BT-Drucksache 17/8942

Menschenrechtliche und innenpolitische Lage in Aserbaidschan vor dem Eurovision Song Contest 2012

Vom 8. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8942
17. Wahlperiode 08. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Agnes
Brugger, Marieluise Beck (Bremen), Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul,
Ute Koczy, Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian
Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtliche und innenpolitische Lage in Aserbaidschan vor dem
Eurovision Song Contest 2012

Durch den Ende Mai 2012 in Baku stattfindenden Eurovision Song Contest
2012 (ESC) rückt Aserbaidschan in den Fokus der öffentlichen Aufmerksam-
keit.

Aserbaidschan ist ein von einem autoritären Regime regierter Staat, das nicht
demokratischen und rechtsstaatlichen Standards entspricht. Wahlbeobachtungs-
kommissionen etwa der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa berichten von massiven Unregelmäßigkeiten und Fälschungen vor und
während der vergangenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Die Menschenrechte der aserbaidschanischen Bevölkerung werden systema-
tisch durch das Regime verletzt. Politische Oppositionelle und kritische Journa-
listinnen und Journalisten müssen Folter, Misshandlung und willkürliche Fest-
nahmen fürchten. Laut Amnesty International gibt es derzeit 16 gewaltlose
politische Gefangene in Aserbaidschan. Homosexuelle werden stark diskrimi-
niert und zuweilen polizeilich verfolgt und willkürlich festgesetzt. Auf der
Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen steht
Aserbaidschan unter 178 Staaten auf Platz 152. Einer von WikiLeaks veröffent-
lichten Depesche der Botschaft der USA in Baku zufolge hat das Regime des
aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew mafiöse Strukturen. Dies wird
durch den aktuellen Korruptionsindex der Organisation Transparency Inter-
national bestätigt, auf dem Aserbaidschan Platz 143 von 183 Plätzen einnimmt.
Im Vorfeld des ESC verloren insgesamt über 20 000 Menschen für Neubauten
ihre Wohnung in der Innenstadt von Baku, wobei 282 Wohnungen zwangs-
geräumt wurden, um unter anderem Platz für die Austragungshalle des ESC zu
schaffen (vgl. den Bericht von Human Rights Watch „They took everything
from me“ vom 29. Februar 2012).

Zusätzlich zu der Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Am-

nesty International, Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen kritisieren
unter anderem auch die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Men-
schenrechte oder der Beauftragte für Menschenrechtspolitik und Humanitäre
Hilfe das aserbaidschanische Regime deutlich für systematische Menschen-
rechtsverletzungen.

Im März 2009 setzte die Parlamentarische Versammlung den Abgeordneten des
Europarates Christoph Strässer als Sonderberichterstatter für politische Gefan-

Drucksache 17/8942 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gene in Aserbaidschan ein, mit der Befugnis, ungehinderten Zugang zu Haft-
einrichtungen in Aserbaidschan zu erhalten. Trotz mehrmaliger Aufforderun-
gen – unter anderem durch eine gemeinsame Entschließung aller Fraktionen
des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen
Bundestages (Ausschussdrucksache 17(17)116) – weigert sich Aserbaidschan
bis dato, dem Sonderberichterstatter ein Visum zur Einreise nach Aserbaid-
schan zu erteilen.

Der ESC wird organisiert von der European Broadcasting Union (EBU). Mit-
glieder sind unter anderem die ARD mit elf öffentlich-rechtlichen Rundfunk-
anstalten und das ZDF. In ihren Statuten verpflichtet sich die EBU, für die
Meinungs- und Informationsfreiheit einzutreten sowie freie und pluralistische
Medien zu fördern.

Trotz dieser Verpflichtung sieht es die EBU nicht als ihre Aufgabe an, im Rah-
men der Übertragungen des ESC aus Aserbaidschan, die dortige Menschen-
rechtslage zu kritisieren oder Verbesserung einzufordern. Im Gegenteil, sie stellt
etwa in einem Schreiben an den Abgeordneten des Deutschen Bundestages
Volker Beck (Köln) vom 3. Februar 2012 klar, dass sie den ESC frei von jeg-
lichen politischen Aussagen halten wolle.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie schätzt die Bundesregierung die derzeitige Lage der Menschenrechte in
Aserbaidschan ein?

2. Wird Aserbaidschan derzeit den Verpflichtungen der durch Aserbaidschan
am 13. August 1992 ratifizierten Internationalen Pakte über bürgerliche und
politische Rechte (UN-Zivilpakt) und über wirtschaftliche, soziale und kul-
turelle Rechte (UN-Sozialpakt) inklusive der Fakultativprotokolle gerecht?

