BT-Drucksache 17/6915

Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik

Vom 5. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6915
17. Wahlperiode 05. 09. 2011

Antrag
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die derzeit praktizierte Familienpolitik in Deutschland wird den vielfältigen
Problemlagen von Familien nicht gerecht. Eine Orientierung am klassischen
Familienbild, welches unter anderem durch bestehende steuer- und sozialrecht-
liche Sonderregelungen (Ehegattensplitting und Minijobs) gefördert und durch
die schlechtere Entlohnung von Frauen begünstigt wird, spiegelt die gesell-
schaftliche Vielfalt an Familienmodellen nicht wider. Der von der Bundes-
regierung gelobte Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten hinkt den Erfor-
dernissen hinterher. Die Absicht der Bundesregierung, die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie durch freiwilliges Agieren der Wirtschaft und Arbeitgeber
zu gewährleisten, ist gescheitert, da sie nur wenige Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer erreicht. Zu diesem Schluss kommt auch die Sachverständigenkom-
mission des ersten Gleichstellungsberichtes. Die Kommission fordert gesetz-
liche Regelungen für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
konkrete Maßnahmen für eine moderne und an der Lebensverlaufsperspektive
orientierte Gleichstellungspolitik. Auch diese Chance hat die Bundesregierung
nicht zu einer Modernisierung ihrer Familienpolitik genutzt.

Niedrige Löhne und Arbeitslosigkeit haben Familien-, Kinder- und Jugendarmut
zur Folge. Die Chance, die Armut vieler Familien wirkungsvoll mit einem ge-
setzlichen Mindestlohn und im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht vor-
gegebenen Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze zu reduzieren, wurde vertan.
Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen werden überwiegend von Frauen
übernommen und bringen für diese ein erhöhtes Armutsrisiko im Alter mit sich.
Besonders dramatisch ist die Situation bei mehr als 600 000 alleinerziehenden
Müttern, die sich perspektivlos im Hartz-IV-Bezug befinden. Hier schaut die
Bundesregierung seit Jahren tatenlos zu. Über die Hälfte der 600 000 allein-
erziehenden Mütter ist bereits seit 2005 verfestigt im Hartz-IV-Bezug. Auch die

Kürzungen des Elterngeldes sind ein falsches Signal. Die finanzielle Grundlage
von über 200 000 jungen Familien wurde kurzfristig reduziert. Auch hier trifft es
mit über 125 000 Familien, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, da-
runter knapp 50 000 Alleinerziehenden, wieder die Ärmsten.

Darüber hinaus fielen in den letzten Jahren zahlreiche Elemente einer öffent-
lichen Infrastruktur den Sparanstrengungen in Ländern und Kommunen zum
Opfer: Öffentliche Bibliotheken, Musikschulen, Jugendclubs wurden geschlos-

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sen, fortbestehende Angebote zentralisiert und reduziert. Stattdessen wurde der
private Dienstleistungssektor für Familien ausgebaut. Die Privatisierung von
Angeboten für Familien hat einen Ausschluss zur Folge, der massiv zum Nach-
teil von weniger wohlhabenden Familien und deren Kindern führt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich eine Neuorientierung der Familienpolitik einzuleiten, die folgen-
den Grundlinien gerecht wird:

Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale Verantwortung übernehmen,
unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung. In diesem Zusammen-
hang darf Familienpolitik nicht den Fehler begehen, bestimmte Lebensformen
als gesellschaftliche Normalität vorauszusetzen. Es ist nicht Aufgabe von Fa-
milienpolitik, die Erfüllung von Normalitätsannahmen zu belohnen oder deren
„Missachtung“ zu bestrafen. Gemeinschaften, in denen Menschen füreinander
Verantwortung übernehmen, sind gleichzustellen. Dies ist ein Gebot sozialer
Gerechtigkeit.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken, ist wesentlicher Bestandteil
einer sozialen und geschlechtergerechten Familienpolitik. Kinder- und Jugend-
armut hat ihre Ursache in erster Linie in der Einkommensarmut von Eltern. Gute
Arbeit, ein gesetzlicher Mindestlohn und eine Infrastruktur für Familien sind
daher unverzichtbare Bausteine für eine moderne Familienpolitik. Der Ausbau
einer hochwertigen und beitragsfreien Infrastruktur, die neben Angeboten für
Kinder und Jugendliche die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit gewährleistet,
sowie Transferleistungen zur Unterstützung von Familien müssen Hand in Hand
gehen. Familien brauchen gesellschaftliche Solidarität, welche familiäre Solida-
rität fördert und ermöglicht. Gesellschaftliche Solidarität für Familien bedeutet
die Übernahme öffentlicher Verantwortung. Dies gilt auch für die Pflege. Gene-
rell sind die Belange von Menschen mit Behinderung bezüglich Barrierefreiheit
und inklusiven Angeboten zu berücksichtigen. Der gezielte Ausbau sozialstaat-
licher Leistungen ist notwendig, anstatt diese zu reduzieren und Solidarität und
Verantwortung in private Zusammenhänge zu verdrängen.

