BT-Drucksache 17/7386

Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen

Vom 19. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7386
17. Wahlperiode 19. 10. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst,
Katja Kipping, Ulla Lötzer, Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Petra Pau,
Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Raju Sharma, Frank Tempel, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Minijobs sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Mehr als 80 Prozent von
ihnen werden unterhalb der Niedriglohngrenze entlohnt. Beschäftigte mit einem
Minijob, offiziell geringfügig Beschäftigte genannt, sind völlig unzureichend
sozial abgesichert. Sie entrichten keine eigenständigen Beiträge in die sozialen
Sicherungssysteme und erwerben auch keine nennenswerten Ansprüche.

Vor diesem Hintergrund ist die rasant gestiegene Zahl der Minijobs ein großes
Problem für die Betroffenen und für den Arbeitsmarkt. Fast 5 Millionen Be-
schäftigte müssen sich mittlerweile – zumeist unfreiwillig – mit einem Minijob
begnügen, der ihre Existenz nicht sichert. Weitere 2,5 Millionen üben einen
Minijob als Nebentätigkeit aus, um ihre zu niedrigen Einkommen aus dem
Haupterwerb aufzustocken. Da Minijobs sozialversicherungspflichtige Arbeits-
plätze verdrängen, wird es immer schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden, der
anständig entlohnt wird und von dem man leben kann.

Minijobs tragen in erheblichem Maße zur geschlechtsspezifischen Spaltung des
Arbeitsmarktes bei. Zwei von drei Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Sie
können ihre Existenz mit einer solchen Beschäftigung nicht sichern. Minijobs
bieten zudem kaum berufliche Perspektiven und keine eigenständige Absiche-
rung gegen allgemeine Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit und gegen das Alter.
Geringfügig Beschäftigte, also in der Mehrheit Frauen, sind aufgrund der völlig
unzureichenden sozialen Absicherung in besonders hohem Maße von Altersar-
mut bedroht.

Minijobberinnen und Minijobber sind auch im Arbeitsalltag häufig benachtei-
ligt. Obwohl das Arbeitsrecht auch für geringfügig Beschäftigte gilt, wird es oft
missachtet. Das betrifft nicht nur die Gleichbehandlung bei der Entlohnung. Ge-

ringfügig Beschäftigte erhalten häufig keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
oder keinen bezahlten Urlaub. Sie werden auch nur in geringem Umfang in Wei-
terbildungsmaßnahmen einbezogen. Das bestehende Diskriminierungsverbot
gegenüber Teilzeitbeschäftigten wird in der Praxis unterlaufen. Hierdurch schaf-
fen sich die Arbeitgeber zu Lasten der Beschäftigten immense Kostenvorteile
gegenüber regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.

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Minijobs sind keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Nur ein Drittel der
geringfügig Beschäftigten erlangen ein sozialversicherungspflichtiges Arbeits-
verhältnis. Die große Mehrheit bleibt in der prekären Beschäftigung gefangen.
Minijobs sind keine Zwischenbeschäftigung. Sechs von zehn Minijobs dauern
länger als ein Jahr, vier von zehn sogar länger als zwei Jahre.

Viele Frauen wollen eigentlich gar keinen Minijob. Zwei Drittel aller geringfügig
beschäftigten Frauen würden gerne länger arbeiten, im Durchschnitt rund dop-
pelt so lange. Geringfügige Beschäftigung ist daher mangels Alternativen vor
allem erzwungene Teilzeitarbeit.

Nicht zuletzt höhlen Minijobs die sozialen Sicherungssysteme aus, da die abge-
führten Beiträge niedriger als bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäf-
tigung sind. In dem Maße wie reguläre Arbeitsverhältnisse durch Minijobs ver-
drängt werden, verringern sich die Einnahmen der Sozialsysteme. Wären
Minijobs in vollem Umfang sozialversicherungspflichtig, würde die Einnahme-
basis verbessert.

