BT-Drucksache 17/6151

Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung Erneuerbarer Energien gründen - EURATOM auflösen

Vom 9. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6151
17. Wahlperiode 09. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Eva Bulling-Schröter, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Barbara Höll, Andrej Hunko,
Harald Koch, Ralph Lenkert, Stefan Liebich, Ulla Lötzer, Dorothee Menzner,
Niema Movassat, Thomas Nord, Richard Pitterle, Paul Schäfer (Köln), Michael
Schlecht, Sabine Stüber, Dr. Axel Troost, Johanna Voß, Sahra Wagenknecht,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Eine Europäische Gemeinschaft für die Förderung erneuerbarer Energien
gründen – EURATOM auflösen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Atomkraft ist eine unbeherrschbare Risikotechnologie mit unabsehbaren Fol-
gen. Sie gefährdet die Grundrechte und die Lebensbedingungen zukünftiger
Generationen. Zudem ist eine absolute Trennung zwischen ziviler und mili-
tärischer Nutzung der Nukleartechnologien nicht möglich. Die Antiatom-
bewegung macht seit Jahrzehnten auf die Risiken und die Unverantwortbar-
keit der Atomkraft aufmerksam und stellt die berechtigte Forderung nach
einem sofortigen Atomausstieg und der verstärkten Förderung erneuerbarer
Energien, unter anderem durch die Gründung einer darauf ausgerichteten eu-
ropäischen Gemeinschaft.

2. Die Europäische Union (EU) hält 25 Jahre nach dem Reaktorunglück in
Tschernobyl und im Jahr der Reaktorkatastrophe von Fukushima weiterhin
an der Erforschung und dem Ausbau eines Systems der Energieversorgung
fest, das auch im Normalbetrieb eine permanente Gefahr darstellt. Jedes Jahr
kommt es zu hunderten von Unfällen und Störungen in den Atomkraftwerken
weltweit. Es ist inakzeptabel, dass die EU allein im Zeitraum 2007 bis 2013
über 5,2 Mrd. Euro für die Forschung zu Fusion und Spaltung von Atomker-
nen ausgibt und zusätzlich seit 1995 im Rahmen der Kreditvergabe zum Neu-
bau und zur Modernisierung von Atomkraftwerken 4 Mrd. Euro bereitgestellt
hat. Infolge dieser Politik sind die Staaten der EU zum führenden Erzeuger
von Atomenergie und zur Region mit der größten Atomkraftwerksdichte in
der Welt geworden: In 15 der 27 EU-Mitgliedstaaten werden insgesamt 143

kommerzielle Atomreaktoren betrieben. Viele dieser Atomreaktoren stehen
in erdbebengefährdeten Gebieten. Keiner der Atomreaktoren ist gegen äu-
ßere Einwirkungen wie zum Beispiel Flugzeugabstürze oder terroristische
Angriffe abgesichert.

3. Die seit 1957 bestehende Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) ist
seit langem überholt: Das Ziel – der Bevölkerung in der EU ein hohes Maß
an technischer Sicherheit von Atomkraftwerken zu garantieren – kann sie

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durch die Subventionierung, den Ausbau und die Förderung von unbe-
herrschbarer Atomkraft nicht erreichen. Österreich hat die einzig verantwort-
bare Konsequenz gezogen und ein Atomenergieverbot in der Verfassung ver-
ankert. Dennoch bleiben Österreich wie auch die anderen elf EU-
Mitgliedstaaten ohne Atomkraftwerke bis auf Weiteres an ihre vertraglichen
Pflichten gebunden und beteiligen sich weiterhin an der finanziellen Förde-
rung der Atomenergie durch die EU und die EURATOM.

4. Auch die Staaten, die sich um den Beitritt zur EU bewerben, unterzeichnen
in der bisherigen Beitrittspraxis mit dem Vertrag über den EU-Beitritt jeweils
auch den EURATOM-Vertrag, unabhängig davon, ob sie selbst Atomstrom
erzeugen. Damit verpflichtet sich jeder künftige EU-Mitgliedstaat, sich an
der Subventionierung und Privilegierung der Atomenergie in der EU zu be-
teiligen.

5. Der EURATOM-Vertrag widerspricht auch den Regeln des gemeinsamen
Energiemarktes mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Energieerzeu-
gern und Energieträgern, weil von den Atomenergieproduzenten weder eine
Umwelthaftung für eventuelle Nuklearunfälle noch Kosteninternalisierung
verlangt wird.

