BT-Drucksache 17/5618

Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/5132)

Vom 18. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5618
17. Wahlperiode 18. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald,
Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Sevim Dag˘delen, Klaus Ernst, Diana Golze,
Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Katja Kipping, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Thomas Nord, Katrin Werner, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/5132)

Die Fraktion DIE LINKE. hat die Bundesregierung in der Kleinen Anfrage
(Bundestagsdrucksache 17/4951) nach Konsequenzen und Handlungsnotwen-
digkeiten im Angesicht der Arbeitnehmerfreizügigkeit gefragt. Diese Fragen
wurden von der Bundesregierung teilweise ausweichend, teilweise gar nicht
beantwortet, ohne dies zu begründen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/5132),
weshalb die Fraktion DIE LINKE. die entsprechenden Fragen erneut stellt. Da
sich aus den Antworten überdies auch neue Fragen ergeben haben, werden diese
ergänzt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass man ihre Antworten auf die
o. g. Kleine Anfrage so zusammenfassen kann, dass die Bundesregierung im
Angesicht der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 keinerlei
Handlungsbedarf sieht?

Wenn nicht, welchen Handlungsbedarf sieht sie, und welche konkreten Maß-
nahmen wird sie wann ergreifen?

2. Wie bringt die Bundesregierung ihre Aussage, die Entsenderichtlinie müsse
nicht arbeitnehmerfreundlich revidiert werden, da sie „den Mitgliedstaaten
bereits nach geltender Rechtslage [ermöglicht], für grenzüberschreitend ent-
sandte Arbeitnehmer dieselben Arbeitsbedingungen vorzuschreiben, wie sie
für Arbeitnehmer eines im Inland ansässigen Arbeitgebers zwingend einzu-
halten sind“ (Bundestagsdrucksache 17/5132) in Einklang mit den Urteilen
des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Laval (EuGH C-341/05 vom
18. Dezember 2007), Rüffert (EuGH C-346/06 vom 3. April 2008) und
Luxemburg (EuGH C-319/06 vom 19. Juni 2008)?

a) Hat der Europäische Gerichtshof in den o. g. Urteilen nach Auffassung der

Bundesregierung die Entsenderichtlinie so ausgelegt, dass diese bezüglich
Arbeitsrecht und Entlohnung Maximalstandards festlegt, über die die Mit-
gliedstaaten nicht hinausgehen dürfen oder nicht (bitte begründen)?

b) Teilt die Bundesregierung die o. g. Interpretation der Entsenderichtlinie
als Maximalrichtlinie (bitte begründen)?

Drucksache 17/5618 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Wie genau begründet die Bundesregierung ihre in der genannten Antwort ge-
gebene Einschätzungen zur Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel,
welche die Aushebelung von Arbeitnehmerrechten durch die Binnenmarkt-
freiheiten generell verhindern würde?

a) Sieht die Bundesregierung die Binnenmarktfreiheiten (hier: Niederlas-
sungs- und Dienstleistungsfreiheit) als Grundrechte an, die (auf nationaler
und auf europäischer Ebene) den gleichen rechtlichen bzw. verfassungs-
mäßigen Rang haben wie soziale Grundrechte (z. B. das Streikrecht) (bitte
begründen)?

b) Wie bringt die Bundesregierung ihre Aussage, die Europäische Grund-
rechtecharta schaffe ein Gleichgewicht zwischen Binnenmarktfreiheiten
und Grundrechten in Einklang mit Artikel 53 der Charta („Keine Bestim-
mung der Charta ist als Einschränkung oder Verletzung der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten auszulegen.“)?

c) Wie soll nach Ansicht der Bundesregierung das von ihr im Zusammen-
hang mit der sozialen Fortschrittsklausel genannte Vorhaben der EU-
Kommission, gemeinsam mit einem Rechtsakt zur Entsenderichtlinie
einen Vorschlag für eine klärende Bestimmung zur Ausübung der sozialen
Grundrechte im Kontext der wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten zu
unterbreiten, etwas an dem durch das Viking-Urteil aufgeworfenen Pro-
blem ändern, dass die Niederlassungsfreiheit das Streikrecht einschränken
kann – insbesondere vor dem Hintergrund, dass es bei der Entsendericht-
linie nicht um Niederlassungsfreiheit geht?

d) Sofern das eben genannte Vorhaben der EU-Kommission an der Ein-
schränkung des Streikrechts nach Einschätzung der Bundesregierung
nichts ändern wird, wie soll das Streikrecht ihrer Meinung nach dann
künftig wirksam geschützt werden?

4. Wird sich die Bundesregierung im Rat der Europäischen Union dafür einset-
zen, dass entsprechend der Entschließung des Europäischen Parlaments vom
9. Oktober 2008 (2008/2034(INI)) die EU eine Zielvorgabe zum Niveau von
Mindestlöhnen in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durch-
schnittslohns vereinbart sowie des Weiteren dafür, dass ein Zeitplan zur Ein-
haltung dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten festgelegt wird?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

5. Warum genau sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu erleichtern, insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass die für allgemeinverbindlich erklärten Tarif-
verträge 2011 vermutlich wieder zurückgehen werden und es massive Kritik
an den Hürden der Allgemeinverbindlichkeitserklärung gibt?

