BT-Drucksache 17/8941

Menschenrechtliche Aspekte der Strafverfolgung und des Strafvollzugs im Rahmen der EU-Operation Atalanta

Vom 8. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8941
17. Wahlperiode 08. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Agnes
Brugger, Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe,
Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtliche Aspekte der Strafverfolgung und des Strafvollzugs im
Rahmen der EU-Operation Atalanta

Am 10. November 2008 beschloss die Europäische Union die Operation der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) Atalanta, um der
Piraterie im Indischen Ozean militärisch zu begegnen. Seither wurden Einsatz-
gebiet und Kompetenzen der Mission für die Bekämpfung der Piraterie sukzes-
sive ausgeweitet. Im Frühjahr 2011 wurde der Operationsplan der EU-Operation
EU NAVFOR Atalanta neu ausgestaltet.

Seit dem 23. Dezember 2008 beteiligt sich die Deutsche Marine an dieser EU-
Anti-Piraterie-Operation. In diesem Rahmen haben Einsatzkräfte der Bundes-
wehr mutmaßliche Piraten festgenommen und an Drittstaaten, wie beispiels-
weise Kenia, überstellt. Die Staatsanwaltschaft in Hamburg hat ebenfalls Ver-
fahren wegen Piraterie eingeleitet, nachdem Piraten ein unter deutscher Flagge
fahrendes Schiff beschossen hatten. Die deutsche Justiz hatte sich daraufhin zu-
ständig erklärt, da gewichtige Rechtsgüter mit deutschem Bezug beschädigt
worden seien. Die Europäische Union hat Überstellungsabkommen mit Mauri-
tius und den Seychellen abgeschlossen. Kenia hat ein bestehendes Überstel-
lungsabkommen mit der EU bereits 2010 nach nur einem Jahr aufgekündigt.

Wenn mutmaßliche Piraten von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf-
gegriffen, festgehalten und an Drittstaaten überstellt werden, finden neben den
internationalen und regionalen Menschenrechtsabkommen, wie dem Internatio-
nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und der Euro-
päischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), auch die menschenrecht-
lichen Normen des deutschen Grundgesetzes (GG) ihre Anwendung. Die im
Zusammenhang mit der Strafverfolgung und dem Strafvollzug im Rahmen der
EU-Operation Atalanta ergriffenen Maßnahmen werfen daher zahlreiche men-
schenrechtliche Fragen auf.
Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele mutmaßliche Piraten wurden seit 2008 im Rahmen der EU-ge-
führten Operation Atalanta in Gewahrsam genommen, und wie viele von
diesen in Gewahrsam genommenen Personen wurden aus Gründen der
Strafverfolgung und des Strafvollzugs an welche Staaten überstellt (bitte
nach Aufnahmestaaten aufschlüsseln)?

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a) Wie viele mutmaßliche Piraten wurden auf der Grundlage von Überstel-
lungsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten überstellt (bitte nach
Aufnahmestaaten aufschlüsseln)?

b) Wie viele mutmaßliche Piraten wurden seit 2008 von deutschen Solda-
ten in Gewahrsam genommen, und wie viele von diesen in Gewahrsam
genommenen Personen wurden aus Gründen der Strafverfolgung an
welche Staaten überstellt (bitte nach Aufnahmestaaten aufschlüsseln)?

2. a) Ist die Bundesregierung, ausgehend von den Rechtsprechungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Jamaa vs.
Italien (Application No. 27765/09), Medvedjev vs. Frankreich (Applica-
tion No. 3394/03) und Rigopoulos vs. Spanien (Application No. 37388/
97), der Auffassung, dass die effektive Kontrolle über die Besatzung ei-
nes Schiffes hergestellt ist, sobald es von deutschen Soldaten aufge-
bracht wurde?

b) Ab welchem Zeitpunkt des Verfolgens oder des Aufbringens auf Hoher
See wird nach Auffassung der Bundesregierung die „effektive Kon-
trolle“ über mutmaßliche Piraten hergestellt, sodass der IPbpR, die
EMRK und das GG ihre Anwendung finden?

3. Handelt es sich bei freiheitsentziehenden Maßnahmen, die durch deutsche
Soldatinnen und Soldaten auf Hoher See durchgeführt werden, nach Auf-
fassung der Bundesregierung um eine vorläufige Festnahme auf Grundlage
von Artikel 104 GG, und wenn nein, warum nicht?

