BT-Drucksache 17/8646

Praxisgebühr und Arzt-Patient-Kontakte

Vom 10. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8646
17. Wahlperiode 10. 02. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann,
Sven-Christian Kindler, Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus,
Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Praxisgebühr und Arzt-Patient-Kontakte

Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) müssen seit dem
1. Januar 2004 für den jeweils ersten Besuch einer Ärztin/eines Arztes, einer
Zahnärztin/eines Zahnarztes oder einer Psychotherapeutin/eines Psychothera-
peuten im Quartal eine Praxisgebühr von 10 Euro zahlen, sofern sie mindestens
18 Jahre sind, keine Überweisung vorlegen können, nicht von Zuzahlungen be-
freit sind und es sich nicht um eine gesetzliche Vorsorgemaßnahme handelt.

Die Praxisgebühr war Bestandteil des Gesetzes zur Modernisierung der gesetz-
lichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz) und wurde gemein-
sam von der damaligen Koalition der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der Fraktion der CDU/CSU beschlossen. Sie sollte zu einem
rationalen Inanspruchnahmeverhalten des Versicherten beitragen und diente
zugleich als Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der gesetzlichen Kranken-
versicherung.

Eine Untersuchung von Hartmut Reiners und Melanie Schnee (Gesundheits-
monitor 2007) mit repräsentativer Befragung von knapp 16 000 GKV-Versicher-
ten zwischen 2002 und 2007 kam im Kern zu folgenden Auswirkungen der
Praxisgebühr:

– Die Zahl der direkten Facharztbesuche ohne Überweisung ging ab 2004 deut-
lich zurück. Gleichzeitig stieg der Anteil der Versicherten, die den Facharzt
mit Überweisung aufsuchen, deutlich an: Von den Personen, die einen Fach-
arzt aufsuchten, ließen sich vor Einführung der Praxisgebühr 55 bis 59 Pro-
zent, nach Einführung 81 bis 85 Prozent zuvor eine Überweisung ausstellen.

– Als Reaktion auf die Praxisgebühr vermieden konstant 15 bis 20 Prozent der
Befragten den Arztbesuch. Hier zeigte sich ein klarer Einkommens- und
Schichtgradient, denn Personen mit einem niedrigeren Haushaltseinkommen
und aus unteren sozialen Schichten vermieden deutlich häufiger den Arzt-
besuch. Aus der Oberschicht waren dies 14 Prozent, aus der Unterschicht
22 Prozent der Befragten. Vergleichbare große Unterschiede zeigten sich bei

den wegen der Praxisgebühr verschobenen Arztbesuchen.

Die Befragung ließ keine Schlüsse zu, ob wichtige oder unwichtige Arztbesuche
vermieden oder verschoben wurden. Ein Rückgang der vermeintlichen Über-
inanspruchnahme von Versorgung konnte nicht gezeigt werden. Die Zahl der
von Fachärzten behandelten Patientinnen und Patienten hat sich in der Zeit kaum
verändert.

Drucksache 17/8646 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Nach einer Umfrage der forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische
Analysen mbH im September 2009 verzichtet jeder Zehnte aus Unkenntnis auf
Leistungen der Vorsorge und Früherkennung, um die Praxisgebühr zu sparen
(News aktuell GmbH vom 10. November 2009).

Im Dezember 2011 berichteten zahlreiche Medien von Äußerungen mehrerer
Gesundheitspolitiker der CDU/CSU wie der FDP über eine anstehende bzw. auf-
zunehmende Reform der Praxisgebühr. Die Politiker begründeten dies mit der
Wirkungslosigkeit der Praxisgebühr angesichts von durchschnittlich 18 Arzt-
besuchen in Deutschland pro Person und Jahr. Gesucht werde nach einer un-
bürokratischeren Lösung, vorgeschlagen wird auch die Umwandlung in eine
Kontaktgebühr von 5 Euro pro Arztbesuch (Quellen: Das Parlament vom 5. De-
zember 2011; FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND vom 5. Dezember 2011;
Ärzte Zeitung vom 22. Dezember 2011).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch sind die jährlichen Einnahmen der Krankenkassen durch die Pra-
xisgebühr seit ihrer Einführung im Jahr 2004?

