BT-Drucksache 17/835

Belastungen durch Zusatzbeiträge

Vom 25. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/835
17. Wahlperiode 25. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Heidrun
Dittrich, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Belastungen durch Zusatzbeiträge

Die Koalition der Fraktionen der CDU/CSU und SPD hat in der vergangenen
Wahlperiode das Instrument der Zusatzbeiträge geschaffen. In den letzten
Wochen mussten immer mehr Krankenkassen davon Gebrauch machen, da die
Einnahmen aus allgemeinem Beitragssatz, Sonderbeitrag, Zuzahlungen und
Steuermitteln nicht mehr ausreichten, um die Ausgaben zu decken.

Die einzige Möglichkeit, den Zusatzbeiträgen zu entgehen, besteht für die Ver-
sicherten darin, die Kasse zu wechseln. Dies rät die Bundesregierung auch den
Versicherten. Allerdings ändert selbst ein massenhafter Kassenwechsel freilich
nichts an der strukturellen Unterfinanzierung des Gesundheitsfonds. Man kann
also durch sein eigenes Wechselverhalten nur Einfluss auf die Höhe des indivi-
duellen Zusatzbeitrags nehmen. Auf die gesamte Versichertengemeinschaft be-
zogen wird dadurch kein Euro an Zusatzbeitrag eingespart. Im Gegenteil: Für
jeden Wechsel sind Bürokratiekosten zu erwarten; es werden also Gelder ver-
schwendet, die entweder in der Versorgung fehlen oder wieder über Zusatzbei-
träge eingetrieben werden müssen. Spätestens wenn alle Kassen Zusatzbeiträge
erheben, kann kein Versicherter sie mehr vermeiden.

Auch Hartz-IV-Betroffene müssen – im Gegensatz zu Sozialhilfebezieherinnen
und -beziehern – Zusatzbeiträge grundsätzlich selbst zahlen. Es ist lediglich
eine Härtefallregelung nach § 26 Absatz 4 des Zweiten Buches Sozialgesetz-
buch (SGB II) vorgesehen, die nach Prüfung eines Antrags des Arbeitslosen-
geld-II-Beziehers (Arbeitslosengeld II – ALG II) erfolgen kann. Die Voraus-
setzungen für die Übernahme der Zusatzbeiträge sind bislang recht unklar und
eng gefasst. Der Gesetzestext spricht von „besonderen Härtefällen“. Es gibt
aber Äußerungen der Bundesregierung, insbesondere aus dem Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales, sich kurzfristig für eine großzügige Auslegung
des Ermessensspielraums einzusetzen. Langfristig solle eine Gesetzesänderung
diese Frage neu regeln (Meldung der Associated Press vom 9. Februar 2010).

Am 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil über
Hartz IV klargestellt, dass insbesondere das physische Existenzminimum ge-
währleistet werden muss. Dazu gehört eine Absicherung im Krankheitsfall.

Durch diese Absicherung dürfen nach Auffassung der Fragesteller dem/der
Hilfebedürftigen keine Kosten entstehen – es sei denn, sie sind durch eine
Hilfeleistung genau für diesen Zweck und in dieser Höhe gedeckt. Das wirft
einige Fragen im Zusammenhang mit der Erhebung von Zusatzbeiträgen auf.

Der Bundesminister für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler, gab im „Weser-Kurier“
vom 10. Februar 2010 bekannt, dass er über höhere Zusatzbeiträge in dieser
Wahlperiode den Einstieg in die Kopfpauschale umsetzen wolle.

Drucksache 17/835 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Für welche Fälle gilt die heutige Härtefallregelung gemäß § 26 Absatz 4
SGB II bezüglich Zusatzbeiträgen, und inwiefern gibt es infolge des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts Änderungen daran?

2. Ist es richtig, dass die Bundesregierung die Träger von ALG II und Sozial-
geld aufruft, die o. g. Härtefallregelung großzügig auszunutzen?

3. Ist die Kann-Regelung in § 26 Absatz 4 SGB II sachgerecht, oder sollte
eine verbindlichere Regelung eingeführt werden?

4. Wenn ja, für welche Fälle soll dies beispielsweise gelten?

Bleibt es bei einer unverbindlichen mündlichen Empfehlung der Bundes-
regierung an die Träger von ALG II und Sozialgeld, oder wird es eine ver-
bindliche Weisung geben?

5. Soll es hierzu eine Gesetzesänderung oder eine Verordnung geben, und
wenn ja, mit welchem Inhalt und wann?

6. Ist es richtig, dass die Bundesregierung von Zusatzbeiträgen Betroffenen
empfiehlt, die Kasse zu wechseln?

Falls ja, weshalb tut sie das?

7. Ist es weiterhin richtig, dass die Versichertengemeinschaft insgesamt durch
Kassenwechsel das Defizit des Gesundheitsfonds nicht verringert, sondern
durch die zusätzlich entstehende Bürokratie eher erhöht?

Ist es also ferner richtig, dass durch Kassenwechsel letztlich auch kein
Euro an Zusatzbeiträgen eingespart werden kann?

8. Falls die Bundesregierung die vorherige Frage mit einem Verweis auf Ein-
spareffekte infolge des Kassenwettbewerbs beantwortet: Lassen sich die
vermuteten Effekte auch nur ganz grob – z. B. in logarithmischen Größen-
ordnungen – beziffern?

