BT-Drucksache 17/8403

Fehlende Patientensicherheit bei Medizinprodukten

Vom 19. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8403
17. Wahlperiode 19. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender,
Elisabeth Scharfenberg, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Markus Kurth,
Dr. Tobias Lindner, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Brigitte Pothmer und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fehlende Patientensicherheit bei Medizinprodukten

Ende Dezember 2011 und Anfang Januar 2012 wurde in den Medien intensiv
über schadhafte Brustimplantate einer französischen Firma berichtet, deren
Produkte auch in Deutschland in den Verkehr gebracht worden sind. Die fran-
zösische Regierung rät allen Trägerinnen von Brustimplantaten der Firma Poly
Implant Prothèse (PIP) diese entfernen zu lassen. Die Explantation wird als
vorbeugende, aber nicht dringliche Maßnahme beschrieben. Das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat im Dezember 2011 zu-
nächst die Entfernung der Implantate nicht generell empfohlen, am 6. Januar
2012 jedoch eine anderslautende Empfehlung ausgesprochen.

Der Herstellerfirma PIP wird unter anderem vorgeworfen, billigeres Industrie-
silikon statt medizinisches Silikon verwendet zu haben. Nach Medienberichten
kommt es häufiger vor, dass sich in den Billigimplantaten Risse bilden und die
Implantate auch ohne Rupturen „ausschwitzen“; ein erhöhtes Krebsrisiko kann
nicht ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach
der Wirksamkeit der Zulassung und der Kontrolle von Medizinprodukten auf
nationaler und europäischer Ebene. Außerdem ist bisher unklar geblieben, wer
dafür haftet, wenn infolge von fehlerhaften Implantaten die Silikonkissen ent-
fernt oder ersetzt werden müssen. Der Skandal verdeutlicht gravierende Män-
gel in den Bereichen Patienteninformation, Qualitätskontrolle und Patienten-
sicherheit bei der Anwendung von Medizinprodukten.

Über die Auslegung des von der schwarz-roten Bundesregierung 2007 einge-
führten § 52 Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zur
Beteiligung der Versicherten an den Kosten in angemessener Höhe bei nicht
medizinisch indizierten ästhetischen Operationen wird in der Presse wider-
sprüchlich berichtet.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Über welche Informationen verfügen das Bundesministerium für Gesund-

heit und BfArM zur

a) Häufigkeit,

b) technischen Qualität,

c) Gesundheitsverträglichkeit und

d) Herkunft der in Deutschland eingesetzten Brustimplantate?

Drucksache 17/8403 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. a) Wie hoch war der Marktanteil der Brustimplantate der Firma PIP in
Deutschland?

b) Wurden weitere Implantate z. B. Hodenimplantate der Firma PIP in
Deutschland eingesetzt?

3. Welche Erkenntnisse besitzen Überwachungsbehörden zur Patientensicher-
heit und Gesundheitsverträglichkeit der verwendeten Brustimplantate?

4. a) Welche Stelle bzw. Institution ist derzeit in der Lage Brustimplantate zu
empfehlen, die medizinisch unbedenklich sind?

b) Welche Rolle spielen dabei Bewertungen der amerikanischen Food and
Drug Administration (FDA), die bereits frühzeitig vor Produkten der
Firma PIP gewarnt haben soll?

5. Wie oft im Jahr werden in Deutschland Brustimplantate als schönheits-
chirurgischer Eingriff und wie oft aus medizinischen Gründen eingesetzt?

6. Wie häufig sind Revisionen erforderlich, weil

a) gesundheitliche Komplikationen auftreten,

b) die verwendeten Silikonkissen reißen oder anderweitige Mängel auf-
weisen, die eine Entfernung notwendig machen, um gesundheitliche
Folgen zu vermeiden,

c) die Lebenszeit der Produkte begrenzt ist?