4. Wie wird von deutscher Seite sichergestellt, dass mutmaßliche Piraten bei
der Festnahme über die Gründe der Festnahme in einer ihnen verständ-
lichen Sprache unterrichtet werden, wie es in Artikel 9 Absatz 2 IPbpR
vorgesehen ist?

5. Nach welchen Kriterien und unter Einbeziehung welcher Institutionen
(z. B. ressortübergreifendes Entscheidungsgremium) wird von deutschen
Stellen die Entscheidung getroffen, wie mit festgenommenen mutmaß-
lichen Piraten verfahren wird (Zuführung zu deutschem Gericht, Übergabe
an Strafverfolgungsbehörden von Drittstaaten; Freilassung)?

6. Wie stellen Einsatzkräfte der Bundeswehr vor einem Zugriff auf mutmaß-
liche Piraten sicher, dass sich keine Geiseln an Bord befinden oder dass auf
dem Schiff festgehaltene oder verbliebene Geiseln durch die Festnahme
nicht gefährdet werden, und was besagen dazu die Rules of Engagement
der Bundeswehr bzw. der EU-Operation EU NAVFOR Atalanta?

7. Welche Maßnahmen werden vor der Versenkung eines Schiffes von mut-
maßlichen Piraten unternommen, um sicherzustellen, dass sich an Bord
keine Personen mehr befinden?

8. In welchen Fällen, auf wessen Initiative und unter Einbeziehung welcher
Stellen tritt für Entscheidungen über das Handeln deutscher Einsatzkräfte
innerhalb der EU-Operation EU NAVFOR Atalanta ein ressortübergreifen-
des Entscheidungsgremium zusammen?

9. Welche Konsequenzen aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom
11. November 2011 (Az. 25 K 4280/09) zieht die Bundesregierung im Hin-
blick auf die Überstellung von mutmaßlichen Piraten an Gerichte auf den
Seychellen, Mauritius oder anderen Drittstaaten?

10. Mit welchen Instrumenten, Mechanismen und Verfahren überprüfen die
Bundesregierung und/oder die Europäische Union vor Abschluss eines
Überstellungsabkommens mit Drittstaaten die Einhaltung internationaler

Menschenrechtsstandards in den jeweiligen Staaten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8941

11. Inwiefern sind die für die Haft von mutmaßlichen Piraten auf den Seychel-
len und auf Mauritius vorgesehenen Gefängnisse von deutschen und/oder
EU-Stellen auf die Vereinbarkeit mit internationalen Menschenrechtsstan-
dards überprüft worden?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung das am 22. Februar 2012 zwischen den
Seychellen und Somaliland abgeschlossene Abkommen, demzufolge auf
den Seychellen verurteilte Piraten somalischer Herkunft zum Strafvollzug
in Gefängnisse Somalilands überstellt werden können?

13. a) Inwieweit gibt es ein formalisiertes Monitoringverfahren von Seiten der
Bundesregierung und/oder von Seiten der EU, das die Einhaltung inter-
nationaler Menschenrechtsstandards, insbesondere Verfahrensgarantien
und Haftbedingungen, in aufnehmenden Drittstaaten überprüft, wenn ja,
wie gestaltet sich das Monitoringverfahren, und wenn nein, warum nicht?

b) In welcher Form machen sich die für die Seychellen und Mauritius
jeweils zuständigen deutschen Botschaften regelmäßig ein Bild über die
Haftbedingungen und die Situation der durch deutsche Marineeinheiten
im Rahmen ihres Atalanta-Einsatzes überstellten Piraterieverdächtigen?