9. Wie hoch sind – ganz grob – die geschätzten Verwaltungskosten für einen
Kassenwechsel?

Wie hoch sind die Verwaltungskosten, wenn man annimmt, dass nur etwa
5 Prozent der Mitglieder der Kassen wegen Zusatzbeiträgen die Kasse
wechseln?

Wie hoch sind die Kosten für das Mahnverfahren bei Nichtzahlung?

Wie hoch sind die Kosten für die Erhebung eines Säumniszuschlags für die
Kasse und für das Mitglied?

Wie hoch sind die Kosten für die Vollstreckung durch die Vollstreckungs-
behörde (Hauptzollamt) für die Kasse und für das Mitglied?

Gibt es Schätzungen über die Anzahl der Mitglieder, die ihre Zusatzbei-
träge nicht pünktlich, unter Vorbehalt oder gar nicht zahlen werden?

10. Ist es richtig, dass es keine seriöse Schätzung gibt, nach der der vermeint-
liche Nutzen eines verschärften Kassenwettbewerbs höher ist, als der mit
Sicherheit eintretende Schaden durch eine Ausweitung der Bürokratie?

Schätzt die Bundesregierung den vermeintlichen Nutzen des verschärften
Kassenwettbewerbs höher ein, als den dadurch entstehenden bürokratischen
Aufwand?

Auf welcher Grundlage geschieht das?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/835

11. Trägt die absehbare Einführung von Zusatzbeiträgen bei immer mehr
Krankenkassen zum im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP
mehrfach genannten Ziel des Bürokratieabbaus bei?

Wird durch einen „Sozialausgleich“, der zusammen mit der von der Bun-
desregierung geplanten Erhöhung der Zusatzbeiträge eingeführt werden
soll, das angestrebte Ziel erreicht, Bürokratie abzubauen?

12. Wie hoch ist der monatliche Betrag, der im Regelsatz des ALG II für Ge-
sundheitsleistungen vorgesehen ist?

Welche Gesundheitsleistungen sollen damit bezahlt werden, bzw. wie setzt
sich dieser Betrag zusammen?

13. Ist beabsichtigt, mit dem absehbaren Auftreten des Ausgabepostens „Zu-
satzbeiträge“ in den realen Ausgaben der Referenzgruppe, von der sich die
ALG-II-Regelsätze ableiten, den Betrag für Gesundheitsleistungen im Re-
gelsatz entsprechend zu erhöhen?

14. Falls nein, wird davon ausgegangen, dass ALG-II-Beziehende generell nur
in Kassen ohne Zusatzbeiträge versichert sein wollen, oder wird dadurch
die freie Kassenwahl empfindlich eingeschränkt?

15. In welchen OECD-Ländern werden einkommensunabhängige Pauschalen
mit einem Einkommensausgleich von den Versicherten erhoben?

16. In welchen Ländern findet der Einkommensausgleich automatisch und
gleichzeitig statt, also z. B. nicht erst nach Bearbeitung einer Jahressteuer-
erklärung?

Wie kann ein automatischer monatlicher Sozialausgleich in der Praxis
realisiert werden?

17. Auf welche Höhe (in Mrd. Euro und Prozent des Einkommens) sollen in
dieser Wahlperiode die Zusatzbeiträge minimal steigen?

18. Auf welche Höhe (in Mrd. Euro und Prozent des Einkommens) sollen in
dieser Wahlperiode die Zusatzbeiträge maximal steigen?

19. Wie vertragen sich Zusatzbeiträge und andere von den Versicherten ohne
Arbeitgeberbeteiligung zu tragenden Gesundheitsleistungen mit der im
Wahlkampf von der FDP propagierten Losung „Mehr Netto vom Brutto“?

20. Rechnet die Bundesregierung damit, dass Zusatzbeiträge Verhandlungs-
gegenstand bei Tarifverhandlungen werden zumal Zusatzbeiträge Arbeit-
gebern gesetzlich verordnete Vorteile auf Kosten der Arbeitnehmer bringen?

Wird die Bundesregierung dort, wo sie als Tarifpartner auftritt, diese von
ihm als Gesetzgeber zu verantwortende Lohnminderung bei Tarifverhand-
lungen berücksichtigen?

Ist ein Ausgleich für Bezieher anderer Sozialleistungen vorgesehen?

Wie sollen diese Ausgleiche gestaltet sein?

21. Sind Rabatte auf Zusatzbeiträge, die gewährt werden, wenn Mitglieder der
gesetzlichen Krankenversicherung sich z. B. für eine quartalsweise oder
jährliche Zahlung entscheiden (Meldung von ddp vom 15. Februar 2010),
rechtlich einwandfrei, beschäftigen sich die Aufsichtsbehörden mit dieser
Angelegenheit, und wenn ja, in welcher Weise, und mit welchem Ergebnis?

22. Müssen freiwillig Versicherte prozentuale Zusatzbeiträge auf ihr tatsäch-
liches Einkommen oder auf die Mindestbeitragsbemessung nach § 40
Absatz 4 SGB V zahlen?

Berlin, den 25. Februar 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.