BT-Drucksache 17/6127

Zugang zu medizinischem Cannabis für alle betroffenen Patientinnen und Patienten ermöglichen

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6127
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Kai Gehring, Sven-Christian Kindler, Markus Kurth, Jerzy
Montag, Dr. Konstantin von Notz, Brigitte Pothmer, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zugang zu medizinischem Cannabis für alle betroffenen Patientinnen und
Patienten ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Versorgung bedürftiger Patientinnen und Patienten mit Cannabismedika-
menten ist entgegen allen Beteuerungen der Bundesregierung nach wie vor
unzureichend.

Zwar können Patientinnen und Patienten seit einigen Jahren beim Bundes-
institut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Anträge zur therapeu-
tischen Verwendung von Cannabis stellen. In bislang etwa 50 Fällen hat das
BfArM eine Erlaubnis zum Bezug eines Cannabisextraktes oder von Cannabis-
blüten erteilt.

Allerdings müssen die Betroffenen die Kosten hierfür selbst tragen. Nach An-
gaben des BfArM (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4789) betragen die monat-
lichen Therapiekosten je nach Bedarf bis zu 1 500 Euro. Das übersteigt in vie-
len Fällen die finanziellen Möglichkeiten der häufig arbeitsunfähigen Patientin-
nen und Patienten. Andere Therapiealternativen wie Dronabinol stehen den Be-
troffenen nicht zur Verfügung, da die Krankenkassen die Kostenübernahme
hierfür in der Regel ablehnen.

Auch ein womöglich demnächst zugelassenes Fertigarzneimittel auf Basis
eines Cannabisextraktes für die Linderung der Spastik bei Multipler Sklerose
kann den Zugang zu einem Cannabismedikament nur für einen kleinen Teil der
Patientinnen und Patienten verbessern. Für all jene, die nicht an dieser Erkran-
kung und diesem Symptom leiden, steht nach wie vor kein für sie erschwing-
liches Medikament zur Verfügung.

II. Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung
auf,

a) einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den im Regelfall ein betäubungsmit-

telrechtliches Strafverfahren wegen Gebrauchs von Cannabis eingestellt und
die Beschlagnahme sowie Einziehung des Betäubungsmittels ausgeschlos-
sen wird, wenn die oder der Tatverdächtige Cannabis aufgrund einer ärzt-
lichen Empfehlung verwendet und dabei zugleich die Voraussetzungen so-
wie das Verfahren zu regeln, nach denen eine solche ärztliche Empfehlung
anhand einer Liste von Indikationen ausgestellt und nachgewiesen werden
kann,

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b) durch das Bundesministerium für Gesundheit eine Expertengruppe nach
§ 35c Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) einzuberufen,
die für eine Beratung und Beschlussfassung im Gemeinsamen Bundesaus-
schuss Bewertungen zur zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arz-
neimitteln auf Basis von Cannabis erstellt und in diesen Fällen für schwerst-
kranke jedoch nicht an einer regelmäßig tödlichen verlaufenden Erkrankung
leidende Patientinnen und Patienten einen Anspruch auf Kostenübernahme
für Medikamente im Off-Label-Use ermöglicht.

Berlin, den 7. Juni 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Cannabis bei schweren Er-
krankungen wie HIV, Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, Epilepsie
und Krebs Linderung bewirken kann. So ist ein therapeutischer Effekt im Hin-
blick auf Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit bei Tumorpatientinnen und
-patienten belegt. Gut abgesicherte Erkenntnisse zur Wirksamkeit gibt es auch
bei der Spastik bei Multipler Sklerose, erhöhtem Augeninnendruck, Tourette-
Syndrom und bei starken Schmerzen unterschiedlicher Ursache. Bereits im Juni
2000 unterstützte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Peti-
tion von Patienten, die von Cannabis medizinisch profitierten und überwies die
Petition „zur Berücksichtigung“ an die Bundesregierung. In der Begründung
schrieb der Petitionsausschuss: „Es steht fest, dass Cannabis unter anderem
appetitsteigernd, brechreizhemmend, muskelentspannend, schmerzhemmend,
bronchienerweiternd, augeninnendrucksenkend und stimmungsaufhellend
wirkt“ (Pet 2-14-15-221-005387).

