BT-Drucksache 17/9023

Willkürliche Zerstörungen von Infrastruktureinrichtungen durch Israel in den so genannten C-Gebieten des besetzten Westjordanlandes

Vom 19. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9023
17. Wahlperiode 19. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko,
Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Willkürliche Zerstörungen von Infrastruktureinrichtungen durch Israel in den so
genannten C-Gebieten des besetzten Westjordanlandes

Das Oslo-II-Abkommen (Interimsabkommen über das Westjordanland und den
Gazastreifen) von 1995 sieht als Interimslösung eine Aufteilung der Westbank,
mit Ausnahme von Ostjerusalem, in drei Verwaltungsgebiete vor. Während die
Palästinensische Autonomiebehörde vor allem in großen Städten zuständig für
Sicherheitsfragen und öffentliche Verwaltung ist, werden fast zwei Drittel der
Westbank, die so genannten C-Gebiete (62 Prozent des Gebietes und ca. 6 Pro-
zent der Bevölkerung), vollständig von Israel kontrolliert. Die zahlreichen ein-
zelnen Parzellen der so genannten A- und B-Gebiete liegen vollkommen isoliert
innerhalb dieses durch Israel kontrollierten Gebietes. Die nahezu uneinge-
schränkte Kontrolle über die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevöl-
kerung in den „C-Zonen“, beispielsweise durch zahlreiche Straßensperren, er-
schwert die Lebensbedingungen und insbesondere die ökonomischen Aktivitä-
ten der palästinensischen Bevölkerung der Westbank enorm. Zudem befindet
sich ein Großteil des fruchtbaren Bodens und der natürlichen Ressourcen der
Westbank in den von Israel kontrollierten Gebieten. Infrastrukturmaßnahmen in
palästinensischen Gemeinden wie Straßenbau, Errichtung von Wasser- und
Energieanlagen, Wohn- und Versorgungsgebäuden sind auf Grund der äußerst
restriktiven Genehmigungspolitik durch die israelische Verwaltung kaum reali-
sierbar. Dieser Zustand schränkt das Leben der zumeist beduinischen palästinen-
sischen Bevölkerung enorm ein und behindert wirtschaftliche Entwicklung und
Handel extrem. Daher betont auch die Weltbank, dass die negativen Auswirkun-
gen der anhaltenden israelischen Kontrolle der so genannten C-Gebiete auf die
wirtschaftliche Lage der palästinensischen Bevölkerung gar nicht überschätzt
werden können (http://siteresources.worldbank.org/INTWESTBANKGAZA/
Resources/WorldBankSep2010AHLCReport.pdf).

Nachhaltige Entwicklung ist den Palästinensern in den „C-Zonen“ nahezu un-
möglich. Die israelische Verwaltung erkennt einen Großteil palästinensischer,
zumeist beduinischer, Gemeinden nicht an. Regelmäßig werden Brunnen,

Schulen, Häuser oder Anlagen zerstört, allein im ersten Halbjahr 2011 hat das
UN-Menschenrechtsbüro 342 Fälle von Zerstörung palästinensischer Infra-
struktur in den von Israel kontrollierten Gebieten gezählt.

Ein solches Vorgehen zielt auf eine weitere Vertreibung der palästinensischen
Bevölkerung aus den von Israel kontrollierten Gebieten der Westbank. Dies wird
bei einem Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in den so genannten C- Gebie-

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ten deutlich: Die Zahl der Palästinenser ist dort in den vergangenen Jahren dras-
tisch gesunken, beispielsweise im Jordantal, wo im Jahr 1967 Schätzungen zu-
folge 200 000 bis 320 000 Palästinenser lebten und deren Zahl aufgrund von
Hauszerstörungen und Bauverboten bis heute auf gerade einmal 56 000 gesun-
ken ist (http://euobserver.com/24/114879). Die Zahl der israelischen Siedler in
den so genannten C-Gebieten hat sich dagegen seit den Oslo-II-Verträgen bei-
nahe verdreifacht. Heute leben im „C-Gebiet“ des Westjordanlands Schätzungen
zufolge 310 000 israelische Siedler und 150 000 Palästinenser.

In einem aktuellen Bericht der EU-Botschafter wird daher eindringlich gewarnt,
dass mit der anhaltenden Ausweitung der völkerrechtswidrigen israelischen Be-
siedlung der „C-Gebiete“ die Chance, eine Zweistaatenlösung herbeizuführen,
rapide sinkt. Ein palästinensischer Staat ohne die heute von Israel verwalteten
besetzten Gebiete wäre eine Sammlung geografisch nicht zusammenhängender
Enklaven und daher kaum lebensfähig. Das Erreichen einer Zweistaatenlösung
ist nach Auffassung des Berichts der EU-Botschafter untrennbar mit dem Schutz
der Rechte der palästinensischen Bevölkerung in den „C-Gebieten“ verbunden.