6. Warum hält die Bundesregierung einen Branchenmindestlohn für die Land-
wirtschaft, die Forstwirtschaft, den Gartenbau, die Schlacht- und Fleischver-
arbeitungsbranche sowie für haushaltsnahe Dienstleistungen nicht für not-
wendig, um angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai 2011 (bzw. der
bereits bestehenden Freizügigkeit für saisonale Tätigkeiten seit dem 1. Januar
2011) Lohndumping im ausreichenden Maße zu verhindern?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Umgehungsmöglichkeit des Mindest-
lohns durch die in Polen mögliche und gängige Praxis einen Teil des Lohns
als Spesen auszuzahlen, welche nicht Sozialversicherungs- und steuerpflich-
tig sind (vgl. Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deut-
schen Bundestages zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, 4. April 2011, Aussage
des Sachverständigen Marek Rydzewski)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5618

a) Wie bewertet die Bundesregierung die Auswirkungen einer solchen Um-
gehung des Mindestlohns auf den deutschen Arbeitsmarkt nach dem
1. Mai 2011?

b) Kann diese Umgehungsmöglichkeit nach Meinung der Bundesregierung
genutzt werden, um polnischen Unternehmen Lohnkostenvorteile auf
dem deutschen Markt zu verschaffen?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

8. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit die Generalunternehmerhaf-
tung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) auf alle Branchen auszu-
weiten, um im Falle von illegaler Entsendung, z. B. durch Scheinselbststän-
digkeit, zu vermeiden, dass die illegal entsandten Beschäftigten, um den
ihnen zustehenden Lohn und ihre Sozialversicherungsbeiträge betrogen
werden (bitte begründen)?

9. Welche Angebote plant die Bundesregierung zur Information und Unterstüt-
zung der – ab dem 1. Mai 2011 sicherlich zunehmenden Anzahl von – ent-
sandten Beschäftigten bezüglich ihrer Rechte auf dem deutschen Arbeits-
markt?

a) Wird die Bundesregierung das Modellprojekt Berlin finanziell unterstüt-
zen und andere Bundesländer dazu anregen, ähnliche Beratungsstellen
einzurichten?

b) Welchen finanziellen Nutzen verspricht sich die Bundesregierung von
derartigen Beratungsstellen in Bezug auf ansonsten entgangene Sozial-
leistungen und Steuereinnahmen?

10. Warum plant die Bundesregierung zwar eine Ausweitung der Kontrollen
der Anwendung des AEntG auf Grund der zusätzlich aufgenommenen
Branchen, nicht jedoch angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit?

a) Wie reagiert die Bundesregierung auf die Warnung der Deutschen Zoll-
und Finanzgewerkschaft vor weiteren personellen Engpässen bei der
Überprüfung der Mindestlöhne durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
(FKS) (www.bdz.eu/medien_nachrichten_3045.php)?

b) Wie viel Prozent der Beschäftigten und wie viel Prozent der Unterneh-
men bzw. Arbeitgeber aus den dem AEntG unterfallenden Branchen hat
die FKS in den Jahren 2009 und 2010 kontrolliert (bitte differenzieren
nach Branche und Jahr)?

c) Wie hat sich das Verhältnis von Beschäftigten bei der FKS und den Be-
schäftigten in den Mindestlohnbranchen in den letzten Jahren verändert?

d) Wie haben sich die tatsächlichen Stellen bei der FKS in den letzten Jah-
ren entwickelt, werden durch die genannten neu zu schaffenden Planstel-
len die pauschalen Stelleneinsparungen kompensiert?

e) Wie wird sich die geplante Streichung von 15 000 Stellen in der gesam-
ten Bundesverwaltung bis 2014 auf die Stellensituation der FKS auswir-
ken?

f) Hat die unter dem ehemaligen Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück, erfolgte Regionalisierung der FKS Auswirkungen hinsicht-
lich der Kontrollintensität, und wenn ja, welche?

11. Wie erklärt die Bundesregierung den Rückgang der in der Bauwirtschaft
wegen Verstößen gegen das AEntG verhängten Bußgelder von knapp 30 Mio.
Euro im Jahr 2009 auf knapp 17 Mio. Euro im Folgejahr 2010?

Drucksache 17/5618 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

12. Bis wann wird die Bundesregierung eine Erfassung und damit eine Auswer-
tungsmöglichkeit von Verstößen gegen Mindestlohnregelungen für alle dem
AEntG unterfallenden Branchen umsetzen?

13. Auf welcher empirischen Grundlage kommt die Bundesregierung zu der
Aussage, seit den EU-Osterweiterungen sei zu beobachten, „dass die
Dienst- und Niederlassungsfreiheit missbräuchlich genutzt wird, die gelten-
den Vorschriften des Sozialversicherungs-, Steuer- und Arbeitsrechts zu
umgehen“, beispielsweise durch Scheinselbständigkeit?

