BT-Drucksache 17/8229

Flexibilisierung der Arbeitszeit, atypische Arbeitszeiten und Anforderungen an die Politik

Vom 16. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8229
17. Wahlperiode 16. 12. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, Dr. Martina Bunge, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Yvonne Ploetz, Ingrid
Remmers, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Flexibilisierung der Arbeitszeit, atypische Arbeitszeiten und Anforderungen
an die Politik

Um die Lage am Arbeitsmarkt zu beurteilen, reicht es nicht, die Zahl der offiziell
registrierten Arbeitslosen oder das Ausmaß des Niedriglohnsektors heranzuzie-
hen. Entscheidend sind daneben die Qualität der Arbeit und ihre soziale Ausge-
staltung. Dazu gehört auch der Ausgleich von Beruf und Privatleben. Der Ge-
staltung der Arbeitszeit fällt dabei eine zentrale Rolle zu.

Seit Jahren schreitet die Flexibilisierung der Arbeitszeit voran. Viele Menschen
arbeiten zu sogenannten atypischen Arbeitszeiten. Dazu gehört Wochenend- und
Feiertagsarbeit ebenso wie die Arbeit am Abend, in der Nacht oder im Schicht-
dienst. Hinzu kommen überlange Arbeitszeiten.

Atypische Arbeitszeiten, insbesondere Nacht- und Schichtarbeit, führen zu ge-
sundheitlichen Folgeschäden, die oft erst mittel- oder langfristig sichtbar wer-
den. Der Faktor Arbeitszeitgestaltung beeinflusst deutlich die Entstehung von
psychischem Stress. Darüberhinaus beeinträchtigen Arbeitszeiten jenseits des
Normalarbeitstages etwa am Abend oder dem Wochenende das Familienleben
und soziale Kontakte.

Nicht jede dieser atypischen und flexibilisierten Arbeitszeiten ist gesellschaft-
lich notwendig. Eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Bestre-
bungen stellt, muss hier steuernd eingreifen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch waren in den Jahren 1991, 2001 und 2010 die Zahl und der relative
Anteil der Erwerbstätigen insgesamt, die ständig, regelmäßig oder gelegent-
lich einer Samstagsarbeit, Sonntags- und/oder Feiertagsarbeit, Abendarbeit,
Nachtarbeit nachgingen und in Wechselschicht arbeiteten (bitte für alle Er-
werbstätigen insgesamt sowie für die Gruppen Arbeiter und Angestellte auf-
führen)?

2. Wie stellt sich die Entwicklung der oben genannten Bereiche jeweils einzeln

dar?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Entwicklung der oben genannten aty-
pischen Arbeitszeiten?

4. Was versteht die Bundesregierung unter Flexibilisierung der Arbeitszeit?

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5. Was sind nach Ansicht der Bundesregierung die Ursachen für die zuneh-
mende Flexibilisierung der Arbeitszeit?

6. Wie hoch ist der Anteil der Beschäftigten, die selbst Einfluss auf ihre Ar-
beitszeitgestaltung haben?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Einfluss einer vor-
handenen bzw. nicht vorhandenen betrieblichen Interessenvertretung auf
die Flexibilisierung der Arbeitszeit?

8. Welche Beschäftigtengruppen lassen sich ausmachen, die einen überdurch-
schnittlich hohen Anteil der in Frage 1 genannten Arbeitszeiten haben (bitte
auch Beschäftigungszahlen nennen)?

9. Welche Branchen lassen sich ausmachen, in denen überdurchschnittlich oft
zu den in Frage 1 genannten Arbeitszeiten gearbeitet wird (bitte mit Be-
schäftigungszahlen nennen)?

10. Welchen Einfluss hat die Nationalität (ausländische/deutsche Erwerbstä-
tige) auf die Ausprägung atypischer Arbeitszeiten, und welche Ursachen
liegen dem zu Grunde?

11. Welchen Einfluss hat das Alter auf die Ausprägung atypischer Arbeitszei-
ten, und welche Ursachen liegen dem zu Grunde?

12. Welchen Einfluss hat das Geschlecht auf die Ausprägung atypischer Ar-
beitszeiten, und welche Ursachen liegen dem zu Grunde?

13. Welchen Einfluss hat eine Behinderung auf die Ausprägung atypischer Ar-
beitszeiten, und welche Ursachen liegen dem zu Grunde?

14. Welchen Einfluss hat die Qualifikation auf die Ausprägung atypischer Ar-
beitszeiten, und welche Ursachen liegen dem zu Grunde?

15. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie häufig Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund atypischer bzw. flexibler Arbeits-
zeiten Zuschläge erhalten?

16. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über gesundheitliche Be-
einträchtigungen und/oder langfristige Behinderungen infolge häufiger
Samstagsarbeit, Sonntags- und/oder Feiertagsarbeit, Abendarbeit, Nacht-
arbeit und Wechselschichtarbeit vor (bitte differenziert für jede Form atypi-
scher Arbeitszeit sowie nach Art der Erkrankungen, Beeinträchtigungen
und Behinderungen darstellen)?

