BT-Drucksache 17/8193

Arbeitnehmerrechte ausländischer Pflegehilfskräfte im grauen Pflegemarkt

Vom 14. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8193
17. Wahlperiode 14. 12. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Kathrin Senger-Schäfer, Jutta Krellmann, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus,
Katja Kipping, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Arbeitnehmerrechte ausländischer Pflegehilfskräfte im grauen Pflegemarkt

Die Pflegeversicherung ist eine „Teilkaskoversicherung“. Sie gewährt pflege-
bedürftigen Menschen nur einen Zuschuss zu den Pflegekosten. Dieser Zu-
schuss dient vorrangig dazu, die familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamt-
liche Pflege zu ergänzen. Um den individuellen Bedarf abzudecken, müssen die
Betroffenen und ihre Angehörigen auf ihr Einkommen und Vermögen zurück-
greifen. Vielen ist das nicht möglich. Menschen mit Pflegebedarf werden häu-
fig von der Sozialhilfe oder von der Unterstützung ihrer Angehörigen abhängig.
Überforderung und Überlastung sind keine Seltenheit. Hinzu kommen Pflege-
fachkräftemangel und eine enorme Arbeitsbelastung der Pflegekräfte. Bei am-
bulanten Pflegediensten und stationären Einrichtungen führen Kommerzialisie-
rung und Privatisierung zu Arbeitsverdichtung und Lohndumping und zum
Ersatz von professionellen Fachkräften durch Pflegehilfskräfte.

Angehörige versuchen, die Lücke zwischen tatsächlichem Bedarf und den real
verfügbaren und bezahlbaren Pflegefachkräften und Betreuungskräften zu
schließen, indem sie Migrantinnen – meist aus Osteuropa – für die häusliche
Versorgung anwerben und beschäftigen. Meist als Haushaltshilfen beschäftigt,
treffen Migrantinnen auf komplexe Anforderungen und undurchsichtige recht-
liche Arrangements. Arbeitsschutz und menschenwürdige Beschäftigungs-
bedingungen bleiben auf der Strecke. Entstanden ist ein grauer Pflegemarkt,
in dem private Leistungsanbieter und Vermittler von der Not der Pflegebedürf-
tigen und ihrer Angehörigen profitieren.

Begünstigt wird der graue Pflegemarkt durch die europäische Dienstleistungs-
und Niederlassungsfreiheit sowie durch die seit dem 1. Mai 2011 geltende volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit: Voraussetzung für eine Entsendung als Pflegehilfs-
kraft ist ein im Herkunftsland tätiges Unternehmen, auf dessen Rechnung die
Arbeitsleistung in Deutschland erfolgt. Die zuständige Behörde im Land des
entsendenden Unternehmens stellt eine Entsendebescheinigung A 1 aus. Diese
Bescheinigung ist für deutsche Behörden und Gerichte verbindlich. Das tat-
sächliche Vorliegen der Voraussetzungen darf von deutschen Gerichten nicht

überprüft werden.

Doch die Entsendung einer Pflegekraft ist aufgrund der Regelungen des Arbeit-
nehmerentsendegesetzes unattraktiv. Bei überwiegender Tätigkeit in der Grund-
pflege sind die deutschen Vorschriften der Mindestentlohnung von 7,50 Euro
(Ost) und 8,50 Euro (West) einzuhalten. Die Entsendung erfolgt daher in der
Regel als Haushaltshilfe. Die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen

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für die Pflegebranche (PflegeArbbV) gilt für Haushalts-/Pflegehilfskräfte nicht.
Der Pflegemindestlohn ist nur bei der Beschäftigung bei einem Pflegebetrieb
oder Entsendung in diesen und einer Tätigkeit mit überwiegend grundpflegeri-
schen Aufgaben zu zahlen, so dass der Pflegemindestlohn bei der Bezeichnung
der Tätigkeit als Haushalts-/Pflegehilfskraft ins Leere läuft. Welche Tätigkeiten
tatsächlich ausgeführt werden, wird nicht kontrolliert. Außerdem ist umstritten,
ob das Arbeitszeitgesetz Anwendung auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
findet, die in häuslicher Gemeinschaft mit den Pflegebedürftigen leben. Ohne
Kontrolle und Überprüfung bleibt auch die Einhaltung des Mindesturlaubs von
24 Werktagen im Jahr. Es besteht die Gefahr, dass arbeits- und sozialrechtliche
Normen, wie Arbeitszeit, Urlaub und Sozialversicherungspflicht missachtet
werden. Die Folge sind meist ungeschützte und prekäre Beschäftigungsverhält-
nisse.