All dies zeigt: Ein arbeitsmarktpolitischer Kurswechsel ist notwendig. Die Fehl-
entscheidungen der Liberalisierung der geringfügigen Beschäftigung durch
Hartz II im Jahr 2003 und davor müssen korrigiert werden. Sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung muss gestärkt werden.

Geringfügige Beschäftigung ist ebenso wie die Beschäftigung in der Gleitzone
der regulär sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichzustellen. Die
Privilegierung von Mini- und Midijobs wirkt sich negativ auf den Arbeitsmarkt
aus. Eine Gleichstellung von Mini- und Midijobs ist zudem ein wichtiger Schritt
auf dem Weg zur Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten kennen mehrheitlich keine ver-
gleichbaren Abweichungen von einer allgemeinen Sozialversicherungspflicht
wie in Deutschland. Die Überleitung von geringfügiger in sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung ist deshalb wichtig für ein sozial einheitliches Europa.
Beachtenswert ist die Gegenwehr in Slowenien. Dort haben sich im April 2011
in einer Volksabstimmung 80 Prozent der Beteiligten gegen eine Einführung von
Minijobs nach deutschem Vorbild ausgesprochen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die folgenden Eckpunkte umge-
setzt werden:

1. Abhängige Beschäftigung unterliegt ab dem ersten Euro Entgelt der So-
zialversicherungspflicht.

2. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird eingeführt.

3. Die öffentlichen, vor allem die sozialen Dienstleistungen werden ausge-
baut, um neue regulär sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
hältnisse zu schaffen.

4. Es ist ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft zu erarbeiten, das
die Betriebe so lange auf Maßnahmen zur Gleichstellung verpflichtet, bis
das Ziel der gleichen Entlohnung von Frauen und Männern erreicht ist;

b) Initiativen zu ergreifen, mit denen die betroffenen Beschäftigten über ihre
Rechte aufgeklärt und ermutigt werden, deren Einhaltung einzufordern. Dies
erfordert zwingend die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zu stärken.

Berlin, den 19. Oktober 2011
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7386

Begründung

Allgemein

Gab es im Juni 2003 schon 5,5 Millionen Minijobs, waren es im Dezember 2010
bereits 7,4 Millionen. Davon sind 4,9 Millionen ausschließliche Minijobs. Der
Rest wird als Nebenbeschäftigung ausgeübt. Der Anteil der geringfügigen
Beschäftigung (Minijobs) an allen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen ist um 
2 Prozent im Jahr 1991 auf 47 Prozent im Jahr 2010 gestiegen. Diese Entwick- 
lung ist dramatisch angesichts der niedrigen Löhne und der mangelnden sozialen
Absicherung.

Minijobs finden sich vor allem im Dienstleistungsbereich. Typische Branchen
sind der Einzelhandel oder das Gastgewerbe. In der Gastronomie ist inzwischen
jeder zweite Arbeitsplatz ein Minijob, im Einzelhandel jeder Dritte. Auch im
Gesundheits- und Sozialwesen gibt es viele Minijobs. Ebenso im Bereich der
Ordnungs- und Sicherheitsberufe und der Gebäudereinigung.

Die geringfügige Beschäftigung ist in der derzeitigen Form aus vielerlei Grün-
den abzulehnen:

● Minijobs unterliegen nicht der vollen Sozialversicherungspflicht. Für einen
Minijob entrichtet der Arbeitgeber lediglich Pauschalbeiträge für die Renten-
und Krankenversicherung, aus denen sich für die Minijobberinnen und Mini-
jobber allerdings keine nennenswerten Ansprüche ableiten lassen.

● Geringfügige Beschäftigung ist in erster Linie Niedriglohnbeschäftigung.
Mehr als vier von fünf Minijobberinnen und Minijobber bekommen Stunden-
löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle von 9,85 Euro in der Stunde. Das
zeigt: die formal arbeitnehmerorientierten Subventionen dieser Beschäf-
tigungsform (die Sozialversicherungspauschalen sind niedriger als die üb-
lichen Sozialversicherungsbeiträge) werden über niedrige Löhne an die
Arbeitgeber weitergegeben.