Welche politischen Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus die-
ser Problemlage?

17. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zunahme von Fällen
des Burn-out-Syndroms, und inwiefern sieht sie hier einen Zusammenhang
zu der Ausbreitung flexibler Arbeitszeiten?

18. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über Beeinträchtigungen
des familiären Zusammenlebens infolge häufiger Samstagsarbeit, Sonntags-
und/oder Feiertagsarbeit, Abendarbeit, Nachtarbeit und Wechselschicht-
arbeit vor, und welche politischen Schlussfolgerungen zieht die Bundes-
regierung aus dieser Problemlage?

19. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über Beeinträchtigungen
des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Teilhabe infolge häufiger
Samstagsarbeit, Sonntags- und/oder Feiertagsarbeit, Abendarbeit, Nachtar-
beit, und Wechselschichtarbeit vor, und welche politischen Schlussfolge-
rungen zieht die Bundesregierung aus dieser Problemlage?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8229

20. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über gesundheitliche Beein-
trächtigungen aufgrund variabler Arbeitszeiten (ohne feste Anfangs- und
Endzeiten)?

21. Welche Bedeutung kommt nach Ansicht der Bundesregierung der Arbeits-
zeitgestaltung im Zusammenhang mit den wachsenden psychischen Belas-
tungen zu?

22. Wie hat sich die Zahl der arbeitsbedingten Erkrankungen in den letzten zehn
Jahren entwickelt, und wie hoch sind die volkswirtschaftlichen Kosten, die
mit diesen Erkrankungen verbunden sind (wenn möglich bitte differenziert
beantworten nach Arbeitsausfällen, Kosten der Gesundheitsleistungen
etc.)?

Ist der Bundesregierung bekannt, welchen Anteil an den Erkrankungen die
Arbeitszeitgestaltung hat?

23. Sind der Bundesregierung Untersuchungen bekannt, die den Stellenwert des
Gesundheitsschutzes für die Beschäftigten, insbesondere die sozialverträg-
liche Gestaltung von Arbeitszeiten messen?

24. Welche Arbeitszeitmodelle stellen nach Ansicht der Bundesregierung eine
Gefährdung dar, auf die mit Maßnahmen des Arbeitsschutzes reagiert wer-
den sollte?

25. Inwiefern findet nach Ansicht der Bundesregierung die Frage der Arbeits-
zeitgestaltung in den gesetzlichen Regelungen des Arbeitsschutzes und sei-
ner Ausgestaltung derzeit genügend Berücksichtigung?

26. Welche Möglichkeiten (Gesetze, Verordnungen, etc.) besitzt die Politik, um
atypische Arbeitszeiten einzudämmen?

27. Inwiefern findet nach Ansicht und Erkenntnissen der Bundesregierung der
Gefährdungsfaktor Arbeitszeit genügend Berücksichtigung bei den Gefähr-
dungsbeurteilungen durch den Arbeitgeber nach § 5 des Arbeitsschutzge-
setzes?

a) Wie viele Gefährdungsbeurteilungen wurden in den Jahren 2008, 2009
und 2010 durch die Arbeitgeber vorgenommen, und wie viele Beschäf-
tigte waren davon betroffen (bitte absolute und relative Werte nennen)?

b) Wie häufig wurde dabei der Gefährdungsfaktor Arbeitszeit erfasst (bitte
auch nach Jahren und Zahl der Beschäftigten aufgliedern)?

c) Was waren bei den Gefährdungsbeurteilungen, die die Arbeitszeit betra-
fen, die meistgenannten Probleme?

d) Wie schätzt die Bundesregierung die allgemeine Qualität der Gefähr-
dungsanalysen ein?

28. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Veränderungen am Ar-
beitsplatz infolge von Gefährdungsbeurteilungen?

29. Teilt die Bundesregierung die Auffassung verschiedener Arbeitswissen-
schaftler (Prof. Friedhelm Nachreiner u. a.), wonach die Beurteilung der
Arbeitszeit im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zwar gesetzlich vorge-
geben ist, Untersuchungen jedoch zeigen, dass Merkmale der Arbeitszeit-
gestaltung Sicherheits- und Gesundheitsziele gefährden können, und zwar
bereits innerhalb der gesetzlichen Vorgaben und deshalb im Interesse der
Vermeidung unnötiger Gefährdungen arbeitswissenschaftlicher Erkennt-
nisse stärker berücksichtigt werden sollten, und wie begründet die Bundes-
regierung ihre Auffassung?

30. Inwiefern überlegt die Bundesregierung, auf den Gefährdungsfaktor Ar-
beitszeit zu reagieren?
Sind Maßnahmen auf legislativer Ebene geplant?

Drucksache 17/8229 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Sind Maßnahmen auf der Ebene der Verordnungen geplant?

31. Welche speziellen Anforderungen an die Arbeitszeitgestaltung gibt es nach
Ansicht der Bundesregierung hinsichtlich alternsgerechter Arbeit?

