BT-Drucksache 17/8512

Einschränkung der Menschenrechte in Ungarn

Vom 26. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8512
17. Wahlperiode 26. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Manuel Sarrazin, Marieluise Beck (Bremen),
Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz,
Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einschränkung der Menschenrechte in Ungarn

Am 1. Januar 2012 ist in Ungarn eine neue Verfassung in Kraft getreten. Gegen
die neue Verfassung protestierten am 2. Januar 2012 etwa 100 000 Menschen.

Es entsteht der Eindruck, dass die derzeitige Regierung mit der neuen Ver-
fassung und durch zahlreiche neue Gesetze versucht, sich langfristig politi-
schen Einfluss zu sichern. Der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt
Dr. Werner Hoyer hatte schon im April 2011 der Presse Sorgen der Bundesregie-
rung mitgeteilt: Die neue Verfassung bestärke Befürchtungen, wonach das
Grundrechteverständnis der ungarischen Regierung „nur schwer mit den Werten
der Europäischen Union vereinbar sei“.

Die neue Verfassung, das sogenannte Grundgesetz von Ungarn, ist auch von der
Venedig-Kommission des Europarates kritisiert worden. Unter anderem bemän-
gelt diese das Verfahren und die hohe Anzahl der Kardinalgesetze. So sei die
Verfassung ohne ein genügendes Maß an Transparenz, mit nur geringer Betei-
ligung der Opposition und vor allem zu schnell verabschiedet worden. Die
Kardinalgesetze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können,
würden den Handlungsspielraum künftiger Regierungen stark begrenzen. So
kann beispielsweise der Einkommensteuersatz in Zukunft nur mit einer Zwei-
drittelmehrheit geändert werden.

Durch die Verfassungsänderung wurde auch das ungarische Verfassungsgericht
umstrukturiert. Bereits im Jahr 2010 wurde es in seinen Kompetenzen beschnit-
ten. Durch erzwungene Frühpensionierungen und die Erweiterung um zusätzli-
che Mitglieder, erhält die derzeitige Parlamentsmehrheit die Möglichkeit, das
Gericht regierungskonformer zu besetzen.

Fraglich ist, ob das Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts vom 19. Dezem-
ber 2011 auch nach Inkrafttreten der neuen Verfassung Bestand haben wird. Das
Verfassungsgericht hatte geurteilt, dass einzelne Regelungen des ungarischen
Mediengesetzes verfassungswidrig seien. Die Medienverfassung und das

Mediendienstegesetz aus dem Jahr 2010 hatten die ungarische Medienland-
schaft einer starken Kontrolle unterworfen. Der Leiter des Budapester Büros der
Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans Kaiser, sieht in der Entscheidung „einen
offenkundigen Nachweis einer funktionierenden Rechtsprechung und Gerichts-
barkeit in Ungarn.“ Andere Stimmen denken jedoch auch, dass der Urteils-
spruch des Verfassungsgerichts mit der ungarischen Regierung abgesprochen
war, um ein Signal der Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren (vgl. Süddeutsche

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Zeitung vom 21. Dezember 2011, S. 4; die tageszeitung vom 21. Dezember
2011, S. 12).

Die seit dem 1. Januar 2012 geltende Rechtslage berührt die Grundlage dessen,
was die Existenz und die Politik der Europäischen Union (EU) ausmacht. Diese
Rechtslage verstößt gegen den gemeinschaftlichen Besitzstand der EU (aquis
communitaire), der auch Grundlage für Beitrittsverhandlungen ist. Die Euro-
päische Kommission hat in drei Fällen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
Ungarn eingeleitet. Mögliche Verletzungen sieht sie bei der Unabhängigkeit der
Zentralbank, der Unabhängigkeit der Justiz und der Unabhängigkeit der Kon-
trollstelle für den Datenschutz.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die neue ungarische Verfassung und die
zahlreichen verabschiedeten Gesetze in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit den
Werten der Europäischen Union?

