BT-Drucksache 17/7643

Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden - Die Bundesländer in die Pflicht nehmen

Vom 9. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7643
17. Wahlperiode 09. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Jan Korte, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald,
Sevim Dag˘delen, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jutta
Krellmann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Raju
Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern anwenden – Die
Bundesländer in die Pflicht nehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die UN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangige Berücksichtigung des
Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und
Status des Kindes. Das deutsche Aufenthalts-, Asylbewerberleistungs- und
Asylverfahrensrecht entspricht nicht den Anforderungen der UN-Kinderrechts-
konvention. Um die Lage insbesondere von Flüchtlingskindern in Deutschland
konkret und schnellstmöglich zu verbessern, müssen das nationale Recht und
die rechtlichen Bestimmungen und Praktiken in den Bundesländern den Anfor-
derungen der UN-Kinderrechtskonvention angepasst werden. Nach der Rück-
nahme der ausländerrechtlichen Vorbehaltserklärung gegenüber der UN-Kin-
derrechtskonvention gilt dies umso mehr.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. gegenüber den Bundesländern auf eine Anpassung der Landesgesetze und
der praktischen Abläufe an die Erfordernisse der Konvention zu drängen und
mit den Bundesländern ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der überwie-
gend in Landeskompetenz liegenden Themenbereiche anzustreben, unter an-
derem, um den Schulbesuch aller in Deutschland lebenden Kinder unabhän-
gig vom Aufenthaltsstatus sicherzustellen und um eine einheitliche und
kindgerechte Umsetzung des § 42 des Achten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VIII) zu erreichen (Vorrang jugendhilferechtlicher vor aufenthalts-
rechtlichen Bestimmungen, Clearing-Verfahren usw.);

2. unverzüglich die notwendigen gesetzgeberischen Initiativen zur Anpassung
der asyl-, asylbewerberleistungs- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen

an die Erfordernisse der UN-Kinderrechtskonvention zu ergreifen, zum Bei-
spiel:

– ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kin-
deswohls im Asylverfahrens-, Asylbewerberleistungs- und Aufenthalts-
gesetz;

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– Abschaffung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen so genannten Verfah-
rensmündigkeit bereits ab 16 Jahren, sorgfältige und kindgerechte Alters-
feststellungen unter Verzicht auf zweifelhafte Röntgenuntersuchungen,
effektive Berücksichtigung kinderspezifischer Verfolgungsgründe im
Asylverfahren und Anhörung von Flüchtlingskindern bis 18 Jahre nur
durch besonders geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge und in Anwesenheit der Vormünder;

– Verbot der Inhaftierung minderjähriger Flüchtlinge in Abschiebungs- und
Zurückweisungsverfahren, Verzicht auf Flughafenverfahren und direkte
Grenzabweisungen, damit Clearingverfahren bei unbegleiteten minder-
jährigen Asylsuchenden durchgeführt werden können; Verbot der Ab-
schiebung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge;

– keine Zuweisung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Fa-
milien mit Kindern in Massenunterkünfte; Sicherstellung einer kind-
gerechten Unterbringung und optimalen sozialen und medizinischen Ver-
sorgung von Flüchtlingskindern, d. h. nicht nach den diskriminierenden
Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes.

3. sich in den Gremien der Europäischen Union für eine dem Sinn und Zweck
der UN-Kinderrechtskonvention dienende Politik einzusetzen; insbesondere
durchzusetzen, dass Minderjährige nicht an den Außengrenzen der EU oder
auf Hoher See abgewiesen oder inhaftiert werden, wie es z. B. bei Einsätzen
der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX geschieht.

Berlin, den 9. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Den staatlichen Umgang mit Flüchtlingskindern in Deutschland bestimmt nach
wie vor nicht die Sorge um die bestmöglichen Entwicklungschancen der Kinder,
sondern ein von Misstrauen geprägtes nationalstaatliches Abwehrdenken mit
dem Ziel, unerwünschte Einwanderung und Zuflucht möglichst effektiv zu ver-
hindern. Die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls ist in keinem der
asyl- oder aufenthaltsrechtlich relevanten Gesetze ausdrücklich verankert, so
dass Flüchtlingskinder – auch unbegleitete – häufig denselben restriktiven Be-
stimmungen unterliegen wie erwachsene Flüchtlinge.

