BT-Drucksache 17/8827

Praktische und rechtliche Situation der Schwerbehindertenvertretungen

Vom 1. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8827
17. Wahlperiode 01. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Praktische und rechtliche Situation der Schwerbehindertenvertretungen

Betriebsräte, Personalräte und Schwerbehindertenvertretungen setzen sich zu-
sammen im Arbeitsleben für die Belange von Beschäftigten mit Behinderungen
und chronischen Erkrankungen ein. Die UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), in der Bun-
desrepublik Deutschland seit März 2009 geltendes Recht, schreibt die Unab-
hängigkeit und Selbstbestimmung, also Selbstvertretung von Menschen mit Be-
hinderungen, auch im Arbeitsleben fest. Diskriminierungsfrei im Sinne dieser
Konvention sind nur Maßnahmen, „die zur Beschleunigung oder Herbeifüh-
rung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen
erforderlich sind“ (vgl. UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 5 Absatz 4).
Auf dieses Ziel konzentrieren sich die Schwerbehindertenvertrauenspersonen
als gewählte Interessenvertretung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit
Behinderung. Die Schwerbehindertenvertretung (SBV) ist somit als ein wichti-
ges Element zur Gewährleistung von Teilhabe für Menschen mit Behinderung
anzusehen.

Schwerbehindertenvertretungen arbeiten wie Betriebsräte und Jugend- und Aus-
zubildendenvertretungen im Rahmen eines gewählten Ehrenamtes. Nach Aus-
sagen vieler gewählter Vertrauenspersonen fehlen jedoch weitere Durchset-
zungsmöglichkeiten, um die Interessenvertretung ihrer schwerbehinderten oder
gleichgestellten Kolleginnen und Kollegen dauerhaft zu verbessern. Es wird eine
Kluft zwischen den hohen Idealen des Gesetzes (Neuntes Buch Sozialgesetz-
buch – SGB IX) einerseits und der frustrierenden Alltagsrealität im Betrieb
andererseits beklagt. Schwerbehindertenvertrauenspersonen haben zwar viel-
fältige Freistellungsmöglichkeiten, erleben jedoch ihre Tätigkeit als Interessen-
vertreterin/Interessenvertreter als zusätzliche Belastung zu ihren Arbeitsaufgaben.

Anforderungen und Aufgabenfeld der betrieblichen Interessenvertretung ein-
schließlich der Schwerbehindertenvertretung erweitern sich in hohem Tempo,
insbesondere durch Aufgaben des Betrieblichen Eingliederungsmanagements,
häufige Veränderungen von Unternehmens- und Betriebsstrukturen sowie die
zunehmende Zahl von chronischen Erkrankungen, psychischen Beeinträchti-

gungen und Behinderungen als Folge von Arbeitsbelastungen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen
wenigstens fünf oder mehr schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte
Menschen nicht nur vorübergehend und sind deshalb gesetzlich aufgefor-
dert, die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung (SBV) zuzulassen und zu
unterstützen (bitte nach den Jahren 2002, 2006 und 2010 aufschlüsseln)?

Drucksache 17/8827 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie viele schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte gibt es
– nach Branchen, einschließlich der Arbeitnehmerüberlassung unterschie-
den – aufgeschlüsselt für die Jahre 2007, 2008, 2009, 2010 und 2011?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung die unbestimmte Rechtsbezeichnung
der „nicht nur vorübergehenden“ Beschäftigung in ihrer Wirkung auf die
Wahlen zu einer SBV vor dem Hintergrund, dass die zunehmende Zahl
befristeter und Leiharbeitsverhältnisse den Kreis der Wahlberechtigten ein-
schränken?

Welchen Zusammenhang sieht die Bundesregierung zwischen der Erfül-
lung der Beschäftigungsquote in Unternehmen sowie der Zahl gewählter
SBV, und welche Erfordernisse ergeben sich daraus?

4. Wie viele Schwerbehindertenvertretungen waren in wie vielen Unterneh-
men jeweils zum Jahresende 2002, 2006 und 2010 tatsächlich gewählt
(bitte nach Wirtschaftsabschnitten einschließlich Arbeitnehmerüberlassung
aufschlüsseln)?

Wie viele Vertrauenspersonen für schwerbehinderte Menschen in Unter-
nehmen sind Frauen (bitte nach Branchen aufschlüsseln)?

5. Wie viele Schwerbehindertenvertretungen wurden im Jahr 2010 in Unter-
nehmen von 100 bis unter 500, 500 bis unter 1000 sowie 1000 und mehr
Beschäftigten gewählt?

Wie viele Schwerbehindertenvertretungen arbeiten in Betrieben, die die
Beschäftigungsquote erfüllen bzw. nicht erfüllen (bitte nach den oben ge-
nannten Betriebsgrößen differenzieren)?

6. Welche Maßnahmen traf die Bundesregierung, um Arbeitgeber für die Tä-
tigkeit der SBV zu sensibilisieren oder um Verstöße gegen die Pflicht zur
Unterstützung einer Wahl der SBV zu ahnden?