Die Anerkennung der Vielfalt der Lebensweisen, dazu zählen beispielsweise
auch Regenbogenfamilien, geht einher mit dem Anspruch auf gleiche Entwick-
lungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen und Männer. Familienpolitik
darf nicht ausblenden, dass die Geschlechterverhältnisse nach wie vor hierar-
chisch verfasst sind. So ist auch die ungleiche Verteilung von unbezahlter (Fa-
milien-)Arbeit und Erwerbsarbeit zu Lasten der Frauen eine wesentliche Basis
der bestehenden Geschlechterverhältnisse. Trotz eines Neutralitätsanspruchs
gegenüber verschiedenen Formen sozialen Zusammenlebens ist politisch aktiv
auf die Beseitigung von geschlechterstereotypen Festlegungen und Rollen-
zuweisungen hinzuwirken. Dazu gehören der Abbau von Benachteiligungen
(Diskriminierungen) aufgrund des Geschlechtes, die gleiche Teilhabe (Partizi-
pation) von Frauen und eine von tradierten Rollenmustern freie, selbstbe-
stimmte Lebensgestaltung (echte Wahlfreiheit). Die derzeit aktiv praktizierte
Jungen- und Männerpolitik der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Dr. Kristina Schröder, orientiert sich an tradierten Rollenbildern,
die einen gleichstellungspolitischen Rollback darstellen, der nicht der tatsäch-
lich gelebten Pluralität gerecht wird. Stattdessen muss ein partnerschaftliches
Leitbild der Familienpolitik in den Vordergrund gestellt werden. Familienpoli-
tik muss aktiv mit gestaltender Gleichstellungspolitik verknüpft werden, ohne
dass deshalb Gleichstellungspolitik auf Familienpolitik zu reduzieren wäre.
Elternschaft muss für Mütter und Väter lebbar werden. Hierfür ist das Engage-
ment aller gesellschaftlicher Gruppen und Tarifparteien erforderlich, um über

die Neuorientierung der Verteilung von Erwerbsarbeit- und Familienzeiten
(auch zwischen den Geschlechtern) zu sprechen. Dies bedeutet einen Abbau

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der Hindernisse für die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern sowie eine
Abkehr von der selbstverständlichen Annahme, dass Familie, Kinder und
Pflege Frauensache seien.

Kinder und Jugendliche dürfen im Rahmen von Familienpolitik keine nachge-
ordnete Rolle spielen. Dagegen bedarf es einer Politik, die Kinder und Jugend-
liche als eigenständige Bevölkerungsgruppe mit eigenen Rechten und einem
spezifischen Anspruch auf einen Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen
behandelt. Allen Kindern und Jugendlichen ist ein Aufwachsen frei von Armut
und Ausgrenzung zu ermöglichen. Ihnen ist ein Schutz vor Diskriminierungen
jeglicher Art sicherzustellen.

Dazu bedarf es folgender Maßnahmen:

1. Die Grundlage für eine gesicherte Existenz besteht vorwiegend aus Einkom-
men durch Erwerbsarbeit. Das erfordert familienfreundliche Arbeitsbedin-
gungen, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zulassen. Deswegen
sind die Rahmenbedingungen für Erwerbsarbeit familiengerecht auszurich-
ten, so dass damit die Existenz von Familien gesichert werden kann und
gleichzeitig Zeit für Kinder und Familie bleibt. Die Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf darf keine Frage der individuellen Durchsetzungsfähigkeit und
der Bereitschaft zum „Entgegenkommen“ seitens der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber sein.