Problematisch ist insbesondere, dass Kinder im deutschen Asyl- und Aufent-
haltsrecht bereits ab 16 Jahren als „verfahrensmündig“ gelten und deshalb for-
malrechtlich wie Erwachsene behandelt werden – was eine Überforderung der
Kinder darstellt und im deutschen Rechtssystem einmalig sein dürfte. Damit
sind Kinder einem Asylverfahrensrecht ausgesetzt, dem es tendenziell nicht um
die Suche nach einer möglichst sorgfältigen, sondern vor allem schnellen Ent-
scheidung geht. Asylsuchende Kinder werden wie Erwachsene im Interesse
einer reibungslosen Durchsetzung einer möglichen späteren Abschiebung in
ihrer Freiheit eingeschränkt oder sogar ihrer Freiheit beraubt (Flughafenverfah-
ren, Inhaftierungen zur Feststellung des zuständigen EU-Staates, Abschiebungs-
haft, Residenzpflicht). Ihre Lebens- und Unterbringungsbedingungen sind von
einer Politik der Abschreckung geprägt, d. h. diese sind bewusst so ausgestaltet,
dass sie keinen „Anreiz“ zur Einreise bieten sollen (Zwangsunterbringung in

Massenunterkünften, gekürzte Sozialhilfesätze, Sachleistungsprinzip, einge-
schränkte medizinische Versorgung usw.). In die körperliche Unversehrtheit von

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7643

Kindern wird zur Feststellung ihres Alters mittels umstrittener Röntgenuntersu-
chungen eingegriffen, weil deren Altersangaben regelmäßig infrage gestellt
werden.

Es ist offenkundig, dass diese Prinzipien der bundesdeutschen Asylpolitik nicht
mit dem Grundanliegen sowie den Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonven-
tion vereinbar sind. Betroffen sind etwa die Artikel 2 (keine Diskriminierung
von Teilgruppen), 3 (Vorrang des Kindeswohls), 24 (Recht des Kindes auf das
erreichbare Höchstmaß an Gesundheit) und 27 (Recht auf angemessenen Le-
bensstandard). Regelungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, die diesen Regelun-
gen widersprechen, müssen geändert werden. Dies gilt auch vor dem Hinter-
grund entsprechender Bestimmungen zur vorrangigen Beachtung des Kindes-
wohls in den asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union. Ebenfalls
notwendig ist eine entsprechende Umsetzung der Regelung des § 42 des Achten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII), um einen Vorrang jugendhilferechtlicher
vor aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu erreichen. Bei minderjährigen un-
begleiteten Flüchtlingen müssen sofort die Jugendämter eingeschaltet werden,
ländereinheitlich ist die Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen statt in
Massenunterkünften sicherzustellen. Sorgfältige Clearingverfahren müssen am
Anfang eines behördlichen Verfahrens stehen, eine regelmäßige psychothera-
peutische Erstbetreuung ist vorzusehen, Einzel- und Vereinsvormundschaften
sind gegenüber Amtsvormundschaften eindeutig zu fördern.

Die Gründe von Flucht sind vielfältig und müssen allumfassend entsprechend
beachtet werden. Manche Jugendliche fliehen beispielsweise aus ihren Her-
kunftsländer aufgrund patriarchaler Strafgesetze, die z. B. Steinigung bei Ehe-
bruch vorsehen oder wegen einer drohenden oder erlittenen Verfolgung aufgrund
ihrer sexuellen Identität. Homosexuelle Jugendliche, die wegen Verfolgung von
Homosexualität fliehen, haben erhebliche juristische Probleme, ihren Asylan-
spruch nachzuweisen, da nicht die sexuelle Identität als Asylgrund anerkannt
wird, sondern sie im Einzelfall nachweisen müssen, dass ihre sexuelle Prägung
zu einer „entsprechende Betätigung“ führt, die dann den staatlichen Verfolgungs-
behörden bekannt werden würde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1722, S. 7/8).
Jugendliche, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität fliehen,
benötigen eine besondere juristische und psychologische Betreuung.