● Um ihre Kosten zu senken, ersetzen Arbeitgeber reguläre sozialversiche-
rungspflichtige Arbeitsverhältnisse durch Minijobs.

● Rund ein Drittel der Minijobs erfolgen als Nebenbeschäftigung zu einem
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis – oft weil der Lohn dieses
Arbeitsverhältnisses nicht zum Leben reicht. Die richtige Antwort auf dieses
Problem sind armutsfeste Löhne, nicht die sozialversicherungs- und steuer-
rechtliche Privilegierung der geringfügigen Nebenbeschäftigung.

● Minijobs leisten einen wesentlichen Beitrag zur geschlechtsspezifischen Seg-
mentierung des Arbeitsmarktes. Bei den Frauen stehen einer geringfügigen
Beschäftigung lediglich drei sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ge-
genüber, bei den Männern immerhin noch sechs. Minijobs sichern weder die
Existenz noch sichern sie eigenständig gegen das Lebensrisiko Arbeitslosig-
keit und das Alter ab. Durch die Privilegierung geringfügiger Beschäftigung
wird ein überholtes Familienmodell mit dem Mann als Ernährer und der Frau
als Zuverdienerin gefördert.

Für eine Gleichstellung von geringfügiger und regulärer Beschäftigung spre-
chen sich mittlerweile viele Verbände und Organisationen aus. Die Gewerk-
schaften fordern neue Regeln für die geringfügige Beschäftigung. Der Deutsche
Frauenrat will die Geringfügigkeitsgrenze abschaffen und eine „Sozialversiche-
rungspflicht ab dem ersten Euro“ einführen. Die ökonomische Eigenständigkeit
der Frau setzt eine Abkehr vom (weiblichen) Hinzuverdienermodell voraus,
welches das (männliche) Haupteinkommen ergänzt. Auch der 68. Deutsche
Juristentag empfiehlt die „abgabenrechtliche Privilegierung der geringfügigen

Beschäftigung“ aufzugeben. Die Sachverständigenkommission zum Ersten

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Gleichstellungsbericht der Bundesregierung fordert die Minijobs abzuschaffen,
weil diese sich in der Lebensverlaufsperspektive häufig als Sackgasse erweisen.

Neben den im Antrag genannten Forderungen ist es dringend notwendig, wei-
tere Maßnahmen zu ergreifen, welche die Gleichstellung von Frauen in der Pri-
vatwirtschaft zum Ziel haben. Hierzu gehört u. a. die Rahmenbedingungen für
eine mögliche Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen sicherzustellen, insbeson-
dere durch einen Rechtsanspruch eines jeden Kindes auf eine beitragsfreie,
hochwertige und ganztätige Betreuung, durch einen individuellen, nicht über-
tragbaren Elterngeldanspruch von zwölf Monaten sowie durch die Abschaffung
des Ehegattensplittings, da dieses einen steuerlichen Anreiz für das Hinzuver-
dienermodell darstellt. Die Tarifvertragsparteien sind auf den Abbau diskrimi-
nierender Entgeltsysteme zu verpflichten, der Entgeltgleichheitsgrundsatz ist im
Tarifvertragsgesetz zu verankern. Nicht zuletzt sind die individuellen und kol-
lektiven Klagemöglichkeiten bei direkter und indirekter Lohndiskriminierung
zu verbessern.

Zu den Forderungen im Einzelnen

Zu Buchstabe a

Zu Nummer 1

Eine Durchsetzung der vollen Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro
schließt verschiedene Modelle der indirekten Subventionierung etwa in Form
progressiver Sozialbeiträge aus. Solche staatlich subventionierten Kombilohn-
modelle würden die Arbeitgeber ermuntern, den Beschäftigten Lohnbestandteile
vorzuenthalten und den Niedriglohnsektor fördern.