Die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen schließen dafür einen Dienst-
leistungsvertrag mit dem ausländischen Entsendeunternehmen, bei dem die
Pflegekräfte angestellt sind. Eine Weisungsbefugnis der Pflegebedürftigen oder
ihrer Angehörigen gegenüber der Pflegekraft ist grundsätzlich ausgeschlossen.
Das Zusammenleben der Pflegekraft mit dem oder der Pflegebedürftigen be-
deutet faktisch 24-Stunden-Pflege. Die Pflegekraft ist voll in die alltäglichen
Arbeitsabläufe des Haushalts eingebunden und verwendet Arbeitsmittel, die der
Haushalt zur Verfügung stellt. Es ist wirklichkeitsfremd, anzunehmen, dass die
Gepflegten oder ihre Angehörigen nicht den Inhalt der Tätigkeit, die Arbeitszeit
und die Art und Weise der Tätigkeit bestimmen. Eine Kontrolle und Regulie-
rung durch den Gesetzgeber erfolgt aber nicht.

Sofern im Alltag der Pflegetätigkeit umfassende Weisungen durch die Pflegebe-
dürftigen erfolgen und nicht durch das entsendende Unternehmen im Ausland,
liegt damit der Tatbestand einer gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung vor.
Diese wäre erlaubnispflichtig, auch dann, wenn es sich um ein ausländisches
Unternehmen handelt. Fehlt eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung, dann
ist zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegekraft ein sozialversicherungs-
pflichtiges Arbeitsverhältnis zustande gekommen. Eine Überprüfung hierzu er-
folgt jedoch regelmäßig nicht, wenn die Entsendebescheinigung A 1 vorliegt.

Diese Gesamtproblematik machen sich in Deutschland sitzende Vermittlungs-
firmen, z. B. Seniocare24, zu Nutze. Nach eigenen Angaben arbeitet die
Seniocare24 mit 40 polnischen Arbeitsvermittlungen zusammen, betreut 1 000
Kunden in Deutschland und hat rund 2 000 Pflegekräfte im Einsatz. Für die Ver-
mittlung erhält die Seniocare24 nach eigenen Angaben pro Jahr und Pflegefall
850 Euro (vgl. „Die Chemie mit der Ersatztochter muss stimmen“, Die Rhein-
pfalz vom 7. Oktober 2010). Explizit wirbt das Unternehmen auf seiner
Homepage mit einer „24-Stunden-Betreuung“ bzw. „24-Stunden-Pflege“. Die
Seniocare24 nutzt mehrere rechtliche Lücken im Arbeitnehmer-Entsendegesetz
(AEntG) sowie in der Pflegearbeitsbedingungenverordnung (PflegeArbbV) aus:
Die Seniocare24 tritt im Dienstleistungsvertrag mit den Pflegebedürftigen aus-
drücklich nicht als Vertragspartner, sondern lediglich als Vermittler auf. Tatsäch-
lich fungiert die Seniocare24 aber als Ansprechpartner sowohl für den Auftrag-
geber als auch für die Pflegehilfskraft. Somit entzieht sich die Seniocare24
jeglicher arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Verantwortung. Aufgrund
fehlender Generalunternehmerhaftung kann die Agentur bei arbeits- und sozial-
versicherungsrechtlichen Verstößen auch nicht belangt werden.