7. Inwieweit befürwortet die Bundesregierung die Einführung einer zwingen-
den Strafvorschrift im SGB IX (ähnlich, wie es zum Beispiel die Landes-
personalvertretungsgesetze in Rheinland-Pfalz und Thüringen vorsehen),
um die Behinderung von Wahlen zur SBV wirksam einzudämmen?

8. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die erreichte Barrie-
refreiheit bei Wahlen zu den Schwerbehindertenvertretungen vor?

Welchen gesetzlichen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung, um die
Wahlen entsprechend Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention ver-
pflichtend barrierefrei zu organisieren?

9. Wie bewertet die Bundesregierung den Sachverhalt, wenn eine Person, um
das Amt der SBV ausüben zu können, menschliche wie technische Assis-
tenz benötigt?

Sind diese Assistenzleistungen zwingend zu gewähren?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wer muss diese Leistung gewähren?

10. Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung für eine mögliche Über-
tragung des pauschalen Kostenerstattungsanspruches aus dem öffentlichen
Personalvertretungsrecht auf alle gewählten Schwerbehindertenvertrauens-
personen zu ergreifen?

11. Welche Analysen liegen der Bundesregierung zu Einschätzungen von SBV
vor, sich eher als Gesundheitsfachkraft für die Belange der Betriebe und
von Menschen mit einer etwas anderen Gesundheit zu sehen?
Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um einerseits einer
möglichen Einengung der Interessenvertretung entgegenzutreten und an-

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dererseits Mitbestimmungsmöglichkeiten für gesundheitsfördernde be-
triebliche Arbeitsbedingungen zu entwickeln?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die gesetzliche Einteilung von „Schwer-
behinderten“ (ab GdB 50) und „Einfachbehinderten“ (weniger als GdB 50)
im SGB IX im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention?

Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Forderung
von Prof. Franz Josef Düwell anlässlich der öffentlichen Anhörung von
Sachverständigen zum Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur
Umsetzung der UN-Konvention im Ausschuss für Arbeit und Soziales des
Deutschen Bundestages am 17. Oktober 2011, diese Einteilung aufzuheben
(vgl. Ausschuss für Arbeit und Soziales, Wortprotokoll der 76. Sitzung,
Protokoll 17/76, S. 1232)?

13. Welche Position bezieht die Bundesregierung zur Forderung von gewähl-
ten Schwerbehindertenvertretungen, die Grenze zur vollen Freistellung
einer Schwerbehindertenvertrauensperson von in der Regel wenigstens
200 schwerbehinderten Beschäftigten (§ 96 Absatz 4 Satz 2 SGB IX)
abzusenken?

14. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um bei Änderungen der
Betriebsform und Behördenstrukturen die Stellung der SBV zu stärken und
den § 95 Absatz 5 SGB IX dahingehend zu ändern, die in diesen Fällen
geltenden Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes oder Personalver-
tretungsgesetzes anzuwenden?

15. Wie bewertet die Bundesregierung eine mögliche Erweiterung der Initiativ-
und Beteiligungsrechte der SBV auf die Gestaltung von Dienstplänen?

Welche Verpflichtungen ergeben sich nach Auffassung der Bundesregie-
rung aus dem SGB IX, schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer bei der Erstellung von Dienstplänen besonders zu berücksichtigen,
um Erleichterungen im Arbeitsumfeld zu erzielen?

16. Welche Beteiligungsrechte haben schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer an der Erstellung solcher Dienstpläne, und inwiefern
kommt § 81 Absatz 4 Nummer 4 SGB IX hier zur Anwendung?

17. Wie bewertet die Bundesregierung hinsichtlich der UN-Behindertenrechts-
konvention die Praktikabilität des § 95 Absatz 1 SGB IX, insbesondere die
Regelung, dass erst bei mehr als 100 schwerbehinderten Menschen im
Betrieb/in der Dienststelle der erste Stellvertreter herangezogen werden
kann, und welche Maßnahmen der Bundesregierung zur Veränderung sind
geplant?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung der Arbeitsgemeinschaft
der Schwerbehindertenvertretungen des Bundes und der Länder, den § 95
Absatz 2 SGB IX dahingehend zu erweitern, dass Maßnahmen, die ohne
vorherige Beteiligung der SBV getroffen wurden, unwirksam sind?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Sanktionsmöglichkeiten der SBV,
wenn ihre Rechte durch den Arbeitgeber missachtet werden?

Hält die Bundesregierung Bußgeldverfahren als Sanktionsmöglichkeit für
ausreichend, und wenn ja, mit welcher Begründung?

20. Wenn nein, wie beurteilt die Bundesregierung über eine Unwirksamkeits-
klausel hinaus die Einführung eines Vetorechts bei ungenügender Beteili-
gung der SBV als Schritt zur Entwicklung von Mitbestimmung der SBV?
Berlin, den 1. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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