a) Das individuelle Recht auf Teilzeitarbeit muss uneingeschränkt und ohne
die Einschränkung des Vorbehalts „betrieblicher Gründe“ gelten. Ebenso
muss das Rückkehrrecht auf Vollzeitarbeit eingeführt werden. Für Eltern
wird ein besonderer Kündigungsschutz eingeführt, der bis zur Voll-
endung des 6. Lebensjahres des Kindes gilt. Die Arbeitszeit ist insgesamt
so zu gestalten, dass Mütter und Väter die Möglichkeit haben sowohl er-
werbstätig zu sein als auch ihren Beruf mit der Familie zu vereinbaren.
Um diesem Ziel im Rahmen einer kürzeren Vollzeit für Alle näher zu
kommen, ist die Umverteilung der vorhandenen Arbeit über den Weg der
kollektiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich notwendig.
Einer Flexibilisierung von Arbeitszeit, die sich lediglich an den betrieb-
lichen Erfordernissen orientiert, muss Grenzen gesetzt werden. Stattdessen
braucht es mehr Zeitautonomie für die Beschäftigten.

b) Gute Arbeit und ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von künftig min-
destens 10 Euro pro Stunde sichern den Familien ein armutsfestes Erwerbs-
einkommen. Dazu ist die Sonderstellung von geringfügigen und kurz-
fristigen Beschäftigungsverhältnissen (Minijobs) aufzuheben. Die Mög-
lichkeit, Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, ist zu
erleichtern. Die geschlechtsspezifische Lohnungleichheit von katastropha-
len 23,5 Prozent muss abgebaut werden. Prekäre Beschäftigungsformen
wie Leiharbeit und befristete Beschäftigungen sind zurückzudrängen,
Arbeitsmarktinstrumente, die Lohndumping befördern, sind abzuschaffen.

c) Bestehende steuerliche Anreize für eine Einschränkung der Erwerbstätig-
keit von (verheirateten) Frauen sind zu beseitigen. Das Ehegattensplitting
ist abzuschaffen und eine Individualbesteuerung einzuführen.

2. Eine gute Ausbildung ist die Voraussetzung für gute Arbeit und ein existenz-
sicherndes Einkommen. Diese muss familienfreundlich gestaltbar sein und
den Tatsachen Rechnung tragen, dass nicht wenige Familien während der
Ausbildung gegründet werden, viele Menschen mehrere Ausbildungen bzw.
Ausbildungsabschnitte absolvieren und vor allem junge Familien und Al-
leinerziehende oftmals noch ohne Ausbildung sind.

a) Teilzeitausbildungen, ob in einer betrieblichen oder außerbetrieblichen

Ausbildung bzw. im Studium an Hochschulen, die eine Vereinbarkeit mit

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Familie zulassen, sind als Alternativen zu Vollzeitausbildungen flächen-
deckend einzuführen und weiterzuentwickeln.

b) Bei Teilzeitausbildung in Betrieben soll gesetzlich verankert werden, dass
zukünftig nur noch unter der Bedingung, dass zwingende betriebliche
Gründe dem entgegenstehen, Teilzeitausbildungen versagt werden kön-
nen.

3. Die Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche muss ausgebaut und
Kürzungen zurückgenommen werden. Das setzt auch eine bessere finan-
zielle Ausstattung von Ländern und Kommunen voraus, die für die Infra-
struktur im Wesentlichen verantwortlich sind.

a) Eine gebührenfreie bedarfsgerechte qualitativ hochwertige Kinderganz-
tagesbetreuung für Kinder inkl. gesunder Essenversorgung, die den unter-
schiedlichen und altersspezifischen Bedürfnissen der Kinder gerecht wird,
ist aufzubauen. Bereits im Vorfeld der Umsetzung haben alle Kinder ab
einem Jahr einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertages-
stätte. Bei der Bereitstellung von Plätzen in Kindertagesstätten gilt der
tatsächliche Bedarf und nicht eine beliebig gemittelte Quote von derzeit
38 Prozent ab 2013 für Kinder unter drei Jahren. Zudem ist die rechtliche
und finanzielle Grundlage für ein flächen- und bedarfsgerechtes ganztägi-
ges Schulangebot zu schaffen.

b) Die seit Jahren anhaltenden Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe
müssen von Bund und Ländern rückgängig gemacht werden. Die örtlichen
Träger sind dadurch in die Lage zu versetzen, ihren gesetzlichen Aufgaben
nachkommen zu können und einen wirklichen Schutz und eine Förderung
der Kinder und Jugendlichen im Rahmen des Achten Buches Sozialgesetz-
buch (SGB VIII) zu gewähren. In diesem Zusammenhang muss die Kin-
der- und Jugendhilfe durch einen öffentlichen und fachlichen Diskurs
gestärkt und weiterentwickelt werden. Standards für die Ausstattung und
Qualität der Angebote müssen entwickelt und umgesetzt werden.

