BT-Drucksache 17/8762

Menschenrechte in der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen

Vom 29. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8762
17. Wahlperiode 29. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Kornelia Möller, Katrin Werner, Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm,
Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Thomas
Lutze, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Dr. Ilja Seifert,
Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenrechte in der Tourismuspolitik konsequent durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die wirtschaftlichen Interessen der großen international agierenden Tourismus-
unternehmen bestimmen weitgehend die Tourismuspolitik der Bundesregie-
rung. Sie stehen oft im Widerspruch zur Einhaltung der Menschenrechte in
den touristischen Zielregionen. Der Deutsche Bundestag tritt für eine grund-
sätzliche Veränderung der Tourismuspolitik ein. Die Auswirkungen des Touris-
mus auf die Menschenrechtslage in den touristischen Zielregionen müssen die
Ziele der Tourismuspolitik und die Ausrichtung des nationalen und internatio-
nalen Tourismus mitbestimmen.

Durch die Zunahme des weltweiten Tourismus hat sich die Tourismusindustrie
in den letzten Jahrzehnten zu einem der größten Wirtschaftszweige entwickelt.
Neben dem Massentourismus haben unterschiedliche Formen von Individual-
und Ökotourismus deutlich zugenommen.

Der Deutsche Bundestag erwartet von allen Akteuren der Tourismusbranche,
dass Handlungen, die Menschenrechte verletzen, eingestellt und die Ver-
antwortlichen in Zukunft konkret zur Rechenschaft gezogen werden. In allen
Bereichen des Tourismus müssen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Menschenrechte ebenso wie die politischen und bürgerlichen Menschenrechte
eingehalten werden.

Die Weltgemeinschaft hat ein differenziertes völkerrechtliches Instrumenta-
rium geschaffen, um Menschenrechtsverletzungen zu begegnen. Dazu zählen
z. B. der UN-Zivilpakt (ICCPR) und der UN-Sozialpakt (ICESCR), das
UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau
(CEDAW), das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Be-
hinderungen (CRPD) sowie das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder
Form von Rassendiskriminierung (ICERD), die Kernarbeitsnormen der Inter-

nationalen Arbeitsorganisation (ILO) und das ILO-Übereinkommen 169 über
indigene und in Stämmen lebende Völker. Die Leitlinien der Food and Agri-
culture Organization (FAO) zum Recht auf angemessene Ernährung und der
Beschluss des UN-Menschenrechtsrates zum Recht auf Zugang zu sauberem
Trinkwasser und sanitäre Versorgung haben unmittelbare Relevanz für den
Tourismussektor.

Drucksache 17/8762 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wichtig für den Tourismus ist das UN-Übereinkommen über die Rechte des
Kindes (CRC) mit dem Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinder-
prostitution und Kinderpornografie, das von Deutschland ratifiziert wurde.
Durch das Zusatzprotokoll ist es möglich, auf Grundlage des Exterritorial-
prinzips deutsche Staatsbürger strafrechtlich zu belangen, wenn sie Kinder im
Ausland sexuell missbraucht haben. Der Deutsche Bundestag erwartet von der
Bundesregierung, dass sie Maßnahmen ergreift, die eine konkrete Durchsetzung
der strafrechtlichen Verfolgung von Missbrauchsfällen im Ausland gewähr-
leisten.

Der heutige Tourismus ist überwiegend Massentourismus. Mehr als 935 Millio-
nen Menschen waren im Jahr 2010 als Urlauber unterwegs, im Jahr 1950 waren
es gerade einmal 25 Millionen. Als einer der größten Wirtschaftszweige ist die
Tourismusindustrie ein wichtiger weltweiter Arbeitgeber. Etwa 100 Millionen
Menschen sind direkt oder indirekt in Hotels, Reiseunternehmen oder in touris-
tischen Dienstleistungsunternehmen beschäftigt. Mehr als 100 Millionen Men-
schen arbeiten in den Zulieferbetrieben der Tourismusbranche. Das „World
Travel and Tourism Council“ (WTTC) schätzt, dass insgesamt etwa 240 Millio-
nen Menschen in diesem Wirtschaftszweig arbeiten. Eine menschenrechtlich
ausgerichtete Tourismuspolitik hat unmittelbare Auswirkungen für die in dieser
Branche arbeitenden Menschen und die vom Tourismus direkt Betroffenen.

Während immer mehr Regionen der Welt touristisch erschlossen werden, zeigt
sich deutlich, dass nur wenige der betroffenen Menschen vom Tourismus direkt
profitieren. International operierende Tourismuskonzerne sind die Hautprofi-
teure des Tourismusbooms. Große Teile der Wertschöpfungskette im Tourismus
werden von diesen Konzernen beherrscht. Die gut bezahlten Arbeitsplätze sind
häufig in der Hand eines international arbeitenden Managements, das vor-
wiegend aus den Industriestaaten kommt. Für die lokale Bevölkerung bleiben
meist nur die einfachen Jobs übrig, die mit einer geringen Qualifizierung ein-
hergehen.