2. Zur neuen ungarischen Verfassung:

a) Hält die Bundesregierung die neue ungarische Verfassung für voll ver-
einbar mit den EU-Verträgen, dem EU-Recht, der Grundrechtecharta der
Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Zivilpakt der Verein-
ten Nationen?

Wenn nein, an welchen Punkten steht sie in Widerspruch dazu?

b) Ist der Grundsatz der Gewaltenteilung in Ungarn auf Grundlage der neuen
Verfassung voll gewährleistet?

c) Hat sich die Bundesregierung – ähnlich der Außenministerin der USA –
gegenüber der ungarischen Regierung zu den jüngsten Verfassungs- und
Gesetzesänderungen geäußert?

Wenn ja, wie, und in welcher Form, und wenn nein, warum nicht?

d) Wie und wann haben sich die Organe der EU gegenüber der ungarischen
Regierung zu den jüngsten Verfassungs- und Gesetzesänderungen ge-
äußert, und welche Rolle hat die Bundesregierung dabei eingenommen?

3. Zum ungarischen Verfassungsgericht und zur Justizreform:

a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über alle Änderungen
bezüglich des ungarischen Verfassungsgerichts seit der Ernennung Viktor
Orbáns zum Ministerpräsidenten?

b) Welche Zuständigkeiten wurden dem ungarischen Verfassungsgericht ent-
zogen?

c) Welche Auswirkungen auf die Zusammensetzung und die Regierungskon-
formität der Rechtsprechung erwartet die Bundesregierung von der Neu-
ordnung der Rechtsgrundlagen des ungarischen Verfassungsgerichts?

d) Wie bewertet die Bundesregierung die Herabsetzung des Pensionsalters
für Richter von 70 auf 62 Jahre und die Tatsache, dass diese Regelung
sofort und bei allen Richtern angewendet wird?

e) Wie bewertet die Bundesregierung das Urteil des ungarischen Verfas-
sungsgerichts bezüglich der Garantie, wonach Untersuchungshäftlinge
nach wie vor maximal zwei – statt wie gesetzlich vorgesehen fünf – Tage
ohne Zugang zu einer Anwältin oder einem Anwalt hätten festgehalten
werden können?

4. Zum Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts vom 19. Dezember 2011
zum Mediengesetz:
a) Hat das Urteil trotz des Inkrafttretens der neuen Verfassung am 1. Januar
2012 Bestand?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8512

b) Welche konkreten Veränderungen ergeben sich für die ungarische Me-
dienlandschaft im Anschluss an das Urteil?

c) Auf welcher Weise könnte die ungarische Regierung anhand der neuen
Verfassung das Urteil umgehen?

d) Welche Auswirkungen hat das Urteil auf öffentlich-rechtliche Medien?

e) Welche Auswirkungen hat das Urteil auf audiovisuelle Medien?

f) Welche Auswirkungen hat das Urteil auf die staatliche Struktur der neuen
ungarischen Medienbehörden?

g) Sind der Bundesregierung Klagen von Rundfunk- oder Fernsehanstalten
bekannt, die sich in gleicher Weise gegen das Mediengesetz richten, wie
die Klage, die zu dem Urteil vom 19. Dezember 2011 führte?

h) Ist die Bundesregierung nach wie vor der Ansicht, dass das ungarische
Mediengesetz von einem Grundrechtsverständnis zeugt, dass nur schwer
mit den Werten der Europäischen Union vereinbar ist?