14. Plant die Bundesregierung eine Wiedereinführung des 1998 eingeführten
und kurz danach wieder abgeschafften Verfahrens zur Bekämpfung der
Scheinselbständigkeit in § 7 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

15. Wie viele Kontrollen hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit in den von
Scheinselbständigkeit besonders betroffenen Branchen durchgeführt, wie
viele Missbrauchsfälle wurden festgestellt, und welche Sanktionen wurden
verhängt (bitte auch die Höhe der finanziellen Sanktionen angeben, alles
differenziert nach Branchen, Verstößen und Monat)?

16. Welche genauen Aufgaben hat die Task Force zur Bekämpfung des Miss-
brauchs der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit?

a) Wer ist an der Task Force beteiligt?

b) Ist die Arbeit dieser Task Force öffentlich, zumindest für die gewählten
Abgeordneten, gibt es z. B. Jahresberichte?

c) Auf welcher Grundlage arbeitet die Task Force, wenn die Bundesregie-
rung keine gesicherte Datengrundlage über Entsendung, Gewerbeanmel-
dungen etc. hat?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung die von der Bundesfachtagung Gewerbe-
recht 2010 geäußerte Kritik, dass der Wegfall der Anzeigepflicht zu Verstö-
ßen führt, da die Kompensation durch das Binnenmarkt-Informationssys-
tem zum einen noch nicht für alle Behörden zugänglich ist und zum anderen
die Kenntnisse der Behörden über die Zuständigkeiten im zuständigen Mit-
gliedstaat noch äußerst unzureichend sind?

18. Befürwortet die Bundesregierung die Wiedereinführung der Meldepflicht
im Gewerberecht, wie vom Deutschen Gewerkschaftsbund im Beschluss
vom 5. April 2011 zur Arbeitnehmerfreizügigkeit gefordert, um die Kon-
trollen aller in Deutschland tätigen Unternehmen durch die über sie erfass-
ten Daten überhaupt erst zu ermöglichen?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

19. Welche Verbesserungen der Datengrundlage plant die Bundesregierung be-
züglich des Problems der Scheinselbständigkeit?

a) Warum werden in der Statistik der Gewerbeanzeigen bezüglich der mit-
tel- und osteuropäischen Länder nur Gewerbeanmeldungen durch polni-
sche Staatsangehörige erfasst, obwohl die Bundesregierung in ihrer o. g.
Antwort schreibt, dass vor allem ein Missbrauch durch bulgarische und
rumänische Staatsangehörige zu beobachten ist?

b) Warum werden nur Einzelanmeldungen erfasst, geht die Bundesregie-
rung davon aus, dass (Schein-)Gewerbeanmeldungen nur über diesen
Weg erfolgen?

c) Wie will die Bundesregierung das Problem lösen, dass bei den Gewerbe-

anmeldungen nicht ersichtlich ist, ob jemand dauerhaft ein Gewerbe be-

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treibt oder nur einmal einige Wochen für einen Auftrag hier ist (Abgren-
zungsproblem Niederlassungsfreiheit/Dienstleistungsfreiheit)?

20. Welche Bedeutung hat die statistische Erfassung von nach Deutschland ent-
sandten Beschäftigten für die Bundesregierung?

a) Warum hat die Bundesregierung 2010 auf Bundestagsdrucksache 17/728
als Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. angege-
ben, es gäbe keine eigene Statistik zur Zahl der entsandten Beschäftigten
in Deutschland, obwohl diese seit 2005 bei der Deutschen Rentenversi-
cherung existiert – worauf die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die
aktuelle Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdruck-
sache 17/5132) selbst hinweist?

b) Inwieweit wertet die Bundesregierung die bei der Datenstelle der Träger
der Rentenversicherung in Würzburg gespeicherten Daten über Entsen-
dungen nach Deutschland aus?

c) Welche Aussagen lassen sich auf dieser Grundlage über die Entwicklung
der Anzahl entsandter Beschäftigter in Deutschland und über deren Her-
kunftsländer seit 2005 treffen (bitte sortiert nach Branchen)?

d) In welchen Punkten stimmen die in der o. g. Antwort erwähnten Zahlen
der EU-Kommission über Entsendungen mit den bei der Rentenversiche-
rung gesammelten überein, in welchen gibt es – warum – Abweichun-
gen?

e) Liegen der Bundesregierung die Daten über Entsendungen vor, die nach
§ 18 AEntG an die Bundesfinanzdirektion West gemeldet werden müs-
sen?

Wenn ja, in welcher Form?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

f) Ist es richtig, dass die umfassende statistische Erfassung der Entsende-
daten bei der Bundesfinanzdirektion West in erster Linie ein technisches
Problem (fehlende Software) ist?

Wenn ja, (wann) plant die Bundesregierung eine entsprechende Ausstat-
tung der Bundesfinanzdirektion West?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

21. Hält die Bundesregierung es für notwendig, die staatliche Förderung der
Antirassismusarbeit auszuweiten, um rechtsradikaler Propaganda im Ange-
sicht und infolge der Arbeitnehmerfreizügigkeit entgegenzuwirken?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

Berlin, den 18. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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