Nach Angaben der ILO sind die Arbeitsbedingungen in der Tourismuswirtschaft
in den Industriestaaten häufig schlechter als in anderen wirtschaftlichen Be-
reichen. Dieser Industriezweig wird durch niedrige Löhne, lange, unregelmäßige
Arbeitszeiten, häufig fehlende soziale Absicherung und eine eingeschränkte ge-
werkschaftliche Organisationsfreiheit geprägt.

In der Tourismusbranche ist Kinderarbeit häufig anzutreffen. Nach Angaben
der ILO sind weltweit zwischen 13 und 19 Millionen Kinder und Jugendliche
unter 18 Jahren in den verschiedenen Bereichen der Tourismusindustrie tätig.

Gerade ärmere Länder und Regionen wetteifern um Investitionen im Touris-
mussektor. Sie erhoffen sich davon insbesondere neue Wertschöpfungsketten
und Arbeitsplätze sowie Investitionen in die Infrastruktur. Dafür sind sie oft
gezwungen, Steuererleichterungen, Subventionen und andere Anreize für die
Tourismusunternehmen zu gewähren, die sich negativ auf die menschenrecht-
liche Situation der Beschäftigten und der Bevölkerung auswirken.

Tourismus breitet sich immer häufiger auch in „unberührten Regionen“ aus, in
denen Touristinnen und Touristen „Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, sportliche
Herausforderungen und Erholung“ suchen. Das trägt damit dazu bei, dass bisher
strukturschwache Regionen erschlossen werden. Gleichzeitig verändert die ent-
stehende touristische Infrastruktur aber die natürliche und ursprüngliche Um-
welt. Tourismus bedeutet deshalb auch, dass sein Umfeld massiv touristischen
Ansprüchen angepasst wird. Ressourcen wie Wasser, Ackerland und Weiden
werden für touristische Zwecke eingesetzt, was sich nachteilig für die einhei-
mische Bevölkerung auswirkt. Viele Menschen verlieren so ihre bisherige Exis-
tenzgrundlage und werden in Armut und Hunger abgedrängt oder zum Ab-

wandern gezwungen. Das betrifft vor allem die Urwaldregionen in Südamerika,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8762

die Nationalparks Afrikas und die Inselketten im südlichen Pazifik, wo Indigene
als „touristische Attraktionen“ vermarktet und häufig aus ihren bisherigen
Lebensbedingungen herausgerissen werden. Damit werden ihre Kultur vernichtet
und ihre bisherigen Lebensgrundlagen zerstört.

Der Kreuzfahrttourismus verzeichnet seit einigen Jahren sehr hohe Zuwächse.
Die Umweltzerstörungen durch den Ausbau zahlreicher Häfen für die Anlandung
großer Kreuzfahrtschiffe in bevorzugten Zieldestinationen, wie der Karibik,
sind verheerend. Die zunehmende Konkurrenz der Reedereien führt zu Niedrig-
preisen, die mit Niedriglöhnen für die Beschäftigten, schlechten Arbeits-
bedingungen mit Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden am Tag, gelockerten
Sicherheitsbestimmungen und zunehmendem Wettbewerb um die attraktivsten
Routen erkauft werden. Das Schiffsunglück vor der italienischen Insel Giglio war
auch eine Folge dieses Kampfes um die „spektakulärsten Routen“.

Tourismus bedeutet heute in vielen Regionen rücksichtsloser Verbrauch der nur
beschränkt vorhandenen natürlichen Ressourcen. Insbesondere der Verbrauch
an Trinkwasser in riesigen „Bettenburgen“ hat negative Auswirkungen für die
Bevölkerung. Gerade in den Ländern des Südens, insbesondere auf den kleine-
ren Inseln, führt der große Wasserverbrauch von Golfplätzen zu Wasserarmut
in der Bevölkerung. Die großen Wassermengen, die für den Rasen benötigt
werden, und der intensive Einsatz von Pestiziden für die Erhaltung eines
„Golfrasens“ verknappen das Wasser und führen im Umfeld der Golfplätze zu
einer Vergiftung des Grundwassers. Durch diese Entwicklung wird für eine
zunehmende Zahl von Menschen das Menschenrecht auf sauberes Wasser ein-
geschränkt. Das Menschenrecht auf Wasser ist ein grundlegendes Menschen-
recht, das auch in der Tourismuspolitik durchgesetzt werden muss.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Bereich der allgemeinen Menschenrechte

– die Durchsetzung von Menschenrechten im Tourismus als Querschnitts-
aufgabe zu begreifen und eine grundsätzliche Veränderung der bisherigen
Ansätze in der Tourismuspolitik einzuleiten;

– sich systematisch mit ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Men-
schenrechte im Tourismus auseinanderzusetzen und die betroffenen
Fachressorts dazu aufzufordern, konkrete Vorschläge für die Durchset-
zung der Menschenrechte im Tourismus zu unterbreiten;

– sich aktiv dafür einzusetzen, dass alle Akteure in der Tourismuswirtschaft
auf die menschenrechtlichen Grundsätze der internationalen Abkommen
verpflichtet werden und entsprechende Maßnahmenkataloge verbindlich
festgelegt werden;