Die Beratungsstelle für entsendete Beschäftigte des Deutschen Gewerkschafts-
bundes (DGB) Berlin-Brandenburg sowie die Dienstleistungswerkschaft ver.di
haben mehrere Beschwerden von polnischen und rumänischen Haushalts- /Pflege-
hilfskräften wegen des Verdachts des Verstoßes gegen deutsches Arbeits- und

Sozialrecht erhalten. Das Geschäftskonzept der 24-Stunden-Pflege beruht einzig
und allein in der Ausnutzung der wirtschaftlichen Zwangslage der mittel- und

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8193

osteuropäischen Haushalts-/Pflegehilfskräfte und der deutschen Familien und
ihren pflegebedürftigen Angehörigen. Gleichzeitig profitieren die Agenturen
von den rechtlichen Grauzonen im AEntG sowie mangelnden Kontrollen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Liegen der Bundesregierung Zahlen vor, wie viele mittel- und osteuro-
päische Pflegekräfte in Privathaushalten beschäftigt sind?

Welche Daten liegen der Bundesregierung zu mittel- und osteuropäischen
Pflegekräften in Privathaushalten vor?

2. Wie viele Unternehmen bieten ihre Dienste zur Vermittlung von Haushalts-/
Pflegehilfskräfte in Deutschland an?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich die derzeitige Haf-
tungskonstruktion nach § 14 AEntG nicht auf den Bereich der häuslichen
Pflege anwenden lässt, weil formell die für die Erteilung des Pflegeauf-
trages verantwortlichen deutschen Vermittlungsagenturen lediglich als
Vermittler auftreten, obwohl sie tatsächlich gegenüber der vermittelten
Haushalts-/Pflegehilfskraft bei arbeits- und sozialrechtlichen Belangen
Weisungen erteilt (bitte begründen)?

4. Trifft es zu, dass ein privater Haushalt ein Betrieb im Sinne der Pflege-
verordnung ist und der Mindestlohn somit auch bei Pflegetätigkeiten im
Haushalt anzuwenden ist (bitte begründen)?

5. Trifft es zu, dass es aufgrund fehlender Haftungsmöglichkeiten deutschen
Vermittlungsagenturen erleichtert wird, arbeits- und sozialrechtliche Rege-
lungen nach dem AEntG und der PflegeArbbV zu umgehen und so insbeson-
dere Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa nicht wirksam vor Missbrauch
ihrer Arbeitnehmer-/Arbeitnehmerinnenrechte geschützt werden können?

6. Gilt auch bei Haushalts-/Pflegehilfskräften im Rahmen der vollen Arbeit-
nehmerfreizügigkeit das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), und wenn ja, trifft es
zu, dass nach § 2 AEntG grundsätzlich die Arbeitszeit von acht Stunden, in
Ausnahmefällen von zehn Stunden Werktags, nach dem deutschen ArbZG
bei Haushalts-/Pflegehilfskräften in privaten Haushalten einzuhalten ist,
und wenn nein, welche Einschränkungen des § 18 ArbZG sind wirksam
(bitte begründen)?

7. Ist sich die Bundesregierung bewusst, dass durch das Vorlegen der Beschei-
nigung A 1, die in Deutschland geltenden arbeitsrechtlichen Vorschriften
faktisch ausgehebelt werden?

8. Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um die unzumutbare Situa-
tion ausländischer Pflegekräfte – wie sie dem DGB und den der Gewerk-
schaft ver.di in zahlreichen Beschwerdebriefen anschaulich geschildert
wird – abzuwenden und menschenwürdige Arbeitsverhältnisse herzu-
stellen?

9. Sind der Bundesregierung Geschäftsmodelle bekannt, die dem Beispiel der
Vermittlungsagentur Seniocare24 ähnlich sind, und wie bewertet sie aus
dieser Sicht die Einhaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen?

10. Prüft die Bundesregierung, ob derartig praktizierte Geschäftsmodelle, die
dem Beispiel der Vermittlungsagentur Seniocare24 ähnlich sind, einge-
schränkt oder verboten werden sollten?

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11. Haben die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), die gesetzliche Renten-
versicherung, die Gewerbe- und Finanzämter, die Bundesagentur für Arbeit
oder andere Behörden die Vermittlungsagentur Seniocare24 e. K. einer
Kontrolle unterzogen, und wenn ja, zu welchem Ergebnis sind sie dabei ge-
langt (bitte Art der Verstöße auflisten)?