7. a) Trifft es zu, dass zur Umsetzung des § 52 Absatz 2 SGB V eine Ab-
sprache der gesetzlichen Krankenkassen besteht, die eine Eigenbeteili-
gung von 50 Prozent an den Kosten medizinisch nicht indizierter Ein-
griffe empfiehlt?

b) Welche zusätzlichen Aspekte sind in dieser Absprache geregelt?

c) Ist dadurch sichergestellt, dass es bei der Umsetzung durch die einzel-
nen Krankenkassen nicht zu unterschiedlichen oder willkürlichen Kos-
tenbeteiligungen kommt?

d) Wie bewertet die Bundesregierung die dort enthaltene Auslegung der
gesetzlich vorgeschriebenen „angemessenen“ Eigenbeteiligung?

8. Wer trägt in Deutschland bei privat Versicherten die Folgekosten, wenn
Brustimplantate aufgrund mangelnder Qualität wieder entfernt werden
müssen?

9. Von wem und in welcher Form können Patientinnen und Patienten sowie
Ärztinnen und Ärzte konkretere Informationen zur Qualität, Gesundheits-
verträglichkeit und Lebensdauer von Medizinprodukten erhalten?

10. a) Besteht eine Pflicht der behandelnden Ärztinnen und Ärzte bzw. des
Krankenhauses, die Patientinnen darauf aufmerksam zu machen, dass
ihnen Silikonkissen von der Firma PIP eingesetzt wurden?

b) Wenn ja, wann, und von wem wurden die betroffenen Patientinnen in-
formiert?

11. Sind Medienberichte zutreffend, wonach die TÜV Rheinland AG europa-
weit in einem Konformitätsverfahren eine CE-Kennzeichnung zu silikon-
gefüllten Brustimplantaten für die Firma PIP durchgeführt hat?

12. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der TÜV Rheinland AG,
dass bei diesem Zulassungsverfahren lediglich die Produktdokumentation
der Implantate zu überprüfen war und nicht die Implantate selbst oder das
verwendete Silikon (Pressemitteilung der TÜV Rheinland AG vom 29. De-

zember 2011)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8403

13. Ist der Bundesregierung ein Schreiben der Rechtsanwältin für Medizinrecht
Dr. Ruth Schultze-Zeu vom 2. Januar 2012 an die TÜV Rheinland AG be-
kannt, in welchem sie darlegt, dass nach ihrer Rechtsauffassung das Kon-
formitätsbewertungsverfahren für Medizinprodukte umfassendere Prüf-
pflichten der prüfenden Stelle vorgibt?

Wie bewertet die Bundesregierung diese Argumentation, und welche
Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

14. a) Auf welcher Grundlage entschied sich das BfArM am 23. Dezember
2011, keine pauschale Empfehlung zur Entfernung von Brustimplanta-
ten des französischen Herstellers PIP auszusprechen?

b) Auf der Grundlage welcher zu diesem Zeitpunkt neuer Erkenntnisse und
Meldungen nach § 3 Absatz 2 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanver-
ordnung (MPSV) gab das BfArM am 6. Januar 2012 die anderslautende
Empfehlung, alle betroffene Implantate als „Vorsichtsmaßnahme“ zu
entfernen?

c) Wie erklärt die Bundesregierung diesen kurzfristigen Wechsel der
Risikoeinschätzung durch das BfArM?

15. Was hat das BfArM nach der Entscheidung der französischen Medizinpro-
duktebehörde Afssaps vom 29. März 2010 über das europaweite Verbot des
Vertriebs und der Verwendung von Silikonbrustimplantaten der Firma PIP
unternommen, um

a) die Zahl der in Deutschland in Verkehr gebrachten Implantate der Firma
PIP in Erfahrung zu bringen,

b) die in Deutschland betroffenen Patientinnen von der Entscheidung der
Afssaps zu unterrichten?

c) Hat das BfArM bei den zuständigen Landesbehörden darauf hingewirkt,
dass Meldepflichtige nach § 3 Absatz 2 MPSV ihre Patientinnen über
die Maßnahmen und Erkenntnisse der Afssaps informieren?

d) Hat das BfArM sichergestellt, dass betroffene Patientinnen über die
medizinischen Empfehlungen bzw. Entscheidungshilfen der Afssaps für
Frauen mit PIP-Gelimplantaten vom April 2011 in Kenntnis gesetzt
wurden?

16. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, wie viele Implan-
tate der Firma PIP in Deutschland nach dem 1. April 2010 trotz Verbotes in
Verkehr gebracht wurden?

17. Trifft es zu, dass Brustimplantate zu den Medizinprodukten der Produkt-
klasse III zählen?

Wenn ja, welche Stellen in den Bundesländern sind für die Überwachung
von Produkten dieser Risikoklasse zuständig?

18. a) Trifft es zu, dass für Medizinprodukte abhängig von der Produktklasse
jeweils unterschiedliche Überwachungsbehörden wie Eichämter und
Gewerbeaufsichtsämter der Länder zuständig sind?

b) Trifft es zu, dass abhängig davon, ob es sich um aktive oder inaktive
Medizinprodukte handelt, zwei unterschiedliche Zentralstellen der Län-
der für die Koordination der Überwachung von Medizinprodukten zu-
ständig sind?

c) Wie bewertet die Bundesregierung diese zersplitterte Zuständigkeit im
Hinblick auf die Effizienz und Wirksamkeit der Überwachung von

Medizinprodukten?

Drucksache 17/8403 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
d) Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf, diese Zersplitterung zu
überwinden, und wenn ja, auf welche Weise will sie auf eine Zusam-
menführung der Überwachungskompetenzen bei Medizinprodukten
beim BfArM hinwirken?

19. Besitzt das BfArM aktuelle Erkenntnisse darüber, wie viele Medizinpro-
dukte der unterschiedlichen Produktklassen derzeit auf dem Markt erhält-
lich sind?

Wenn nein, warum nicht?

20. a) Wie viele durch das BfArM benannte Stellen sind in Deutschland mit
der Zertifizierung von Medizinprodukten betraut?

b) Strebt die Bundesregierung eine zentrale Zertifizierung von Medizin-
produkten der Klassen II und III durch das BfArM an?

Wenn nein, warum nicht?

21. Reichen nach Auffassung der Bundesregierung die bestehenden gesetz-
lichen Regelungen und Kontrollmechanismen aus, um sicherzustellen, dass
ein Produkt nach der CE-Zulassung dauerhaft den Zulassungskritierien ent-
spricht?

22. a) Wäre nach Auffassung der Bundesregierung bei der EG-Konformitäts-
erklärung für Medizinprodukte der Klasse III eine umfassendere Prü-
fung erforderlich gewesen, die beispielsweise ein gestaffeltes Kontroll-
verfahren, unangekündigte Besuche bei der Herstellerfirma und eine
detaillierte chemische Charakterisierung des Füllmaterials der Implan-
tate beinhaltet?

b) Wenn ja, welche Schritte wird die Bundesregierung wann einleiten, um
solche Maßnahmen schnellstmöglich zur Anwendung zu bringen?

c) Hält die Bundesregierung die bestehenden Anforderungen nach § 7 des
Medizinproduktegesetzes für das Inverkehrbringen von Medizinproduk-
ten für ausreichend, und wie begründet sie dies?

d) Hält die Bundesregierung eine an die Zulassung von Arzneimitteln
angelehntes Verfahren von Medizinprodukten hoher Risikoklassen für
sinnvoll, und wie begründet sie dies?

23. Hat die Bundesregierung die Absicht, aufgrund der jüngsten Erfahrungen
ein verpflichtendes Implantat- bzw. Produktregister aufzubauen bzw. ent-
sprechende Pläne der EU-Kommission politisch zu unterstützen?

24. Welche anderen Pläne verfolgt die Bundesregierung, um die unbefriedi-
gende Situation zugunsten von mehr Patientensicherheit und Gesundheits-
verträglichkeit von Medizinprodukten zu verbessern?

25. Hat die Bundesregierung die Absicht, z. B. im Rahmen des geplanten Patien-
tenrechtegesetzes gesetzliche Regelungen einzuführen, die die Patientinnen
und Patienten bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen nach
Schäden durch mangelhafte Medizinprodukte zu stärken?

Berlin, den 19. Januar 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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