Seit 1998 kann Patientinnen und Patienten Dronabinol (Delta-9-THC), ein Can-
nabiswirkstoff, mit einem Betäubungsmittelrezept verschrieben werden. Da
Dronabinol allerdings in Deutschland im Gegensatz beispielsweise zu den USA
keine arzneimittelrechtliche Zulassung besitzt, werden die erheblichen Behand-
lungskosten – je nach Dosis im Allgemeinen zwischen 300 und 600 Euro pro
Monat – in der Regel nicht von den Krankenkassen übernommen. Für viele
Patientinnen und Patienten, die zudem krankheitsbedingt häufig über kein oder
nur ein geringes Erwerbseinkommen verfügen, bleibt Dronabinol daher uner-
schwinglich, während sich Patientinnen und Patienten mit hohem Einkommen
in Deutschland problemlos ein Privatrezept zur Behandlung mit diesem Canna-
binoid leisten können. Die Frage einer adäquaten Behandlung mit Cannabispro-
dukten ist in Deutschland daher heute auch eine soziale Frage.

Im Januar 2000 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss festge-
stellt, dass Patientinnen und Patienten eine Ausnahmegenehmigung zur medizi-
nischen Verwendung von Cannabis beim BfArM beantragen können (BVerfG,
Beschluss vom 20. Januar 2000 – 2 BvR 2382/99). Ein solcher Antrag sei nicht
von vornherein aussichtslos, da auch die medizinische Versorgung der Bevöl-
kerung ein im öffentlichen Interesse liegender Zweck nach § 3 Absatz 2 des
Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) sei, der im Einzelfall eine Ausnahmegeneh-
migung rechtfertige. Dennoch wurden in der Folgezeit alle entsprechenden An-
träge durch das BfArM abgelehnt. Im Mai 2005 rügte das Bundesverwaltungs-
gericht in einem Urteil diese Praxis und stellte fest, dass entsprechende Anträge

nicht pauschal abgelehnt werden dürfen, sondern dass die Selbstmedikation mit

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Cannabis angesichts der oft schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen
und des Mangels an alternativen, gleich wirksamen und verfügbaren Behand-
lungsmöglichkeiten durchaus im Einzelfall nach § 3 Absatz 2 BtMG erlaubnis-
fähig sei. Die Entscheidung liege im Ermessen der Behörde, das diese aber bis-
lang aufgrund ihrer strikten Verweigerungshaltung nicht ausgeübt habe.

Am 9. August 2007 hat das BfArM erstmals einen solchen Antrag einer an Mul-
tipler Sklerose erkrankten Patientin zur medizinischen Verwendung von Canna-
bis nach § 3 Absatz 2 BtMG genehmigt und in der Folgezeit vereinzelt weitere
Genehmigungen erteilt. Seitdem haben etwa 50 Patientinnen und Patienten die
Erlaubnis zum Bezug eines Extraktes oder von Cannabisblüten durch eine Apo-
theke erhalten. Die Kosten hierfür betragen jedoch bis zu 1 500 Euro (vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/4789) und werden in der Regel nicht von den Kranken-
kassen übernommen.

Zuletzt hat das BfArM einem Patienten die Erlaubnis verwehrt, Cannabis zum
Eigengebrauch anzubauen. Der Patient hatte geltend gemacht, die in seinem
Fall erheblichen Kosten für einen Cannabisextrakt nicht tragen zu können. Das
Verwaltungsgericht Köln hat am 21. Januar 2011 diese Entscheidung des
BfArM als „rechtswidrig“ verworfen (Az. 7 K 3889/09).

Wegen der erheblichen Kosten für eine Behandlung mit Dronabinol, Cannabis-
blüten oder einem Cannabisextrakt, verschaffen sich viele bedürftige Patientin-
nen und Patienten Cannabis auf andere Weise und geraten so unweigerlich mit
dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt. Die Folge sind häufig Strafverfahren,
die nur unter der Auflage eingestellt werden, zukünftig keinen Cannabis mehr
zu konsumieren. Da viele Patientinnen und Patienten auf eine regelmäßige Ein-
nahme von Cannabis angewiesen sind, werden sie zudem nicht selten als Wie-
derholungstäter oder wegen des Besitzes nicht geringer Mengen zu empfind-
lichen Geld- oder Haftstrafen nicht unter einem Jahr verurteilt. Damit werden
ausgerechnet jene Menschen der Strafverfolgung ausgesetzt, die aufgrund ihrer
teilweise schweren Erkrankung ohnehin körperlich und seelisch erheblich be-
lastet sind.