32. Was waren in den zurückliegenden zehn Jahren die häufigsten Verstöße ge-
gen das Arbeitszeitgesetz?

a) Wie viele Verstöße sind in den einzelnen Jahren aufgetreten?

b) In welchem Umfang fanden in den einzelnen Jahren Kontrollen zur Ein-
haltung des Arbeitszeitgesetzes durch die zuständigen Aufsichtsbehör-
den statt (bitte nach Bundesländern differenzieren)?

c) In welchem Umfang mussten Arbeitgeber Bußgeldzahlungen leisten
(bitte wenn möglich jeweils jährliche Zahlen angeben und nach Bußgeld-
höhe differenzieren)?

d) Sieht die Bundesregierung die derzeitigen Bußgeldregelungen als ausrei-
chend an, und wie begründet sie ihre Auffassung?

e) Wurden im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz
Freiheits- oder Geldstrafen verhängt?

Wenn ja, um wie viele Fälle handelte es sich, und was waren die Ver-
stöße?

33. Wie hoch lassen sich die Zahl und der Anteil der Beschäftigten beziffern,
die von den Ausnahmeregelungen des Sonn- und Feiertagsverbots im Ar-
beitszeitgesetz (§ 9 bzw. § 10) betroffen sind?

a) Wie stark könnte nach Ansicht der Bundesregierung die Zahl der von § 9
des Arbeitszeitgesetzes abweichenden Regelungen reduziert werden?

b) Was wäre an gesetzgeberischen Maßnahmen bzw. Vereinbarungen zwi-
schen Bund und Ländern nötig, um die Ladenschlussgesetzgebung wie-
der in Bundesverantwortung zurückzuführen, um einen Überbietungs-
wettlauf der Länder im Bereich der Ladenöffnungszeiten zu verhindern?

c) Wie steht die Bundesregierung zu dem in Frage 33b gemachten Vorschlag?

34. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob Schichtarbeit
hauptsächlich

a) aus gesellschaftlich notwendigen versorgungs- oder prozesstechnischen
Gründen gemacht werden muss (etwa Gesundheits- und Verkehrswesen)
oder

b) auf rein betriebswirtschaftliche Motive zurückzuführen ist?

35. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass die nach dem
Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen (z. B. § 7 zu der
werktäglichen Arbeitszeit und den arbeitsfreien Zeiten und § 10 zur Sonn-
und Feiertagsruhe) in der Praxis derart angewandt werden, dass in vielen
Fällen die Gesundheit der Beschäftigten gefährdet ist – trotz zum Teil ge-
genteiliger gesetzlicher Vorschriften?

Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung für die einzelne Arbeit-
nehmerin bzw. den einzelnen Arbeitnehmer, ihr bzw. sein Recht einzufor-
dern?

Wie oft passiert dies in der Praxis?

36. Was spricht nach Ansicht der Bundesregierung dafür bzw. dagegen, das Ar-
beitszeitgesetz analog zur Regelung im Urlaubsgesetz umzugestalten, wo-
nach von den im Gesetz formulierten Mindeststandards generell nur dann

abgewichen werden kann, wenn dies „nicht zuungunsten des Arbeitneh-

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mers“ geschieht (§ 13 des Bundesurlaubsgesetzes), also nur dann, wenn da-
mit eine Besserstellung der Arbeitnehmer verbunden ist?

37. Wie hoch waren in den Jahren 1991, 2001 und 2010 die Zahl und der Anteil
der Erwerbstätigen mit überlangen Arbeitszeiten, d. h. mit Arbeitszeiten
von in der Regel mehr als

a) 42 Stunden und

b) 48 Stunden

pro Woche?

38. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die gesundheitlichen
Auswirkungen überlanger Arbeitszeiten, und wo sieht sie politischen Hand-
lungsbedarf?

39. Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß flexibler
Arbeitszeiten und dem Ausmaß überlanger Arbeitszeiten, und welche Zah-
len liegen der Bundesregierung dazu vor?

40. Wie hoch waren in den Jahren 1991, 2001 und 2010 die Zahl und der Anteil
der Erwerbstätigen mit stark schwankenden Arbeitszeiten, d. h. mit Arbeits-
zeiten, die in der Regel um mehr als 20 Stunden pro Woche voneinander ab-
weichen?

41. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die unterschiedlichen
Arbeitszeitwünsche von Frauen und Männern?

42. Welche Auswirkungen wird nach Ansicht der Bundesregierung die neue
EU-Arbeitszeitrichtlinie auf den Komplex der Arbeitszeitflexibilisierung
haben, und welche Position vertritt die Bundesregierung dazu?

43. Sind der Bundesregierung Untersuchungen bekannt, die den Zusammen-
hang zwischen atypischen, gesundheitsschädlichen Arbeitszeiten und der
vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens analysieren?

44. Sind der Bundesregierung Untersuchungen bekannt, die den Zusammen-
hang zwischen atypischen, gesundheitsschädlichen Arbeitszeiten und der
vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens im Zusammenhang mit fami-
liären Belastungen (z. B. bei Alleinerziehenden oder Pflegenden) analysie-
ren?

Wenn ja, welche sind dies, und zu welchen Ergebnissen kommen diese?

Berlin, den 16. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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