In der Wissenschaft wurde dagegen ein Vorschlag entwickelt, wie ein „Einstieg“
in die Sozialversicherungspflicht von geringfügiger Beschäftigung gestaltet
werden könnte, der statt einer abrupten Einführung der Sozialversicherungs-
pflicht einen schrittweisen Übergang von den bisherigen Regelungen zu einer
vollständigen Gleichstellung ermöglicht. Diesem Vorschlag entsprechend sollen
für jede Stunde Arbeit die vollen Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden.
Bis zu einer bestimmten Verdiensthöhe von beispielsweise 100 Euro würden die
Arbeitgeber den vollen Beitrag zur Sozialversicherung in Höhe von 42 Prozent
tragen. Bei steigenden Verdiensten würden die Beschäftigten schrittweise an den
Sozialversicherungsbeiträgen beteiligt bei sinkenden Abgaben für die Arbeitge-
ber. Ab 800 Euro Verdienst würden die Sozialversicherungsbeiträge paritätisch
von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert (vgl. Weinkopf 2011: Hand-
lungsoptionen im Bereich der Minijobs – eine „erweiterte“ Gleitzone als „Ein-
stieg in den Ausstieg“?). Dieser Ansatz führt dazu, dass die Beschäftigten ihrem
Einkommen entsprechende Ansprüche auf Sozialleistungen erwerben. Er macht
deutlich, dass die sogenannten Lohnnebenkosten Bestandteile des (Brutto-)Lohns
sind, die der Arbeitgeber den Beschäftigten zahlt und die nur formell paritätisch
erbracht werden. Entscheidend ist zudem, dass damit den Arbeitgebern der
finanzielle Anreiz genommen würde, geringfügige Beschäftigung zu schaffen,
da die Summe der Sozialabgaben durchgängig bei 42 Prozent liegt.

Zu Nummer 2

Da es sich bei der geringfügigen Beschäftigung überwiegend um Niedriglohn-
beschäftigung handelt, ist es unbedingt erforderlich, einen gesetzlichen Min-
destlohn einzuführen. Ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde den Lohn
von 70 Prozent der geringfügig Beschäftigten erhöhen. Mit dem Mindestlohn
wird allerdings nur eine untere Grenze für die Entlohnung festgeschrieben. Das
Gebot ist auch hier: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

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Zu Nummer 3

Wenn durch die Verringerung der Attraktivität von Minijobs für die Arbeitgeber
zukünftig weniger Minijobs und stattdessen mehr Arbeitsplätze mit einer länge-
ren Arbeitszeit angeboten werden, verringert sich bei gleichbleibendem Arbeits-
volumen die Anzahl von Arbeitsplätzen. Um dies zu kompensieren, ist dringend
ein Ausbau von öffentlichen, und vor allem sozialen, Dienstleistungen notwen-
dig. Hier besteht in vielen Bereichen ein gesellschaftlicher Bedarf.

Zu Buchstabe b

Um das Gleichbehandlungsgebot praktisch durchzusetzen, sind eine Reihe von
Maßnahmen nötig: Minijobberinnen und Minijobber sollten obligatorisch durch
das einstellende Unternehmen über ihre Rechte informiert werden. Dies gilt vor
allem hinsichtlich der Entlohnung und der arbeitsrechtlichen Standards. Dazu
sollten Bund, Länder und Minijob-Zentrale in Abstimmung mit den Gewerk-
schaften öffentliche Kampagnen durchführen. Beschäftigte müssen über ihre
Rechte aufgeklärt und ermutigt werden, diese durchzusetzen.

Eine Verbesserung der realen Durchsetzungsmöglichkeiten bestehender rechtli-
cher Standards durch die Beschäftigten erfordert es, ihre Position und die der
Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt zu stärken. An dieser Stelle sollen ledig-
lich einige zentrale Maßnahmen hierfür genannt werden: Eindämmung prekärer
Beschäftigung in Form von Leiharbeit und Befristungen, mehr Mitbestimmung,
das Recht auf politischen Streik, bessere finanzielle Absicherung bei Erwerbs-
losigkeit sowie die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarif-
verträgen.

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