2. a) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Steuerungswir-
kung der Praxisgebühr vor?

b) Verhindert die Praxisgebühr nach Auffassung der Bundesregierung eine
Überinanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen?

c) Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung
darüber vor, ob die Versicherten zwischen notwendigen und nicht notwen-
digen Arztbesuchen unterscheiden können?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, nach welchen Kriterien wird die Bundesregierung über die im
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vereinbarte Reform der
Praxisgebühr entscheiden?

d) Fördert oder behindert die Praxisgebühr die Inanspruchnahme von Leis-
tungen zur Vorsorge und Früherkennung?

e) Ist der Bundesregierung der Umstand bekannt, dass zahlreiche Versicherte
beim ersten Arztbesuch im Quartal Überweisungen auf Vorrat erhalten,
um bürokratischen Aufwand für Ärztin/Arzt und Patientin/Patient zu ver-
meiden?

Wenn ja, welche sinnvollen Steuerungsanreize kann die Praxisgebühr
nach Einschätzung der Bundesregierung dann noch ausüben?

3. a) Wirkt sich die Gebühr nach Erkenntnissen der Bundesregierung unter-
schiedlich je nach verfügbarem Einkommen, Bildungsstand und Krank-
heitszustand der Versicherten aus?

b) Teilt die Bundesregierung die oben zitierte Ansicht darüber, dass die Pra-
xisgebühr Menschen mit niedrigem Sozialstatus von der Inanspruch-
nahme gesundheitlicher Leistungen abhält?

c) Verhindern die gesetzlichen Belastungsobergrenzen nach Erkenntnis der
Bundesregierung hinreichend, dass Versicherte notwendige Arztbesuche
vermeiden, obwohl sie die Praxisgebühr regelmäßig zumindest in den ers-
ten Monaten des Jahres zahlen müssen?

d) Überwiegen aus Sicht der Bundesregierung die schädlichen oder die nütz-
lichen Folgen der Praxisgebühr?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8646

4. Sieht die Bundesregierung angesichts dieser Erkenntnisse einen erweiterten
Reformbedarf bei der Praxisgebühr, und zwar über das im Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und FDP genannte Ziel hinaus, die Praxisgebühr in ein
unbürokratischeres Verfahren zu überführen?

5. Plant die Bundesregierung angesichts dieser Erkenntnisse, die Praxisgebühr

a) unverändert aufrechtzuerhalten,

b) zu streichen?

Wenn ja, plant sie eine Kompensation für den Einnahmenausfall der Kran-
kenkassen?

Wenn ja, in welcher Form?

c) Plant die Bundesregierung eine Kontaktpauschale pro Arztbesuch?

d) Welche Auswirkungen hätte eine Kontaktpauschale nach Einschätzung
der Bundesregierung auf die Bürokratie in der Arztpraxis?

e) Plant die Bundesregierung sonstige Änderungen bei der Praxisgebühr?

Wenn ja, welche?

6. a) Ist die in der Vorbemerkung der Bundesregierung zitierte Zahl von durch-
schnittlich 18 Arztbesuchen nach Erkenntnis der Bundesregierung zutref-
fend?

b) Welche Zahlen liegen der Bundesregierung über die Jahre ab 2004 vor
(bitte Quellen nennen)?

c) Beziehen sich diese Zahlen auf Arztbesuche, oder schließen sie auch Arzt-
Patient-Kontakte (ohne Sichtkontakt) ein?

d) Sind in diesen Zahlen auch Kontakte der Patientinnen und Patienten zum
nichtärztlichen Praxispersonal enthalten?

e) Wie viel Prozent der Versicherten vereinen den Hauptanteil der Arztkon-
takte auf sich, und wie viel Prozent der Versicherten haben nur wenige
Arztkontakte?

f) Welche Patientengruppen vereinen den Hauptanteil der Arztkontakte auf
sich?

