BT-Drucksache 17/6415

Stand und Weiterentwicklung von Maßnahmen der Schadensreduzierung (Harm-Reduction) bei Drogenkonsumenten in Deutschland

Vom 4. Juli 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6415
17. Wahlperiode 04. 07. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Ingrid Hönlinger, Sven-Christian Kindler, Memet Kilic,
Volker Beck (Köln), Jerzy Montag und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stand und Weiterentwicklung von Maßnahmen der Schadensreduzierung
(Harm Reduction) bei Drogenkonsumenten in Deutschland

Seit den 90er-Jahren wurde die Drogenpolitik in Deutschland um mehrere
Maßnahmen zur Senkung der Zahl der Drogentoten, der Minderung von Schä-
den durch Drogenkonsum und Abhängigkeit (Harm Reduction) und der Prä-
vention von Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS ergänzt. Hierzu zählen
niedrigschwellige Kontaktläden, Drogenkonsumräume, Spritzentauschpro-
gramme und die Substitutionsbehandlung. In den letzten Jahren kam zusätzlich
die Diamorphintherapie hinzu.

Im Aktionsplan Drogen und Sucht wurden 2003 explizit die Weiterentwicklung
von schadensreduzierenden Maßnahmen bei riskantem Konsum von illegalen
Drogen, die Prüfung der Ausweitung des Angebotes von Drogenkonsumräu-
men und die Förderung von Maßnahmen im Strafvollzug zur Infektionsredu-
zierung als Ziele für eine moderne Drogenpolitik festgeschrieben.

Untersuchungen wie die Evaluation der Arbeit der Drogenkonsumräume in der
Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Gesund-
heit aus dem Jahr 2003 zeigen, dass Harm Reduction ein wirksames Mittel
darstellt. Die Zahl der jährlichen Drogentoten sank von mehr als 2 000 auf
ca. 1 237 (Stand 2010), insbesondere in Städten wie Frankfurt mit einem brei-
ten Konsumraumangebot. Zwar schreibt auch die amtierende Drogenbeauf-
tragte Maßnahmen der Schadensminderung eine große Bedeutung zu (vgl.
Pressemitteilung vom 24. März 2011), konkrete Vorstellungen sind jedoch
mangels einer Fortschreibung des Aktionsplans Drogen und Sucht bislang nicht
erkennbar.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sieht die Bundesregierung den Ansatz der Schadensminderung nach wie vor
als wichtiges und eigenständiges Element der Drogenpolitik in Deutschland
an?

2. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass Programme zur Schadensmin-
derung das Ziel haben sollten, gesundheitliche Schäden des Drogen-
gebrauchs zu vermeiden, nicht jedoch den Drogenkonsum als solchen zu
verhindern?

3. Beabsichtigt die Bundesregierung eine Weiterentwicklung schadensreduzie-
render Maßnahmen, und wenn ja, welche neuen Maßnahmen sollen in das
Drogenhilfesystem implementiert werden?

Drucksache 17/6415 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. In welchen Regionen in Deutschland sieht die Bundesregierung Hand-
lungsbedarf bei der bedarfsgerechten Implementierung von Maßnahmen
zur Schadensminderung?

5. Aufgrund welcher Daten und Maßstäbe bewertet die Bundesregierung das
bundesweite und regionale Angebot und die bundesweite und regionale
Nachfrage nach Harm-Reduction-Maßnahmen (bitte detailliert ausführen)?

6. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass das Angebot einer bedarfsge-
rechten Substitutionsbehandlung ein wirksames Mittel zur Senkung der
Zahl der Drogentoten, der Minderung von Schäden durch Drogenkonsum
und Abhängigkeit (Harm Reduction) und der Prävention von Infektions-
krankheiten wie HIV/AIDS darstellt?

7. Betrachtet die Bundesregierung die derzeitige Verfügbarkeit von Angebo-
ten der substitutionsgestützten Behandlung als ausreichend?