3. Wird Aserbaidschan derzeit den Verpflichtungen der durch Aserbaidschan
am 26. April 2002 ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) inklusive der von Aserbaidschan ratifizierten Zusatzprotokolle ge-
recht?

4. Hat sich nach Auffassung der Bundesregierung die Lage der Menschen-
rechte in Aserbaidschan im Anschluss an die Entscheidung, dass der ESC
2012 in Baku stattfinden werde, verändert?

5. Waren bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Aserbaid-
schan nach den Erkenntnissen der Bundesregierung die Grundsätze allge-
meiner, gleicher, unmittelbarer, freier und geheimer Wahlen gewahrt?

Welche Einschränkungen dieser Grundsätze sind der Bundesregierung be-
kannt?

6. Wann, aus welchen Gründen und in welcher Form hat der derzeitige Be-
auftragte für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, Markus Löning,
Aserbaidschan für Menschenrechtsverletzungen kritisiert bzw. Verbesserun-
gen angemahnt, und wie waren die Reaktionen darauf?

7. Hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Besuch des aserbaidscha-
nischen Präsidenten Ilham Alijew am 4. Februar 2010 die Lage der Men-
schenrechte in Aserbaidschan thematisiert?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, anhand welcher Beispiele, und in welcher Form?

Wann, aus welchen Gründen und in welcher Form haben andere Mitglieder
oder Organe der Bundesregierung Aserbaidschan für Menschenrechtsver-

letzungen kritisiert bzw. Verbesserungen angemahnt, und wie waren die
Reaktionen darauf?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8942

8. Welche Themen wird der Bundesminister des Auswärtigen Dr. Guido
Westerwelle bei seinem anstehenden Staatsbesuch in Baku ansprechen, und
wird er sich dort persönlich für die Freilassung der politischen Gefangenen
einsetzen, wie zuvor vom Beauftragten für Menschenrechtspolitik und
Humanitäre Hilfe Markus Löning gefordert?

9. Hat die Bundesregierung den Ausbau der Zusammenarbeit im wirtschaft-
lichen Bereich mit Aserbaidschan an die Verbesserung der dortigen Men-
schenrechtslage sowie den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
geknüpft?

Wenn nein, warum nicht?

10. Hat die Bundesregierung über ihren Vertreter im ZDF-Verwaltungsrat, den
Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, versucht, die EBU
zu einer stärkeren politischen Berichterstattung vor und während des ESC
aus Aserbaidschan zu animieren?

Wenn ja, wann, und was waren die konkreten Ergebnisse bzw. Zusagen der
EBU?

Wenn nein, warum nicht?

11. Wie viele Menschen sind derzeit in Aserbaidschan aus politischen Gründen
inhaftiert (bitte einzeln mit Namen, Inhaftierungsgrund, -orte und voraus-
sichtliche Inhaftierungsdauer angeben)?

12. Wie viele Menschen (insbesondere Journalistinnen bzw. Journalisten,
Bloggerinnen bzw. Blogger) sind derzeit in Aserbaidschan inhaftiert, weil
sie von ihren Rechten auf Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit ge-
mäß des UN-Zivilpaktes und der EMRK Gebrauch gemacht haben (bitte
einzeln mit Namen, Inhaftierungsgrund, -orte und voraussichtliche Inhaf-
tierungsdauer angeben)?

13. Aufgrund welcher Straftatbestände werden aserbaidschanische Journalis-
tinnen bzw. Journalisten, Bloggerinnen bzw. Blogger häufig verurteilt?

Welche davon wurden kürzlich bzw. werden momentan oder bald geän-
dert?

Ist zu erwarten, dass aufgrund dieser Reformen bald weniger Journalistin-
nen bzw. Journalisten, Bloggerinnen bzw. Blogger inhaftiert werden?

14. Sind der Bundesregierung Fälle von Misshandlungen in Haft in Aserbaid-
schan bekannt?

Wenn ja, welche konkret?

Wenn nein, wie erklärt sie sich die entsprechenden Berichte, wie z. B. von
Amnesty International?

15. Wie ist die Situation von LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) in
Aserbaidschan?

Was unternimmt die aserbaidschanische Regierung, um sie akut vor und
während des ESC zu verbessern?

Sind diese Maßnahmen geeignet, die Situation der LGBT in Aserbaidschan
dauerhaft auch über den ESC und die Stadtgrenzen von Baku hinaus zu
verbessern?

