgliedstaaten zur Förderung einer
koordinierten Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist völlig unzureichend, da sie

keine wirksamen Kontroll- und Gestaltungskompetenzen vorsieht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9147

7. Der Fiskalvertrag ist schließlich eine Gefahr für den gesamten europäischen
Integrationsprozess. Wenn die EU nur mehr mit Sozialabbau und Entdemo-
kratisierung in Verbindung gebracht wird, kann die Zustimmung der Bevöl-
kerung berechtigterweise nur weiter sinken. Auch die Konstruktion des Ver-
trags als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des Rechtsrahmens der EU, an
dem nicht alle Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind, die vertragliche Fest-
schreibung von Euro-Gipfeln mit privilegierter Stellung der Eurostaaten ge-
genüber den anderen Vertragsstaaten und die Schaffung eines Präsidenten der
Eurogruppe werden die Spaltung der EU weiter vorantreiben. Der Vertrag be-
deutet zugleich einen eklatanten Verstoß gegen das geltende EU-Recht, weil
es zentrale Organe der EU ohne Zustimmung ihrer Mitgliedstaaten partiell
einem anderen Rechtsrahmen als dem der EU-Verträge unterwerfen will. Da-
mit wird die Rechtsstaatlichkeit der EU ein weiteres Mal in Frage gestellt.
Wenn die EU diesen Weg weitergeht, anstatt zu einem Projekt des sozialen
Fortschritts weiterentwickelt zu werden, wird die Integration scheitern.

8. Nicht zuletzt verstößt der Fiskalvertrag auch gegen das deutsche Grundgesetz
(GG). Eine Schuldenbremse ist nicht nur unvereinbar mit dem Demokratie-
prinzip nach Artikel 20 Absatz 2 GG, aus dem die demokratische Budgetver-
antwortung des jeweiligen Bundestages folgt. Eine Aufhebung oder Ände-
rung dieser Bestimmungen durch den deutschen Verfassungsgeber soll durch
den Fiskalvertrag sogar dauerhaft unmöglich gemacht werden. Das Ratifizie-
rungsgesetz zum Fiskalvertrag verstößt damit auch gegen die Ewigkeits-
garantie des Artikels 79 Absatz 3 GG. Es müsste vom Bundesverfassungs-
gericht nach Maßgabe seiner eigenen Ausführungen im Lissabon-Urteil vom
Juni 2009 aufgehoben werden.

9. Aus den genannten Gründen lehnt der Bundestag das Gesetz zur Ratifizie-
rung des „Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirt-
schafts- und Währungsunion“ ab.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Ratifizierung des „Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung
in der Wirtschafts- und Währungsunion“ bzw. des Fiskalvertrags nicht weiter
zu verfolgen, das Gesetz zur Ratifizierung der Vertragsänderung zurück-
zuziehen und auf EU-Ebene den Vertragspartnern mitzuteilen, dass sie nicht
beabsichtigt, den Vertrag zu ratifizieren;

2. auch bei den Regierungen und Parlamenten der anderen EU-Mitgliedstaaten
dafür zu werben, den Fiskalvertrag nicht zu ratifizieren;

3. die wirklichen Krisenursachen zu bekämpfen und deshalb

a) sich dafür einzusetzen, dass die öffentlichen Haushalte der Eurozone vom
Diktat der Finanzmärkte befreit werden, indem eine Bank für öffentliche
Anleihen ohne Umweg über private Banken und ohne Zinsaufschlag den
Staaten Kredit einräumt und sich bei der Europäischen Zentralbank re-
finanziert;

b) sich dafür einzusetzen, dass bei überschuldeten Staaten ein ausreichender
Schuldenschnitt erfolgt und dass ein Insolvenzverfahren für Staaten ge-
schaffen wird, welches einen rechtzeitigen und ausreichenden Schulden-
schnitt zukünftig in einem geordneten Verfahren ermöglicht;

c) sich dafür einzusetzen, dass die Verursacher und Profiteure der Krise
durch eine EU-weite Vermögensabgabe zur Krisenfinanzierung herange-
zogen werden;

Drucksache 17/9147 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
d) sich dafür einzusetzen, die Finanzmärkte streng zu regulieren und einen
Gesetzentwurf vorzulegen, der eine Vergesellschaftung der privaten Groß-
banken vorsieht und diese Banken auf die Kernfunktionen Zahlungsver-
kehr, Ersparnisbildung und Finanzierung zurückführt;

e) insbesondere in der Gruppe der Euroländer auf eine zügige Vereinbarung
zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer hinzuwirken und parallel
dazu einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Einführung einer Finanz-
transaktionssteuer auf alle Wertpapierumsätze, Derivate- und De-
visenumsätze in Deutschland regelt;

f) unverzüglich Gesetzentwürfe für geeignete Maßnahmen – wie einen ge-
setzlichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde – vorzulegen, die die In-
landsnachfrage erhöhen und Leistungsbilanzungleichgewichte abbauen;

g) sich dafür einzusetzen, dass die krisenverschärfende Kürzungspolitik so-
fort beendet und ein Investitionsprogramm nach dem Vorbild des Mar-
shall-Plans für Krisenländer aufgelegt wird, das insbesondere den sozial-
ökologischen Umbau befördert und die Jugendarbeitslosigkeit abbauen
hilft;

h) sich für eine gemeinsame europäische Steuerpolitik einzusetzen, die Steuer-
hinterziehung und Schattenfinanzplätze wirksam bekämpft sowie Steu-
erdumping insbesondere bei Unternehmen und hohen Vermögen verhin-
dert;

4. sich für eine grundlegende Reform der EU-Verträge einzusetzen. Statt durch
unzulässige völkerrechtliche Regelungen außerhalb des EU-Rechts die Des-
integration der EU zu betreiben, ist so ein Neustart für ein demokratisches,
soziales, ökologisches und friedliches Europa zu ermöglichen. Dabei dürfen
weder die demokratischen Rechte der mitgliedstaatlichen Parlamente noch
die des EP geschmälert oder gar umgangen werden;

5. zum Zweck einer solchen Reform der EU-Verträge einen Konvent einzu-
berufen, der die Zusammensetzung sowohl des EP als auch der nationalen
Parlamente angemessen widerspiegelt. Über das Ergebnis des Konvents soll
die Bevölkerung der EU in einem Referendum entscheiden.

Berlin, den 27. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.