Die Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) er-
klärte am 5. Mai 2010 im Deutschen Bundestag, nach der Rücknahme der auf-
enthaltsrechtlichen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention gebe
es „auf Bundesebene […] keinen Gesetzgebungsbedarf“ (Plenarprotokoll 17/39,
S. 3747). Ihre Kollegin Sibylle Laurischk (FDP), Vorsitzende des Ausschusses
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages hatte im
Widerspruch hierzu nur wenige Monate zuvor im Deutschen Bundestag – unter
Beifall von Abgeordneten aller Fraktionen – betont: „Es kann und darf nicht
sein, dass Flüchtlingskinder ab 16 Jahren im Asylverfahren wie Erwachsene be-
handelt und keinen juristischen Beistand bekommen. Es kann und darf nicht
sein, dass ihre Asylanträge abgelehnt werden, weil ihr Schicksal angeblich keine
politische Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts darstellt. Es kann und
darf nicht sein, dass diese Kinder und Jugendliche in Abschiebehaft geraten kön-
nen. Schließlich kann und darf es nicht sein, dass sie beim Schulbesuch, bei der
medizinischen Versorgung oder bei den Ausbildungsmöglichkeiten schlechter
als deutsche Kinder gestellt sind. Dass all diese Szenarien nach jetziger Rechts-
lage in Deutschland denkbar sind, ist ein inakzeptabler Missstand“ (Plenar-
protokoll 17/7 vom 26. November 2009, S. 502). Und auch der von der Fraktion
der FDP als Sachverständiger für eine Anhörung des Innenausschusses des
Deutschen Bundestages benannte Leiter der Stabsstelle des FDP-Integrations-
beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg, Christian Storr, forderte

gesetzliche Änderungen infolge der Rücknahme des Vorbehalts (vgl. Aus-
schussdrucksache 17(4)100G, z. B. S. 9).

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Die Position der Bundesregierung bzw. der Bundesministerin der Justiz, wonach
angeblich keine Änderungen im Aufenthalts-, Asylbewerberleistungs- und
Asylrecht erforderlich seien, um die UN-Kinderrechtskonvention wirksam um-
zusetzen, ist offenkundig eine Schutzbehauptung, die die Bundesregierung
womöglich im Gegenzug zur Zustimmung der Bundesländer zur Rücknahme
der Vorbehaltserklärung abgibt.

Auf den Gesetzgebungsbedarf auf Bundesebene weisen auch alle fachkundigen
Verbände und Institutionen hin, z. B. das Deutsche Institut für Menschenrechte
e. V. („Die UN-Kinderrechtskonvention. Geltung an Anwendbarkeit in Deutsch-
land nach der Rücknahme der Vorbehalte“, Juni 2011), der Deutsche Caritasver-
band e. V. („Kinderrechte für alle! Handlungsbedarf nach der Rücknahme der
ausländerrechtlichen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention“,
12. Juli 2010), Förderverein PRO ASYL e. V. (Presseerklärung vom 4. April
2011) oder auch – in Bezug auf die Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen
zur Sicherung einer Abschiebung – der Kommissar für Menschenrechte des
Europarats, Thomas Hammarberg (Mitteilung vom 8. Februar 2011). Zuletzt be-
klagten in einem Positionspapier im Rahmen der Kampagne „Jetzt erst Recht(e)
für Flüchtlingskinder“, das auch als Petition an den Deutschen Bundestag ge-
richtet und von fast 40 000 Menschen unterstützt wurde, über 40 Menschen-
rechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Nichtregierungsorganisationen
die mangelhafte Umsetzung und ungenügende rechtliche Verankerung der UN-
Kinderrechtskonvention in Deutschland. Zu den Forderungen der Kampagne
gehören unter anderem die Sicherstellung einer kindgerechten Inobhutnahme
unbegleiteter Minderjähriger außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen, ein
Asylverfahren, das dem Alter, der Herkunft und dem Entwicklungsstand der
Kinder angepasst ist (vorgelagertes Clearingverfahren), die Rücknahme der ge-
setzgeberischen Annahme einer Verfahrens- bzw. „Asylmündigkeit“ bereits ab
16 Jahren, ein absolutes Verbot der Inhaftierung Minderjähriger und die expli-
zite Berücksichtigung des Kindeswohls bei Abschiebungen.

Daher ist es dringend geboten, Änderungen im deutschen Aufenthalts-, Asylver-
fahrens- und Sozialrecht sowie der praktischen Abläufe an die Erfordernisse der
UN-Kinderrechtskonvention vorzunehmen und mit den Bundesländern ein ge-
meinsames Vorgehen hinsichtlich der überwiegend in Landeskompetenz liegen-
den Themenbereiche anzustreben.

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