Drucksache 17/8942 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

16. Welche Veranstaltungen sind der Bundesregierung bekannt, die vor oder
während des ESC in Baku vor Ort öffentlich auf die Menschenrechtslage in
Aserbaidschan aufmerksam machen sollen?

Können diese Veranstaltungen nach Erkenntnissen der Bundesregierung
ungehindert organisiert und durchgeführt werden?

Wird es möglich sein, über diese Veranstaltungen frei zu berichten und sie
zu besuchen?

Unterstützt die Bundesregierung die Planungen für die ihr bekannten Ver-
anstaltungen?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass der für politische
Gefangene in Aserbaidschan zuständige Sonderberichterstatter des Europa-
rates, Christoph Strässer, nicht im Rahmen seines Mandates nach Aser-
baidschan einreisen darf, und was unternimmt die Bundesregierung, um
diesen Zustand zu beenden?

18. Ist der Bundesregierung bekannt, dass noch während des Schreibprozesses
der am 9. November 2011 verabschiedeten gemeinsamen Erklärung des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bun-
destages zur menschenrechtlichen Situation in Aserbaidschan sich der Bot-
schafter Aserbaidschans an zahlreiche Abgeordnete des Deutschen Bundes-
tages wandte, um gegen dieses Vorhaben zu protestieren?

Wie erklärt sich die Bunderegierung, dass die aserbaidschanische Botschaft
von diesem Schreibprozess Kenntnis erlangen konnte?

19. Auf welche Umstände ist es nach Ansicht der Bundesregierung zurück-
zuführen, dass Aserbaidschan in dem aktuellen Korruptionsindex von
Transparency International Platz 143 von 183 Plätzen einnimmt?

20. Welche ehemaligen und aktuellen Parlamentarierinnen oder Parlamentarier
des Deutschen Bundestages, des Europäischen Parlaments und Mitglieder
des Europarates arbeiten derzeit nach Erkenntnissen der Bundesregierung
für die aserbaidschanische Regierung bzw. ihre Organe, Unternehmen,
Stiftungen etc. und machen in diesem Rahmen Öffentlichkeitsarbeit für die
Republik Aserbaidschan?

21. Wie geht die Bundesregierung mit der zurückgezogenen Finanzierungs-
zusage des aserbaidschanischen Bildungsministeriums um, die für die Aus-
zahlung der kofinanzierten Stipendien des Deutschen Akademischen Aus-
tauschdienstes e. V. (DAAD) notwendig sind?

22. Kann die Bundesregierung Medienberichte (vgl. etwa www.n-tv.de/politik/
Pomp-und-PR-in-Baku-article5505216.html) bestätigen, wonach hunderte
Wohnungen in Baku für den Bau der für den ESC gebauten Konzerthalle
zwangsgeräumt und abgerissen wurden?

23. Hatten die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Wohnungen die Möglich-
keit, im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens angehört zu werden
oder Rechtsmittel einzulegen?

Wenn ja, wie sind diese Verfahren ausgegangen?

Wenn nein, ist dies nach Ansicht der Bundesregierung vereinbar mit dem
Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK und Artikel 14 des UN-
Zivilpakts) und eine wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK)?

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24. Wie bewertet die Bundesregierung die teilweise Besatzung aserbaidscha-
nischer Gebiete durch armenisches Militär unter völkerrechtlichen Ge-
sichtspunkten?

25. Wie viele Flüchtlinge aufgrund des Konflikts um Berg-Karabach leben der-
zeit in Aserbaidschan?

Wie ist die humanitäre Situation dieser Flüchtlinge, und welche Maßnah-
men unterstützt die Bundesregierung, um diese zu verbessern?

26. Wie beurteilt die Bundesregierung die Arbeit des aserbaidschanischen
nationalen Presserates, und hält sie es für möglich, dass sich oppositionelle
Medien daran ungehindert beteiligen können?

27. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ausgewogenheit der Berichterstat-
tung im aserbaidschanischen Staatsfernsehen, und hält sie es für möglich,
dass Vertreterinnen oder Vertreter der politischen Opposition ungehindert
im Programmbeirat mitarbeiten können?

28. Aus welchem Grund boykottierten Vertreterinnen und Vertreter der Oppo-
sition nach Kenntnis der Bundesregierung im Vorfeld des Verfassungsrefe-
rendums eine TV-Diskussion im aserbaidschanischen Staatsfernsehen?

Berlin, den 8. März 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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