Auch der Verweis auf ein womöglich bald zugelassenes Fertigarzneimittel auf
Basis eines Cannabisextraktes hilft nicht weiter, weil für dieses Präparat ledig-
lich eine Zulassung für die Behandlung der Spastik bei Multipler Sklerose be-
antragt wurde. Patientinnen und Patienten mit einer anderen Erkrankung könn-
ten dieses Medikament daher nicht verschrieben bekommen. In einigen Jahren
ist zwar mit weiteren Zulassungen bzw. der Erweiterung um andere Indikatio-
nen zu erwarten, es wird jedoch immer Patientinnen oder Patienten geben, die
von diesen Zulassungen nicht profitieren. Cannabisprodukte haben ein breites
Wirkungsspektrum (siehe beispielsweise die Vielzahl der Indikationen, bei de-
nen Ausnahmegenehmigungen durch die Bundesopiumstelle erteilt wurden).
Es ist zu erwarten, dass nur für häufig auftretende Erkrankungen Zulassungs-
anträge gestellt werden, da sich für andere Indikationen der hohe finanzielle
Aufwand für eine Zulassung nicht lohnt. Daher ist dieses Problem nicht allein
durch die arzneimittelrechtliche Zulassung von Cannabisprodukten zu lösen.

Zudem ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes die Kostenüber-
nahme bei der Verwendung eines Arzneimittels außerhalb des zugelassenen
Anwendungsgebietes in der Regel derzeit nur dann möglich, wenn die Patientin
bzw. der Patient an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig zum Tode füh-
renden Erkrankung leidet (Az. B 1 KR 30/06 R).

Vor diesem Hintergrund schlägt dieser Antrag eine Regelung vor, durch die ein
betäubungsmittelrechtliches Strafverfahren bei Patientinnen und Patienten ver-
mieden werden kann, wenn sie Cannabis auf der Basis einer ärztlichen Empfeh-
lung besitzen, anbauen oder sich verschaffen. Derzeit werden Strafverfahren

von den Staatsanwaltschaften in der Regel nur dann eingestellt, wenn es sich

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um eine geringe Menge handelt. Im Wiederholungsfall kommt es völlig unab-
hängig von der Menge in vielen Fällen zu Strafverfahren. Verfahrenseinstellun-
gen aufgrund der §§ 34 und 35 des Strafgesetzbuchs finden in der Regel erst in
der Hauptverhandlung statt und führen damit häufig zu einer unnötigen psychi-
schen und finanziellen Belastung der Betroffenen. Eine Regelung zur Vermei-
dung betäubungsmittelrechtlicher Strafverfahren könnte zudem auch die
Rechtssicherheit bei Staatsanwaltschaften und Gerichten erhöhen und dort zu
einer Arbeitsentlastung führen.

Eine zweite Regelung hat zum Ziel, schwerkranken Patientinnen und Patienten
den Zugang zu einem Medikament auf Basis von Cannabis zu ermöglichen,
wenn für die Erkrankung keine andere Standardtherapie vorhanden ist. Dazu
wird das Bundesministerium für Gesundheit beauftragt, eine Expertengruppe
nach § 35c Absatz 1 SGB V zu berufen, deren Aufgabe es ist, Empfehlungen
zur zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln auf Basis von
Cannabis zu erstellen. Aufträge an die Expertengruppe können der Gemein-
same Bundesausschuss oder das Bundesministerium für Gesundheit erteilen.
Auf Grundlage der Empfehlungen des Expertengremiums und mit Zustimmung
der jeweiligen pharmazeutischen Unternehmen beschließt der Gemeinsame
Bundesausschuss über die Kostenübernahme durch die gesetzliche Kranken-
versicherung. Damit wird in diesen Fällen die Kostenübernahme auch für jene
Patientinnen und Patienten ermöglicht, die entgegen der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichtes nicht an einer lebensbedrohlichen oder zum Tode füh-
renden Erkrankung leiden.

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