c) Kindern und Jugendlichen muss ein gebührenfreier Zugang zu öffentlichen
kulturellen Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken, Theatern, Musik-
schulen ermöglicht werden. Sie benötigen eigene gestaltbare Räume in
denen sie sich abseits von Kostenzwängen treffen und betätigen können
sowie Unterstützung erfahren. Dabei ist die Partizipation der Kinder und
Jugendlichen sowie eine angemessene pädagogische und kulturelle haupt-
amtliche Begleitung sicherzustellen. Die Akzeptanzförderung von sexuel-
ler und kultureller Vielfalt muss erfolgen.

d) Die Ausbildung und Qualifikation von Erzieherinnen, Erziehern, Sozial-
pädagoginnen und Sozialpädagogen sind sicherzustellen und dem gestie-
genen Bedarf anzupassen. Ebenso müssen die Arbeitsbedingungen ver-
bessert und die Tätigkeiten angemessen entlohnt werden.

e) Gesetzliche Regelungen, die dem Staat ermöglichen, sich von seiner Ver-
antwortung für die Förderung von Familien freizukaufen, sind zu strei-
chen. Die soziale Notlage von Familien darf nicht dazu führen, dass diese
auf verbriefte Rechte ihrer Kinder zugunsten eines geringen Taschen-
geldes verzichten. Daher sollten anstelle der geplanten Einführung des so-
genannten Betreuungsgeldes sozialverträgliche Alternativen genutzt und
ausgebaut werden.

f) Mutter-/Vater-Kind-Kuren müssen für alle Eltern als Bestandteil der Vor-
sorge, Unterstützung und Rehabilitation geöffnet werden. Die derzeitige
Ablehnungspraxis der Krankenkassen ist wirkungsvoll zu stoppen.

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4. Die finanzielle Absicherung von Familien muss gewährleistet sein. Dazu be-
darf es umfangreicher sozialpolitischer Korrekturen. Elternschaft muss un-
abhängig von der sozialen Situation der Familien lebbar werden.

a) Die Kürzungen des Elterngeldes müssen zurückgenommen werden. Das
Elterngeld darf nicht auf andere Transferleistungen wie Hartz IV ange-
rechnet werden. Es soll insgesamt so ausgebaut werden, dass die verant-
wortlichen Elternteile einen individuellen Anspruch auf je zwölf Monate
erhalten, der flexibel aufgeteilt werden kann. Das Elterngeld dient der
individuellen Unterhaltssicherung des elterntätigen Elternteils. Deren
Teilzeitarbeitsmöglichkeiten sind zu verbessern. Einkommensverluste
durch betreuungsbedingte Arbeitszeitreduzierung werden ebenfalls antei-
lig ausgeglichen. Ein gleichzeitiger Teilzeitelterngeldbezug wird beiden
Elternteilen ermöglicht. In diesem Fall gilt pro Monat Teilzeitelterngeld-
bezug nur ein halber Monat des Elterngeldanspruchs pro Elternteil als ver-
braucht. Der Elternzeitanspruch wird in Form eines Elternzeitkontos
gewährt, das Elterngeld kann in Zeitabschnitten von mindestens zwei
Monaten bis zum vollendeten siebten Lebensjahr des Kindes in Anspruch
genommen werden.

b) Kindergeld und Kinderzuschlag sind zu einer bedarfsorientierten Kinder-
mindestsicherung weiterzuentwickeln. Dazu muss in einem ersten Schritt
das Kindergeld auf 200 Euro für das erste Kind und der Kinderzuschlag
auf 220 Euro für unter sechsjährige, 260 Euro für sechs- bis unter 14-jäh-
rige und 300 Euro für 14-jährige und ältere Kinder erhöht werden sowie
das Wohngeld erweitert und der gestrichene Heizkostenzuschuss wieder
eingeführt werden. In einem weiteren Schritt werden diese Leistungen zu-
sammengefasst und zu einer bedarfsorientierten Kindermindestsicherung
ausgebaut.

c) Die Hartz-IV-Sätze müssen verfassungsgerecht berechnet und dement-
sprechend erhöht werden. Der Bedarf für Kinder und Jugendliche muss
eigenständig neu ermittelt werden und die Regelsätze sind entsprechend
anzuheben. Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft ist zu überwinden.
Die Absicherung erfolgt nach dem Individualprinzip unter Beachtung der
unterhaltsrechtlichen Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch.