5. Zur ungarischen Medienlandschaft:

a) Sind der Bundesregierung konkrete Fälle bekannt, in denen die von ihr
kritisierten Regelungen (namentlich die Kontrolle von Inhalten der Be-
richterstattung und Erfordernis einer „ausgewogene“ Berichterstattung)
angewandt wurden?

b) Falls nicht auf gesetzlichen Wege, auf welcher Weise werden ungarische
Medien darüber hinaus beeinflusst?

c) Wie ist derzeit der Quellenschutz für Journalistinnen und Journalisten im
ungarischen Recht geregelt, und inwieweit ist dies mit dem Menschen-
recht auf Pressefreiheit vereinbar?

d) Hat die Bundesregierung Erkenntnisse, ob und wie der private Radiosen-
der Klubradio weiterhin senden kann?

6. Zur Rolle der EU:

a) Inwiefern hält die Europäische Kommission die seit dem 1. Januar 2012
in Ungarn geltende Verfassung und die damit einhergehenden Gesetze für
unvereinbar mit dem europäischen Recht?

b) Wann und wie will sie nach Kenntnis der Bundesregierung darüber befin-
den?

c) Welche Maßnahmen im Falle gravierender Unvereinbarkeiten sind im
konkreten Fall denkbar?

d) Hält die Bundesregierung die eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren
für ausreichend, oder sieht die Bundesregierung darüber hinaus Kollisio-
nen mit EU-Recht oder Gefährdungen für die Werte der EU?

e) Erwägt die Europäische Kommission nach Kenntnis der Bundesregierung,
ein Verfahren gemäß Artikel 7 des Vertrags von Lissabon gegen Ungarn
vorzuschlagen?

f) Unterscheiden sich nach Ansicht der Bundesregierung die Maßstäbe, die
bezüglich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit von der EU an
Beitrittskandidaten angelegt werden von denen, die die EU an ihre Mit-
gliedstaaten stellt?
Wenn ja, in welchen Punkten, und aus welchem Grund?

Drucksache 17/8512 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
7. Zur Lage der Roma in Ungarn:

a) Wie hat sich (im Anschluss an die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestags-
drucksache 17/7131) die tatsächliche und rechtliche Situation der Roma in
Ungarn verändert?

b) Hat es seit diesem Zeitpunkt weitere antiziganistisch motivierte An-
schläge oder Übergriffe auf Roma gegeben?
Wenn ja, wie viele?
Wie wurden die Anschläge oder Übergriffe strafrechtlich verfolgt?
Wie sind die Verfahren ausgegangen?

c) Hat Ungarn, der Empfehlung der EU folgend, eine nationale Strategie zur
Integration der Roma verabschiedet?
Wenn ja, welche Auswirkungen hatte diese auf die Situation der Roma?

8. Zur Religionsfreiheit in Ungarn:

a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Regelungen des
geänderten ungarischen Religions- und Kirchengesetzes?

b) Entspricht aus Sicht der Bundesregierung das am 23. Dezember 2011 ver-
abschiedete Gesetz dem Urteilsspruch des ungarischen Verfassungsge-
richts vom 19. Dezember 2011?

c) Genießen religiöse Minderheiten Freiheit und Schutz?

d) Gab es in den letzten Jahren vermehrt Übergriffe auf jüdische Einrichtun-
gen?
Falls ja, ist ein Zusammenhang zur nationalistischeren Politik Ungarns
erkennbar?

9. Zur Lage der Homosexuellen, Bisexuellen und Transsexuellen (LGBT) in
Ungarn:

a) Wie ist die rechtliche Situation der LGBT in Ungarn?

b) Wie ist die tatsächliche gesellschaftliche Situation der LGBT in Ungarn?

c) Wurden in den letzten Jahren der Christopher-Street Day- (CSD) oder
Pride-Veranstaltungen in Ungarn verboten oder behindert?
Wenn ja, wann, wo, und in welcher Form?

d) Haben die ungarischen Behörden die CSD- und Pride-Veranstaltungen ge-
schützt, die in den letzten Jahren stattgefunden haben?

e) Sind rechtliche oder tatsächliche Hindernisse im Vorfeld bzw. bei der
Durchführung der Eurogames und des Europride in Budapest zu erwar-
ten?

Berlin, den 26. Januar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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