BT-Drucksache 17/7774

Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans

Vom 22. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7774
17. Wahlperiode 22. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, Uwe Kekeritz, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel,
Kai Gehring, Thilo Hoppe, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak,
Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg),
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen
Balkans

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag bekräftigt die Zusage der EU-Beitrittsperspektive für
alle Staaten des westlichen Balkans durch den EU-Gipfel von Thessaloniki aus
dem Jahr 2003. Er ist der Auffassung, dass die multiethnischen Staaten des West-
balkans mit ihren verschiedenen Religionen und einem großen muslimischen
Bevölkerungsanteil zur Europäischen Union gehören. Ohne sie bleibt die Euro-
päische Union als historische Errungenschaft unvollendet. Zu begrüßen ist der
Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und die Vorschläge der Euro-
päischen Kommission, Beitrittsverhandlungen mit Montenegro aufzunehmen
und Serbien zum Kandidaten zu erklären, wenn Serbien den Dialog mit dem
Kosovo wieder aufgenommen hat. Der Bundestag bekennt sich zum demokrati-
schen Prinzip des multiethnischen Staates mit gleichen Rechten für alle Bürge-
rinnen und Bürger ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Abstammung und
Zugehörigkeit. Mögliche Grenzverschiebungen zur Herstellung ethnischer
Homogenität laufen dem Prinzip der demokratischen Gesellschaft zuwider. Sie
bergen zudem das unüberschaubare Risiko in sich, in einer Kettenreaktion
schwere Krisen in den unvollendeten Staaten des Westbalkans hervorzurufen.
Der Bundestag bekräftigt, dass es keine Grenzverschiebungen auf dem West-
balkan geben kann.

Der Bundestag sieht die Gefahr, dass bilaterale Konflikte europäisiert werden
können und dass dies ein großes Risiko für die Funktionsfähigkeit der EU und
für die europäische Sicherheit darstellt. Vorbedingung für den angestrebten EU-
Beitritt aller Staaten des Westbalkans ist, dass mit Abschluss der Verhandlun-
gen alle bilateralen Konflikte gelöst oder mindestens einer Lösung zugeführt
sind. Eine völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo durch Serbien ist hierfür
ebenso unumgänglich wie ein konstruktives Engagement Serbiens für den Auf-

bau funktionierender Staatlichkeit in Bosnien und Herzegowina. Entsprechende
politische Entscheidungen in Serbien sind deshalb Voraussetzung für einen er-
folgreichen Beitrittsprozess in der gesamten Region. Mit der Auslieferung
Ratko Mladics und Goran Hadzics an den internationalen Gerichtshof in Den
Haag hat Serbien bewiesen, dass es zur Erfüllung der Bedingungen für eine
Annäherung an die Europäische Union bereit ist. Auch der Beschluss des ser-

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bischen Parlaments, mit dem dieses die serbische Verantwortung für Kriegsver-
brechen in den 90er-Jahren anerkannte, ist ein Zeichen dafür. Gleichwohl sind
der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Zerfall Jugoslawiens und die
wirtschaftliche Transformation langwierige Vorgänge, die nach wie vor erheb-
liche Anstrengungen für die serbische Gesellschaft bedeuten.

Nach dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien
hat sich der Europäische Rat auf neue Grundsätze bei der Erweiterung der Euro-
päischen Union geeinigt. Danach bestimmen die Ergebnisse der Reformen das
individuelle Tempo des Beitrittsprozesses in einem Land. Ein Beitrittstermin
wird erst festgelegt, wenn die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss stehen.
Mit dem Beitritt müssen die Kopenhagener Kriterien vollständig erfüllt sein. Die
Europäische Kommission überprüft dabei nicht nur die Umsetzung, sondern
auch die Implementierung der Reformen. Schwierige Fragen, wie die Reform
der Verwaltung und Justiz sowie die Bekämpfung der Korruption, sollen früh-
zeitig behandelt werden. Diese Grundsätze und eine strikte Konditionalität in
allen Phasen der Verhandlungen sind Grundlage für erfolgreiche Beitrittsver-
handlungen.

Jedoch birgt die unterschiedliche Dynamik in der Annäherung das Risiko, die
bestehenden Spannungen in der Region weiter zu verschärfen. Der Bundestag
erachtet es daher für notwendig, dass eine Strategie für den Beitrittsprozess ent-
wickelt wird, die neben der strikten Einhaltung der Kriterien das Ziel von Bei-
tritten der Staaten des Westbalkans verfolgt, die möglichst zeitnah zueinander
statt finden. Hierfür ist eine aktive Politik der EU nötig, die die Ungleichzeitig-
keiten der Länder bei der Annäherung an die EU auffängt und zu kompensieren
sucht und regionale Zusammenarbeit und Kooperation fördert. Die EU muss
außerdem Konzepte für Übergangsregelungen (Transitional Agreements) ent-
wickeln, die vermeiden, dass durch unterschiedlich schnelle Beitrittsprozesse
bestehende Verbindungen und Kooperationen auf dem Balkan zerschnitten
werden.