7. a) Vertritt die Bundesregierung die regelmäßig geäußerte und zitierte An-
sicht, die Anzahl der Arztbesuche bewege sich in Deutschland im interna-
tionalen Vergleich auf Spitzenniveau?

b) Wenn ja, auf welche Studien und Statistiken stützt sich diese Erkenntnis?

c) Welche Vergleichszahlen aus Staaten der Europäischen Union (EU) oder
der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) liegen der Bundesregierung konkret vor?

d) Werden die Arzt-Patient-Kontakte bzw. Arztbesuche in den einzelnen
Staaten auf vergleichbare Weise gezählt?

Wo gibt es Unterschiede?

e) Werden alle Kontaktanlässe, die für Deutschland gezählt werden, auch in
den anderen Staaten entsprechend gezählt?

f) In welchen europäischen Ländern ist es nach Informationen der Bundes-
regierung im Krankheitsfalle erforderlich und in welchen nicht, eine ärzt-
liche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen?

8. a) Stellt die kontaktabhängigen Grundpauschalen für Fachärzte im Einheit-
lichen Bewertungsmaßstab nach Auffassung der Bundesregierung ein An-

reiz dar, Patientinnen und Patienten häufig in die Praxis einzubestellen?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/8646 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
b) Welche anderen Honorarbestandteile der fachärztlichen Vergütung kön-
nen aus Sicht der Bundesregierung einen Anreiz schaffen, medizinisch
möglicherweise nicht indizierte Arzt-Patient-Kontakte zu erzeugen?

c) Welche Honorarbestandteile der hausärztlichen Vergütung können aus
Sicht der Bundesregierung einen Anreiz schaffen, medizinisch mögli-
cherweise nicht indizierte Arzt-Patienten-Kontakte zu erzeugen?

d) Sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass mit der im Gesetz zur Verbes-
serung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz) ermöglichten Ausweitung der
Einzelleistungsvergütung bei den hausärztlichen Honoraren Anreize ent-
stehen, medizinisch nicht indizierte Leistungen und medizinisch nicht
indizierte Arzt-Patient-Kontakte zu generieren?

Wenn nein, warum nicht?

9. a) Welche Arzt-Patient-Kontakte sind im vertragsärztlichen Bereich ab-
rechnungsfähig, ohne dass sie ein persönliches Vor-Ort-Gespräch zwi-
schen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient voraussetzen?

b) Inwieweit sind auch telefonische Kontakte zur Arztpraxis, das Anfordern
und/oder Abholen von Überweisungen, Folgerezepten, Röntgenbildern,
Befunden, Arztbriefen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abrech-
nungsfähig durch den Vertragsarzt?

c) Sind alle diese Kontaktanlässe auch Bestandteil der Statistik, die der
Bundesregierung vorliegt?

10. Vertritt die Bundesregierung die Ansicht, dass es einen großen Teil unnöti-
ger Arztbesuche gibt?

Wenn ja, wie hoch ist dieser Anteil, welcher Art sind diese Arztbesuche, und
von welchen Patientengruppen werden sie wahrgenommen?

11. a) Wie bewertet die Bundesregierung, dass die Verantwortung für die ge-
sundheitliche Grundversorgung in vielen europäischen Staaten nicht nur
von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch von den Angehörigen anderer
Gesundheitsberufe, zum Beispiel der Pflegeberufe wahrgenommen wird,
darunter Steuerungs- und Lotsenaufgaben und die Verordnung von benö-
tigten Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln?

b) Wie wirkt sich dies in diesen Staaten nach Informationen der Bundes-
regierung auf die Zahl der Arztbesuche und die Zufriedenheit der Ärztin-
nen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten aus?

Berlin, den 10. Februar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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