12. Über welche Erkenntnisse verfügen die Bundesregierung bzw. die zustän-
digen Sozialversicherungsträger in Deutschland bzw. die Sozialversiche-
rungsträger in den betreffenden mittel- und osteuropäischen Staaten über
die Pflegedienstanbieter, die mit der Seniocare24 zusammenarbeiten, und
erbringen diese Unternehmen tatsächlich überwiegend Pflegeleistungen in
ihrem Heimatland, oder handelt es sich bei diesen Anbietern tatsächlich um
so genannte Briefkastenfirmen?

Wer und auf welchem Wege prüft dies?

13. Trifft es zu, dass eine Haushalts-/Pflegehilfskraft in einem deutschen Haus-
halt nach 24 Monaten durch die nächste Pflegehilfskraft nicht abgelöst
werden darf, und wenn ja, wie wird die Überprüfung dieser Regelung von
den zuständigen Prüfstellen gewährleistet?

14. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass über sogenannte Vermittlungs-
verträge, die Seniocare24 mit rund 40 ausländischen Pflegeagenturen ab-
geschlossen hat, circa 2 000 Haushalts- /Pflegehilfskräfte in Deutschland
gemeldet sind?

15. Mit welchen ausländischen Pflegeagenturen hat die Seniocare24 nach
Kenntnissen der Sozialversicherungsträger abgeschlossene Vermittlungs-
verträge, über die Haushalts-/Pflegehilfskräfte nach Deutschlands entsandt
werden?

16. Wie viele Entsendebescheinigung A 1 für Haushalts-/Pflegehilfskräfte
wurden von ausländischen Pflegeagenturen, die mit der Seniocare24 ein
Vertragsverhältnis unterhalten, nach Kenntnis der Deutschen Rentenver-
sicherung Bund seit 2009 ausgestellt (bitte nach Ländern aufschlüsseln)?

17. Hat die FKS seit Bestehen des Pflegemindestlohns ausgewiesene Vermitt-
lungsagenturen kontrolliert, und wenn ja, wie viele, und welche arbeits- und
sozialrechtlichen Verstöße wurden festgestellt (bitte Zahl und Art der Ver-
stöße getrennt auflisten)?

18. Wenn bei deutschen Vermittlungsagenturen keine Lohn- und Gehaltsunter-
lagen der vermittelten Haushalts- und Pflegekräfte vorliegen, wie wird von
Seiten der FKS die Einhaltung deutscher Arbeits- und Sozialvorschriften
kontrolliert?

19. Trifft es zu, dass die FKS, wegen der verfassungsrechtlich geschützten
Unverletzlichkeit der Wohnung, private Haushalte nur mit Einverständnis
des Berechtigten, zur Durchführung einer Prüfung nach dem Schwarzar-
beitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG) betreten darf, und teilt die Bun-
desregierung die Auffassung, dass dadurch eine lückenlose Überprüfung
der Einhaltung des geltenden Arbeits- und Sozialrechts innerhalb der Haus-
halte, etwa durch Befragung der Beschäftigten, kaum möglich ist?

20. Wie viele private Haushalte hat die FKS mit Billigung des Berechtigten im
vergangenen Jahr kontrolliert, und wie viele arbeits- und sozialrechtliche
Verstöße wurden festgestellt?

21. Prüft die FKS bei Hinweisen einer „24-Stunden-Pflege“ bzw. einer „Rund
um die Uhr-24-h-Betreuung“, die Einhaltung der Obergrenze von 300
Arbeitsstunden nach § 3 der PflegeArbbV anhand der tatsächlich geleiste-

ten Stundenzahl?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8193

22. Trifft es zu, dass die FKS die Prüfung von Pflegeunternehmen lediglich
anhand der Geschäftsunterlagen vornimmt und auf die Befragung der Be-
schäftigten verzichtet und somit eine lückenlose Aufklärung gegen arbeits-
und sozialrechtliche Verstöße nicht möglich ist?

Berlin, den 14. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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