Ein Beispiel für die von der israelischen Zivilverwaltung betriebene völker-
rechtswidrige Zerstörung der Lebensgrundlage der palästinensischen Bevölke-
rung ist der angekündigte Abriss von Solar- und Windkraftanlagen in den so
genannten C-Gebieten. Das Auswärtige Amt förderte nach eigenen Angaben in
dem in den „C-Gebieten“ gelegenen Dorf Susyah südlich von Hebron ein Pilot-
projekt der israelischen Nichtregierungsorganisation Comet-ME (Community,
Energy and Technology in the Middle East) zum Bau von kleinen Wind- und
Solaranlagen. Dieses Projekt verbesserte nach Angaben des Auswärtigen Amts
die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung enorm, indem Zugang zu
Elektrizität beispielsweise für Beleuchtung und Kühlung von Milchprodukten
bereitgestellt wurde. In der Folge stellte das Auswärtige Amt knapp 600 000
Euro für weitere Wind- und Solarprojekte von Comet-ME und medico interna-
tional e. V. in den „C-Gebieten“ für eine Basis-Ökostromversorgung zur Ver-
fügung. Nun ist zu befürchten, dass Israel diese vom Auswärtigen Amt mitfinan-
zierten Ökostromanlagen abreißt. So ist laut Zeitungsberichten beispielsweise
die Anlage in Tha’lah und den umgebenden Dörfern von Zerstörung bedroht.
Mitte Februar dieses Jahres zerstörten Bulldozer bereits die Behausung einer
palästinensischen Familie und Viehunterstände. Dabei wurden auch 15 Lämmer
unter dem Schutt begraben (www.haaretz.com/print-edition/features/israel-
demolishes-west-bank-villages-as-jewish-outposts-remains-untouched-1.413875).

Ein weiteres Beispiel ist die geplante Enteignung des Projekts „Tent of Nations“
der evangelischen Palästinenserfamilie Nassar. Das „Ökumenische Begleitpro-
gramm in Palästina und Israel“ (EAPPI) zur gewaltfreien Hilfe und Unterstüt-
zung der Menschen in den besetzten Gebieten im Westjordanland und in Ostjeru-
salem dient dazu, Menschen im Alltag zu begleiten und gewaltfreie Aktionen
von Israelis und Palästinensern zu unterstützen. Mit dem Motto „Wir wehren uns
dagegen, Feinde zu sein“ zieht das Begegnungs- und Kulturzentrum Freiwillige
und Unterstützer aus der ganzen Welt an. Laut EAPPI sei am 15. Februar 2012
eine „Land Confiscation Order“ des Staates Israel im „Tent of Nations“ einge-
troffen. Es droht eine Enteignung und Räumung des Landes, das sich im Eigen-
tum Nassars befindet.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Solar- beziehungsweise Windprojekte wurden mit finanzieller
Hilfe des Auswärtigen Amts durch medico international e. V. und Comet-ME
in den so genannten C-Gebieten realisiert (mit der Bitte um detaillierte Auf-
listung)?
Wie hoch ist das finanzielle Engagement des Auswärtigen Amts in diesen
Projekten?

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2. Trifft es zu, dass die israelische Zivilverwaltung so genannte Stop-Work-
Anordnungen über die vom Auswärtigen Amt finanzierten Solar- bezie-
hungsweise Windprojekte in den „C-Gebieten“ verhängt hat?

Wenn ja, welche vom Auswärtigen Amt finanzierten Projekte sind hiervon
betroffen (mit der Bitte um detaillierte Auflistung)?

3. Trifft es zu, dass aufgrund bestehender so genannter Stop-Work-Anordnun-
gen der israelischen Zivilverwaltung eine Abrissverfügung für die vom
Auswärtigen Amt finanzierten Solar- beziehungsweise Windprojekte in
den „C-Gebieten“ zu befürchten ist?

Wenn ja, welche vom Auswärtigen Amt finanzierten Projekte sind hiervon
betroffen (mit der Bitte um detaillierte Auflistung)?

4. Welche Maßnahmen wurden seitens der Bundesregierung ergriffen, um die
vom Auswärtigen Amt mitfinanzierten Wind- und Solaranlagen vor einem
möglichen Abriss zu bewahren?

5. Welche Bemühungen unternimmt die Bundesregierung, um die geplante
Enteignung des Projekts „Tent of Nations“ zu stoppen und zu gewährleis-
ten, dass das international anerkannte Begegnungs- und Friedensprojekt
weiter ungehindert seine Arbeit durchführen kann?

6. Welche weiteren Projekte der deutschen und europäischen Entwicklungs-
zusammenarbeit in den „C-Gebieten“ sind aufgrund bestehender „Stop-
Work“-Anordnungen bedroht (mit der Bitte um detaillierte Auflistung)?