6. Trotz der strukturellen Ausgliederung der EURATOM aus der EU auf der
Grundlage des Vertrags von Lissabon sind die EURATOM und die EU durch
den einheitlichen institutionellen Rahmen und durch den gemeinsamen Haus-
halt eng miteinander verzahnt. Es ist an der Zeit, diese Verflechtung durch
eine Vertragsänderung zu beenden, um den Austritt aus der EURATOM für
Mitgliedstaaten zu regeln.

7. Erst durch die Beendigung des EURATOM-Vertrages werden ein unumkehr-
barer Atomausstieg auf EU-Ebene und eine vollständige Umorientierung zu
erneuerbaren Energien möglich. Die EURATOM soll durch eine alternative
Europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und
Energieeinsparung in den Mitgliedstaaten ersetzt werden, die als Bestandteil
einer umweltverträglichen, arbeitsmarktorientierten und verantwortungsvol-
len Energieversorgung zu einer friedlichen und ökologischen EU beitragen
kann. Das für die EURATOM verwendete Geld hätte längst in den sinnvollen
Ausbau von erneuerbaren Energien und die dafür benötigte Infrastruktur flie-
ßen müssen. Es ist bedauerlich, dass allein für den Nuklearforschungsbereich
über das aktuelle EURATOM-Forschungsprogramm sowie seine Verlänge-
rung 5,2 Mrd. Euro zur Verfügung stehen, während der gesamte Bereich
Energie im 7. Forschungsrahmenprogramm (7. FP) gerade einmal 2,3 Mrd.
Euro erhält. Der Umstieg von Atomenergie auf erneuerbare Energien ist so-
wohl politisch als auch finanziell längst überfällig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. für den Abschluss eines neuen europäischen Vertrages einzutreten, auf des-
sen Grundlage eine alternative Europäische Gemeinschaft zur Förderung von
erneuerbaren Energien und Energieeinsparung eingerichtet wird;

2. sich für die Auflösung der EURATOM einzusetzen;

3. als Schritt zur vollständigen Beendigung des EURATOM-Vertrages, solange
bis die Auflösung der EURATOM und ihre Ersetzung durch eine alternative
Europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren Energien und
Energieeinsparung nicht durchgesetzt wurde, auf EU-Ebene eine Initiative für
die Entflechtung der vertraglichen Grundlagen der EU und der EURATOM zu
ergreifen und den EURATOM-Vertrag einseitig zu kündigen;
4. sich für einen europaweiten Ausstieg aus der Atomenergie einzusetzen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6151

5. bei den Vereinten Nationen entschieden auf einen weltweiten Ausstieg aus
der Atomenergie für militärische Zwecke sowie zur Energiegewinnung zu
drängen und sich für ein Moratorium für alle weltweit geplanten Neubauten
von Atomanlagen für militärische Zwecke und zur Energiegewinnung einzu-
setzen.

Berlin, den 9. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die EURATOM wurde 1957 parallel mit der Gründung der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft (die sog. Römischen Verträge) ins Leben gerufen. Ähnlich
wie bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sollten mit
der EURATOM die Materialien und Technologien zur Atomkernspaltung als
rüstungsrelevante Güter unter gemeinsame Kontrolle gestellt werden. Auch
sollten die finanziellen Mittel, die für die weitere Nuklearforschung und für den
Bau von Atomkraftwerken notwendig waren, gemeinsam bereitgestellt werden.
Mit der Unterzeichnung des EURATOM-Vertrages sahen die Staaten eine Mög-
lichkeit, über die Förderung der Atomenergie eine gewisse Unabhängigkeit in
der Energieversorgung zu erreichen. Zudem war es gewollt, im Wettlauf mit den
beiden damaligen „Atomgroßmächten“ – USA und UdSSR – nicht wesentlich
zurückzubleiben.

Während die Existenz der EGKS bei ihrer Gründung auf einen Zeitraum von
50 Jahren beschränkt wurde, war die EURATOM von Beginn an für eine unbe-
stimmte Zeit gedacht. Dennoch blieb der Vertrag zur Gründung der EURATOM
in der öffentlichen Wahrnehmung im Hintergrund der europäischen gemein-
schaftlichen Entwicklung, auch wenn er bis heute im Wesentlichen unverändert
fortbesteht.