Wenn nein, welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung, um
die Versorgungslage zu verbessern?

8. a) Auf welche Art und Weise will die Bundesregierung bei den Ländern
darauf hinwirken, die Situation von Menschen in Substitutionsbehand-
lung bei Haftantritt zu verbessern und die vorhandenen Schnittstellen-
probleme (vgl. „Weiterentwicklung der Substitutionsbehandlung in
Haft“, Dokumentation der Fachtagung des Bundesverbandes für akzep-
tierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik – akzept e. V. – vom
20. April 2010) zu lösen?

b) Auf welche Art und Weise will die Bundesregierung bei den Ländern
darauf hinwirken, die Situation von Menschen in Substitutionsbehand-
lung bei Haftende zu verbessern, die Schnittstellenprobleme zu lösen
und so auch die deutlich erhöhte Mortalität unmittelbar nach Haftende zu
senken (vgl. „Weiterentwicklung der Substitutionsbehandlung in Haft“,
Dokumentation der akzept-e.-V.-Fachtagung vom 20. April 2010)?

9. a) Beabsichtigt die Bundesregierung weitere Erleichterungen bei der Ver-
schreibung von Substitutionsmitteln, um die Bereitschaft von Ärzten,
eine Substitutionsbehandlung anzubieten, zu erhöhen?

Wenn ja, welche konkreten Änderungen des § 5 der Betäubungsmittel-
Verschreibungsverordnung (BtMVV) sind geplant?

Wenn nein, warum nicht?

b) Beabsichtigt die Bundesregierung weitere Erleichterungen bei der
„Take-Home“-Regelung nach § 5 BtMVV (insbesondere auch in Bezug
auf beruflich bedingte In- und Auslandsreisen)?

Wenn ja, welche sind dies?

10. Plant die Bundesregierung Erleichterungen beim Dokumentationsaufwand
in der Substitutionsbehandlung?

Wenn nein, warum nicht?

11. Welche Schlussforderungen für die Weiterentwicklung der Substitutionsbe-
handlung ergeben sich für die Bundesregierung aus dem Beschluss des
Vorstandes der Bundesärztekammer (BÄK) vom 19. Februar 2010 zu den
„Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutions-
gestützten Behandlung Opiatabhängiger“?

12. a) Wie viele Einrichtungen und Behandlungsplätze der diamorphingestütz-
ten Behandlung existieren derzeit bundesweit?

b) Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Bedarf an Einrichtungen und
Behandlungsplätzen der diamorphingestützten Behandlung ein?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6415

c) Welche Einrichtungen wurden zusätzlich zu den bereits bestehenden
Einrichtungen des wissenschaftlich begleiteten Modellprojekts geschaf-
fen ?

d) Wie bewertet die Bundesregierung den Stand des Ausbaus der diamor-
phingestützten Substitutionsbehandlung seit Verabschiedung der diesbe-
züglichen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses?

13. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass die Richtlinien des Gemein-
samen Bundesausschusses zur diamorphingestützen Behandlung zu hohen
Investitions- und Personalkosten führen und so den bedarfsgerechten Aus-
bau dieser Behandlungsform behindern?

Wenn nein, warum nicht?

14. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass Drogennotfalltrainings für Ärzte
und Angestellte in Strafvollzugsanstalten ein wirksames Mittel zur Sen-
kung der Zahl der Drogentoten darstellt?

Wenn nein, warum nicht?

15. Hat die Bundesregierung Kenntnis über eine bundesweite, aktuelle und
über die im Jahr 2003 erschienene hinausgehende Evaluation der Drogen-
konsumräume in Deutschland?

Wenn ja, welche ist dies, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundes-
regierung daraus?

Wenn nein, ist eine solche geplant (falls dies der Fall ist, bitte Art, Umfang,
Fragestellung und Zeitplan ausführen)?