5. Alleinerziehende tragen ein hohes Maß an Verantwortung. Sie dürfen dabei
nicht mehr von Armut bedroht sein. Alleinerziehende brauchen Sicherheit
und Unterstützung. Ihnen ist ein Leben außerhalb von Hartz IV zu ermög-
lichen.

a) Alleinerziehende benötigen mehr Unterstützung, um ins Berufsleben zu-
rückzukehren sowie gegebenenfalls eine Ausbildung absolvieren zu
können. Die Förderung muss ausgebaut werden. Dazu bedarf es konkreter
Unterstützungsangebote, Angebote zur Weiterbildung aber auch zu sozialer
Vernetzung, um drohender Isolation entgegenzuwirken.

b) Alleinerziehende sollen Elterngeld bis zu 24 Monaten beziehen können.
Die Teilzeitarbeitsmöglichkeiten sind zu verbessern.

c) Der Unterhaltsvorschuss ist auszubauen. Die maximale Bezugsdauer von
derzeit sechs Jahren ist zu entfristen. Unterhaltsvorschuss ist bis zur Voll-
endung des 18. Lebensjahrs zu gewähren.

d) Der Kinderzuschlag ist in einem ersten Schritt mit einem Mehrbedarf
analog des SGB-II-Mehrbedarfes für Alleinerziehende zu versehen.

6. Bestehende Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaf-
ten sind zu beenden. Ihnen ist unter anderem ein gemeinsames Adoptions-

recht zuzugestehen.

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7. Familienmitgliedern mit Behinderung ist die volle und wirksame Teilhabe
zu garantieren. Wesentlicher Bestandteil der Leistungserbringung sollte eine
bedarfsgerechte persönliche Assistenz in allen Lebenslagen und -phasen
sein, die unabhängig von Einkommen und Vermögen gewährt wird.

8. Eine teilhabesichernde und humane Pflege im häuslichen Umfeld ist sicher-
zustellen. Die Pflege durch Angehörige darf nicht dazu führen, dass insbe-
sondere Frauen aus dem Berufsleben aussteigen müssen oder nicht wieder
einsteigen können. Es ist dringend erforderlich, die öffentliche Verantwor-
tung für Pflege zu stärken.

a) Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzufüh-
ren, die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versor-
gung von Angehörigen oder nahstehenden Personen dient. Während der
Pflegezeit erhalten abhängig Beschäftigte eine beitragsfinanzierte Leis-
tung, die den Lohn in Höhe des Arbeitslosengelds I ersetzt. Dabei besteht
Kündigungsschutz sowie ein Rechtsanspruch, auf denselben Arbeitsplatz
zu denselben Arbeitsbedingungen zurückzukehren.

b) Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teilzeit-
möglichkeiten und flexible Arbeitsorganisations- und Arbeitszeitregelun-
gen zu ermöglichen.

c) Als Sofortmaßnahme sind die Leistungen der Pflegeversicherung deutlich
anzuheben, damit pflegebedürftige Menschen stärker als bisher auf profes-
sionelle Pflege zurückgreifen können. Pflegende Angehörige – zumeist
Frauen – sind zu entlasten. Der Realwertverlust infolge der unzureichen-
den Anhebung der Pflegeleistungen seit ihrer Einführung ist vollständig
auszugleichen. Außerdem sind die Sachleistungsbeträge für die ambu-
lante, teilstationäre und stationäre Pflege um weitere 25 Prozent anzuhe-
ben. Perspektivisch sind die Leistungen am individuellen Bedarf zu orien-
tieren.

d) Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu ver-
bessern. Die notwendige Infrastruktur ist weiter auszubauen, um eine
professionelle, unabhängige und wohnortnahe Beratung, Anleitung und
Supervision auf hohem Niveau flächendeckend sicherzustellen. Eine pass-
genaue pflegerische Versorgung muss ermöglicht werden. Ambulante und
alternative Wohn- und Versorgungsformen sind auszubauen.

e) Die Finanzierung der Pflegeversicherung muss auf eine solide und ge-
rechte Grundlage gestellt werden und ist zu einer solidarischen Bürgerin-
nen- und Bürgerversicherung weiterzuentwickeln.

Berlin, den 5. September 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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