Die EURATOM ist seit dem Bestehen des Vertrages von Lissabon strukturell aus
der EU ausgegliedert und blieb als eigenständige Gemeinschaft mit einem eige-
nen Grundlagenvertrag und mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit bestehen.
Die institutionelle und finanzielle Verflechtung zwischen der EURATOM und
der EU wurde jedoch nicht aufgehoben.

Die Finanzierung der EURATOM erfolgt nicht über individuelle Beiträge der
Mitgliedstaaten, sondern über den allgemeinen Haushalt der EU. Die Mitglied-
staaten unterzeichnen mit dem Beitritt zur EU jeweils auch den EURATOM-
Vertrag. Damit stehen sie in der Verpflichtung, sich an der Subventionierung der
Atomenergie zu beteiligen – unabhängig davon, ob sie selbst Atomenergie er-
zeugen und dass die öffentliche Meinung der Bürgerinnen und Bürger der EU
mehrheitlich gegen den Ausbau der Atomenergie ist, sowie ungeachtet der Tat-
sache, dass die Hälfte aller EU-Staaten keine Atomkraftwerke betreibt bzw.
einen Ausstiegsbeschluss hat. Der Vertrag ist nicht nur deshalb längst überholt,
denn auch das Ziel, der Bevölkerung in der EU ein hohes Maß an technischer
Sicherheit von Atomkraftwerken zu garantieren, kann trotz Milliarden-
investitionen und Subventionierungen in den Ausbau und die Förderung der un-
beherrschbaren Atomkraft nicht gewährleistet werden.

Die EURATOM unterstützt die Förderung der europäischen Nuklearindustrie
über direkte Kredite und über spezielle Forschungsrahmenprogramme. In diesen

Programmen werden Mittel für den Bereich Energie und zusätzlich Extragelder
für den EURATOM-Forschungsetat bereitgestellt. Allein für den Zeitraum 2007

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bis 2011 stellte das aktuelle 7. FP für den Nuklearforschungsbereich 2,75 Mrd.
Euro zur Verfügung. Die EU-Kommission hat am 7. März 2011 einen Vorschlag
zur Verlängerung der Finanzierung der EURATOM-Aktivitäten im 7. FP für die
Jahre 2012 und 2013 verabschiedet. Hierfür ist zusätzlich ein Budget von
2,5 Mrd. Euro für die Nuklearforschung vorgesehen. Für den Zeitraum 2007 bis
2013 werden also allein für die Nuklearforschung 5,25 Mrd. Euro ausgegeben.
Der Bereich Energie, der die Erforschung der erneuerbaren Energien beinhaltet,
erhält für den gleichen Zeitraum lediglich 2,4 Mrd. Euro aus dem EU-Budget für
das 7. FP.

Die finanzielle und politische Förderung der Nuklearindustrie ist aus mehreren
Gründen nicht mehr zu verantworten. Der leicht zu bewältigende Übergang von
friedlicher zu militärischer Nutzung der Nuklearenergie ist nicht kontrollierbar.
Die Geschichte der Atomenergienutzung sowie aktuelle Ereignisse zeigen, dass
sie niemals zu 100 Prozent sicher sein kann. Sie stellt auch ein Sicherheitsrisiko
für nachfolgende Generationen aufgrund hoher Radioaktivität des Atommülls
dar. Die hohen Kosten für Forschung, Bau, Instandhaltung, Reaktorentwick-
lung, Sicherheitsvorsorge, Lagerung bzw. Verarbeitung des Atommülls und
nicht zuletzt für die Schäden bei einem möglichen GAU zeigen, dass es unkal-
kulierbar teuer ist, Atomenergie zu nutzen. Zudem kritisieren Umweltorganisa-
tionen schon seit langem zu Recht, dass das große Angebot von Atomstrom die
technologische Entwicklung und die nötigen Investitionen in erneuerbare Ener-
gien verhindert.

Das Fortbestehen der EURATOM ist ein Affront gegen jegliche Bemühungen,
eine sichere, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Energieversorgung mit
Hilfe von erneuerbaren Energien in der EU herzustellen und sie stellt ein großes
Hindernis für die längst überfällige energiepolitische Wende dar. Diese Wende
hin zu einer umweltverträglichen, arbeitsmarktorientierten und verantwortungs-
vollen Energieversorgung ist nur durch die Ersetzung der EURATOM durch
eine alternative Europäische Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren
Energien und Energieeinsparung in den Mitgliedstaaten möglich.

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