Der Bundestag begreift den guten Zustand der Umwelt als einen wichtigen
Bereich, in dem Korruption, wie auch in anderen Bereichen, eine große Rolle
spielt. Korruption und Raubbau an der Natur oder Umweltverschmutzung sind
oft sehr eng miteinander verbunden. Gerade in den Beitrittsprozessen auf dem
Westbalkan muss die EU diesen verwobenen Themenkomplex berücksichtigen.
Engagement in Bezug auf Natur und natürliche Ressourcen ist auch eine Frage
der Selbstbehauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung in künftigen
EU-Staaten.

Der Bundestag hält es für dringend geboten, dass die Unabhängigkeit des
Kosovo durch alle Staaten der EU anerkannt wird. Dies ist die Voraussetzung,
um die Blockaden für den Staatsaufbau des Kosovo zu beseitigen und eine Bei-
trittsperspektive entwickeln zu können. Eine völkerrechtlich eindeutige Haltung
der EU zum Kosovo ermöglicht den angestrebten Abschluss eines Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommens und die Abschaffung der Visumspflicht
für den Schengen-Raum.

Der Bundestag ist sich der historischen Verantwortung der EU für die Überwin-
dung der unvollendeten Verfasstheit von Bosnien und Herzegowina auf Grund-
lage des Daytoner Friedensvertrages bewusst. Mit den erheblichen Spannungen
innerhalb des multiethnischen Staates ist das Land von herausragender Bedeu-
tung für die Stabilität in der gesamten Region. Das Bemühen um eine Reform
des bosnischen Staatswesens zur Herstellung funktionierender Staatlichkeit
stellt deshalb einen wichtigen Pfeiler der zu entwickelnden EU-Strategie dar.
Die Verabschiedung einer Verfassung nach demokratischen Grundsätzen und
im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ist zudem für

die weitere Annäherung des Landes an die EU unerlässlich.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7774

Der Bundestag mahnt Griechenland und Mazedonien nachdrücklich, in ihrem
Namensstreit eine Einigung zu finden und so die langjährige Blockade der
europäischen Integration Mazedoniens aufzulösen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– auf die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten des Westbalkans in ihren
bestehenden Grenzen durch alle EU-Mitgliedstaaten zu drängen;

– nach Anerkennung des Kosovo durch alle EU-Mitgliedstaaten sich für einen
raschen Abschluss eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens und
die Abschaffung der Visumspflicht für das Kosovo einzusetzen;

– sich im Rahmen der EU für eine Westbalkanstrategie einzusetzen, die im
Beitrittsprozess kein Land der Region zurücklässt und sich deshalb für die
verspäteten Länder und die Lösungen ihrer politischen Blockaden in beson-
derem Maße engagiert;

– sich für die Unveränderlichkeit der gegenwärtigen staatlichen Grenzen als
Grundlage der Westbalkanstrategie der EU einzusetzen;

– auf die vollständige Erfüllung der Kopenhagener Kriterien im Beitrittspro-
zess der Staaten des Westbalkans zu drängen;

– sich für eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der
Minderheiten und insbesondere der Roma einzusetzen und auf die Ausarbei-
tung nationaler Strategien zur Integration der Roma zu drängen;

– sich um eine gute und offene Zusammenarbeit aller Staaten des Westbalkans
mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien zu bemühen;

– nachdrücklich an der Lösung zwischenstaatlicher Konflikte und gutnach-
barschaftliche Beziehungen als Beitrittskriterium der EU festzuhalten, ein-
schließlich der völkerrechtlichen Anerkennung aller anderen Staaten der
Region in ihren bestehenden Grenzen sowie der Unterlassung jeglicher
Handlungen, die den Aufbau funktionierender Staatsstrukturen in den Nach-
barländern behindert, sowie einer aktiven regionalen Kooperation in den
Bereichen Wirtschaft, Kultur, Verkehr, Handel, Energie und Umwelt;

– den Ausschluss von Blockademöglichkeiten des EU-Beitritts verspäteter
Staaten des Westbalkans durch bereits beigetretene Staaten durchzusetzen.

Berlin, den 21. November 2011

Renate Künast, JürgenTrittin und Fraktion

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