– die Auswirkungen des Tourismus auf die Menschenrechte im Menschen-
rechtsbericht der Bundesregierung stärker zu berücksichtigen;

– Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Unternehmen
außerhalb Deutschlands die Möglichkeit zu geben, deutsche Gerichte an-
zurufen, um ihre Ansprüche durchzusetzen;

2. im Bereich Förderung der touristischen Nachhaltigkeit

– effektive Kontrollmechanismen zu entwickeln, damit private Akteure in
den touristischen Gebieten keine Menschenrechtsverletzungen fördern
und keine Investitionen tätigen können, die den besonders betroffenen Be-
völkerungsgruppen vorhandene Ressourcen entziehen;

Drucksache 17/8762 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

– sich im Rahmen der Bildungsarbeit sowohl in Deutschland als auch in den
Zielländern dafür einzusetzen, dass eine entwicklungsbezogene, nachhal-
tige Tourismuswirtschaft gefördert wird;

– sicherzustellen, dass die Vermarktung von All-Inclusive-Angeboten durch
deutsche Unternehmen in Entwicklungsländern nicht dazu beiträgt, dass
große Teile der Einnahmen des Tourismus den lokalen Märkten entzogen
werden;

– unabhängige Zertifizierungsstellen für nachhaltige touristische Angebote
zu schaffen und diese mit einer Anschubfinanzierung finanziell abzusi-
chern;

3. im Bereich der Sicherung von natürlichen Ressourcen

– sicherzustellen, dass bei internationalen Abkommen zur Förderung des
Tourismus und bei Investitionen deutscher Tourismusunternehmen im
Ausland die vom Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der VN, Prof.
John Ruggie, aufgestellten Mindestbedingungen für Menschenrechts-Ver-
träglichkeitsprüfungen implementiert werden und alle Unternehmen zu
einem menschenrechtlichen Verhalten verpflichtet werden;

– sich für verbindliche Standards einzusetzen, die verhindern, dass in wasser-
und landarmen Tourismusgebieten der Bau von Golfplätzen und großen
Hotelanlagen den Zugang der Bevölkerung zu Wasser und Land verknappt;

– sich dafür einzusetzen, dass die Größe von Kreuzfahrtschiffen weltweit
beschränkt wird, um die Sicherheit auf den Weltmeeren zu gewährleisten
und zu verhindern, dass Hafenanlagen und Flüsse immer mehr vergrößert
und ausgebaggert werden und damit eine weitere Zerstörung der Umwelt
einhergeht;

– sich bei allen Aktivitäten zur Förderung des internationalen Tourismus da-
für einzusetzen, dass das Menschenrecht auf Nahrung, sauberes Trinkwas-
ser und sanitäre Grundversorgung durch touristische Infrastruktur nicht
eingeschränkt wird;

– bei allen Maßnahmen zur Förderung des Tourismus konkrete Maßnahmen
zur Sicherung der natürlichen Umwelt, zur Förderung des Klimaschutzes
und zur Erhaltung der Sauberkeit der Weltmeere sicherzustellen;

4. im Bereich der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
im Tourismus

– sich im Rahmen der Welttourismusorganisation dafür einzusetzen, dass
die Achtung der Rechte von Beschäftigtenvertretungen zentraler Bestand-
teil der Überprüfung der Mitgliedstaaten wird, und gemeinsam mit Ge-
werkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGO) zu kooperieren,
um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unabhängige Weiterbildung
über Arbeitnehmerrechte in den Unternehmen der Tourismuswirtschaft
anzubieten;

– Tourismusunternehmen zu verpflichten, die ILO-Kernarbeitsnormen, die
UN-Leitlinien über Wirtschaft und Menschenrechte sowie die OECD-
Leitsätze für multinationale Unternehmen konsequent einzuhalten und
konkrete Sanktionsmechanismen für die Nichteinhaltung dieser Vorgaben
zu schaffen;

– sich dafür einzusetzen, dass durch aktive Förderung von NGO und Ge-
werkschaften in den touristischen Zielgebieten die rechtliche Situation der
Menschen, die in der Tourismuswirtschaft arbeiten, verbessert wird;
– das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerde-
verfahren schnellstmöglich zu zeichnen und zu ratifizieren;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8762

5. im Bereich des Schutzes von Minderheiten und indigenen Gruppen

– die Unternehmen der Tourismusindustrie konkret zu verpflichten, keine In-
vestitionen vorzunehmen, die negative Auswirkungen zulasten der armen
und indigenen Bevölkerung haben;

– dem Deutschen Bundestag schnellstmöglich einen Gesetzentwurf zur
Ratifizierung des ILO-Übereinkommens 169 über eingeborene und in
Stämmen lebende Völker vorzulegen;

– sich im Rahmen der Welttourismusorganisation (UNWTO) dafür einzu-
setzen, dass alle im Tourismus tätigen Unternehmen dazu verpflichtet
werden, ihre unternehmerische Tätigkeit an der Achtung von Menschen-
rechten als unternehmerische Aufgabe auszurichten.

Berlin, den 29. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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