7. In welcher Höhe hat die deutsche und europäische Entwicklungszusam-
menarbeit seit 1995 projektgebundene Mittel in den „C-Gebieten“ bewil-
ligt, die aufgrund fehlender Genehmigung seitens der israelischen Verwal-
tung nicht eingesetzt werden konnten oder können?

8. Wie hoch sind die durch israelische Abrissmaßnahmen entstandenen Schä-
den an deutschen oder europäischen Projekten der Entwicklungszusam-
menarbeit in den so genannten C-Gebieten seit 1995?

9. Trifft es zu, dass der deutsche Bundesminister des Auswärtigen Dr. Guido
Westerwelle im Rahmen seiner Israel-Reise im Februar 2012 den israeli-
schen Premierminister Benjamin Netanjahu, den Verteidigungsminister
Ehud Barak sowie den Außenminister Avigdor Lieberman ersucht hat, die
so genannten Stop-Work-Anordnungen aufzuheben (www.haaretz.com/
print-edition/features/israel-demolishes-west-bank-villages-as-jewish-out-
posts-remains-untouched-1.413875)?

10. Trifft es zu, dass nach dem Ersuchen des deutschen Bundesaußenministers
Dr. Guido Westerwelle im Rahmen seiner Israel-Reise im Februar 2012 an
den israelischen Premierminister, den Verteidigungsminister sowie den
Außenminister, die so genannten Stop-Work-Anordnungen aufzuheben,
weitere Anordnungen verhängt wurden (www.haaretz.com/print-edition/
features/israel-demolishes-west-bank-villages-as-jewish-outposts-remains-
untouched-1.413875)?

Wenn ja, für welche Projekte?

11. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Palästinenser in den so
genannten C-Gebieten laut eines Berichts (www.monde-diplomatique.de/
pm/2012/02/10.mondeText.artikel,a0003.idx,1) der EU-Botschafter (EU
Heads of Mission) aufgrund ihrer wachsenden Isolation einer stärkeren Un-
terstützung hinsichtlich Infrastrukturprojekten wie Straßen, Wasserversor-
gung, Schulen und Krankenhäuser durch die EU bedürfen?

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12. Wie hoch sind die bewilligten Mittel der deutschen staatlichen Entwick-
lungszusammenarbeit im Westjordanland seit 1995 (bitte nach Investitio-
nen in den so genannten A-, B- bzw. C-Gebieten aufschlüsseln)?

13. Wie bewertet die Bundesregierung, vor dem Hintergrund des Do-Not-
Harm Ansatzes, die Auswirkungen der Investitionen der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit in den so genannten A- und B-Gebieten des
Westjordanlands auf die Bevölkerungsentwicklung in den so genannten
C- Gebieten?

14. Welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der von den EU-Botschaf-
tern geforderten stärkeren Unterstützung der Palästinenser in den so ge-
nannten C-Gebieten sind seitens der Bundesregierung geplant?

15. Wie schätzt die Bundesregierung die Schlussfolgerung aus dem EU-Be-
richt zu den „C-Gebieten“ ein, die EU müsse gezielt in Wirtschaft, Ent-
wicklung und Lebensbedingungen der Palästinenser in den „C-Gebieten“
investieren, hinsichtlich der Auswirkungen auf das Eintreten der Bundes-
regierung für eine zwischen den beiden Seiten ausgehandelte Lösung des
permanenten Status mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung?

16. Welche politischen Schritte sind nach Auffassung der Bundesregierung
nötig, um der von den EU-Botschaftern beschriebenen Gefahr, die die ge-
genwärtige Entwicklung in den so genannten C-Gebieten für eine zwischen
den beiden Seiten ausgehandelte Lösung des permanenten Status mit dem
Ziel einer Zweistaatenlösung darstellt, entgegenzuwirken?

17. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass das humanitäre Völker-
recht für die besetzten Palästinensergebiete als Ganzes und für die „C-Ge-
biete“ im Besonderen gilt, da Letztere unter direkter israelischer Verwal-
tung und Jurisdiktion stehen, und dass Israel nach dem humanitären Völ-
kerrecht als Besatzungsmacht die Verantwortung für die Sicherstellung der
Grundbedürfnisse der unter Besatzung lebenden Bevölkerung trägt und
dazu verpflichtet ist, die Besatzung so zu administrieren, dass die gesamte
lokale Bevölkerung davon profitiert?

18. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass sich eine Militärbesat-
zung gemäß des humanitären Völkerrechts kein Land durch Gewalt und
Drohung aneignen und keine eigene Bevölkerung in diesen Gebieten ansie-
deln darf, dass sie vielmehr Einrichtungen und Dienstleistungen zur
Deckung des humanitären und des Grundbedarfs schützen und entspre-
chende Arbeit begünstigen muss?

Berlin, den 19. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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