16. Beabsichtigt die Bundesregierung eine Weiterentwicklung des Konzeptes
der Drogenkonsumräume in Deutschland?

Wenn ja, wie sehen diese Planungen aus, und welche konkreten Änderun-
gen des Konsumraumparagraphen §10a des Betäubungsmittelgesetzes hält
die Bundesregierung für notwendig?

Wenn nein, warum nicht?

17. a) Betrachtet die Bundesregierung die derzeitige Verfügbarkeit (Existenz
eines Angebotes in räumlicher Nähe) und Nutzbarkeit (Öffnungszeiten,
Zugangsbedingungen) von Drogenkonsumräumen als ausreichend?

Wenn nein, welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung
um die Versorgungslage zu verbessern?

b) Hält die Bundesregierung an dem Ziel des bedarfsgerechten Ausbaus
der Drogenkonsumräume aus dem bestehenden Aktionsplan Drogen
und Sucht auch bei einer Fortschreibung dieses Aktionsplans fest?

18. a) Hält die Bundesregierung den Erlass einer Rechtsverordnung, die die
Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb von Drogenkonsumräumen regelt,
durch jede einzelne Landesregierung für zwingend und fachlich gebo-
ten?

b) In welchen Bundesländern existiert bislang keine solche Rechtsverord-
nung, und welche Auswirkungen hat dies auf das Angebot an Konsum-
räumen?

c) Inwieweit wirkt die Bundesregierung auf den Erlass von Rechtsverord-
nungen in den Bundesländern hin, die bislang keine derartige Regelung
haben?

Drucksache 17/6415 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
19. a) Hält die Bundesregierung das Verbot für das in einem Drogenkonsum-
raum tätige Personal, beim unmittelbaren Verbrauch der mitgeführten
Betäubungsmittel aktive Hilfe zu leisten, für zwingend und fachlich ge-
boten?

Wenn ja, warum?

b) Hält die Bundesregierung das Verbot für das in einem Drogenkonsum-
raum tätige Personal, eine Substanzanalyse der mitgeführten Betäu-
bungsmittel durchzuführen, für zwingend und fachlich geboten?

Wenn ja, warum?

20. a) Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass Spritzentauschangebote ein
wirksames Mittel der Hepatitis- und HIV-Prävention und -Gesundheits-
förderung bei intravenös Konsumierenden sind?

Wenn nein, warum nicht?

21. Auf welche Weise wirkt die Bundesregierung bei den Ländern darauf hin,
dieses Angebot auch im Strafvollzug zur Verfügung zu stellen?

22. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Präsidenten des Bundeskri-
minalamts, Jörg Ziercke, dass die Unwissenheit der Konsumenten bezüg-
lich der Art und Konzentration der Wirkstoffe in Drogen zu unkalkulierba-
ren Gesundheitsgefahren führen könne (Pressemitteilung, 20. Dezember
2010)?

Wenn ja, welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?

23. Ist die Bundesregierung der Ansicht dass Substanzanalysen geeignet sind,
um Art und Konzentration der Wirkstoffe in Drogen in Erfahrung zu brin-
gen?

24. Zu welchen konkreten Ergebnissen bezüglich Konzentration und Zusam-
mensetzung kamen die Inhaltsanalysen der Drogen Spice, Lava Red und
ähnlicher „Kräutermischungen“ durch das Bundeskriminalamt, die Lan-
deskriminalämter und sonstige staatliche Stellen durchgeführt oder in Auf-
trag gegeben (bitte detailliert ausführen)?

25. Hält die Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Senkung der Zahl der
Drogentoten, der Minderung von Schäden durch Drogenkonsum und Ab-
hängigkeit und der Prävention von Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS
für notwendig?

Wenn ja, welche konkreten zusätzlichen Maßnahmen plant die Bundes-
regierung?

Wenn keine, warum nicht?

Berlin, den 1. Juli 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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