14. Inwieweit sind in den Überstellungsabkommen zwischen der EU und den
Seychellen sowie der EU und Mauritius international anerkannte men-
schenrechtliche Standards festgelegt?

a) Wie ist in den Überstellungsabkommen sichergestellt, dass festgenom-
mene mutmaßliche Piraten, wie in Artikel 9 Absatz 3 IPbpR vorgese-
hen, unverzüglich einem Richter vorzuführen sind?

b) Wie ist in dem Überstellungsabkommen geregelt, dass eine festgenom-
mene Person unverzüglich über den Grund der gegen ihn erhobene An-
klage in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet wird (Artikel 14
Absatz 3 Buchstabe a IPbpR)?

c) Wie wird in den Übernahmeabkommen sichergestellt, dass festgenom-
mene mutmaßliche Piraten eine anwaltliche Vertretung erhalten, sofern
dies von ihrer Seite erwünscht ist, und wenn ja, inwiefern wird eine sol-
che anwaltliche Vertretung von Seiten der EU und/oder der Bundesre-
gierung finanziell unterstützt?

d) Wie ist die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers während
der Gerichtsverhandlung in dem Überstellungsabkommen sichergestellt
(Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe f IPbpR), und wenn ja, inwiefern unter-
stützen die EU und/oder die Bundesregierung die Seychellen und Mau-
ritius in Bezug auf die Bereitstellung von Dolmetschern?

15. Wurde das im Dezember 2011 in Verhandlung befindliche Abkommen zwi-
schen der EU und Tansania abgeschlossen, und wenn ja, inwieweit haben in
diesem Abkommen menschenrechtliche Normen Eingang gefunden?

16. a) Aus welchen Gründen hat Kenia das Überstellungsabkommen mit der
EU im Jahr 2010 nach nur einem Jahr aufgekündigt?

b) Laufen derzeit Verhandlungen zu einem neuen Überstellungsabkom-
men, und wenn ja, was ist der Sachstand?

17. Mit welchen weiteren Ländern in der Region (Dschibuti, Äthiopien,
Uganda, Eritrea) gibt oder gab es Verhandlungen hinsichtlich der Überstel-
lung und Strafverfolgung von Piraten, wie ist der Stand dieser Verhandlun-
gen, und wie bewertet die Bundesregierung die Erfolgsaussichten (bitte
nach Ländern aufschlüsseln)?

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18. Welche konkreten Projekte zur Strafverfolgung von Piraten sowie zur Stär-
kung der Fähigkeiten Somalias und seiner Nachbarstaaten im justiziellen
Bereich werden im Rahmen des Trust Fonds der Kontaktgruppe zur Piraterie
vor der Küste Somalias (Contact Group on Piracy off the Coast of Somalia,
CGPCS) gefördert (mit der Bitte um Aufschlüsselung nach Staaten)?

a) Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung im Jahr 2010 keinen
Beitrag für den Trust Fond geleistet?

b) Ist für das Jahr 2012 eine Einzahlung von Seiten der Bundesregierung in
den Trust Fonds vorgesehen, und wenn ja, in welcher Höhe, und wenn
nein, warum nicht?

c) Wie begründet die Bundesregierung die große Differenz zwischen den
militärischen Kosten, die dem Bund für die Präsenz der Marine im Rah-
men der Operation Atalanta entstanden sind (2011: 22,3 Mio. Euro,
Stand: 30. Juni 2011) und den Zahlungen für den Trust Fonds der
CGPCS, zur nichtmilitärischen Bekämpfung der Piraterie (2009: 1 Mio.
US-Dollar; 2010: kein Beitrag), angesichts der Tatsache, dass der von
Somalia ausgehenden Piraterie nur durch einen umfassenden Politik-
ansatz und nicht ausschließlich durch technische und militärische Mittel
entgegengewirkt werden kann?

19. Welche Zusammenarbeit besteht zwischen der EU und den somalischen
Regionen Somaliland, Puntland und Galmudug in den Bereichen Seefahrt,
Küstenschutz, Justiz und Justizvollzug, die auch auf eine Eindämmung der
Piraterie und die Strafverfolgung von Piraten zielen?

20. a) Welche Schritte erwägen die Vereinten Nationen (VN) und der VN-Si-
cherheitsrat in Bezug auf die in der VN-Sicherheitsratsresolution 1976
vom 11. April 2011 in Erwägung gezogene Errichtung von „specialized
Somali courts“ und einem „extraterritorial Somali specialized anti-piracy
court“?

b) Welche Vorschläge und Vorstellungen hat die Bundesregierung als Mit-
glied des VN-Sicherheitsrates in Bezug auf die Errichtung solcher Ge-
richtshöfe?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die Errichtung eines internationalen
Piraterie-Gerichtshofes?

Berlin, den 8. März 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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