BT-Drucksache 17/5192

Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens

Vom 23. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5192
17. Wahlperiode 23. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy,
Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Ulrike
Höfken, Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Tom Koenigs,
Agnes Malczak, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Millionen von Menschen streben in den Staaten des Nahen Ostens und Nord-
afrikas von Marokko bis Bahrain nach mehr Freiheit, der Verwirklichung ihrer
Menschenrechte und wirtschaftlichem Fortschritt. Sie stehen auf gegen Unterdrü-
ckung, korrupte Herrscher, die ungerechte Verteilung von Wohlstand, verkrustete
Macht- und Gesellschaftsstrukturen und für mehr politische Rechte. Die Länder
der Region stehen am Beginn einer neuen Ära.

Die Entwicklungen seit Mitte Dezember 2010 zeigen, dass es den vielen Männern
und Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit unglaublich viel Mut und Beharr-
lichkeit gelungen ist, gesellschaftliche Strukturen infrage zu stellen und Machtha-
ber wie in Tunesien und Ägypten zum Rücktritt zu zwingen, die bis vor kurzem
noch als unantastbar galten, ja sogar von europäischen Staaten umworben und ho-
fiert wurden. Der Deutsche Bundestag äußert seinen großen Respekt gegenüber
den Menschen, die sich für Freiheit und Demokratie in ihren Ländern oft unter
Einsatz ihres Lebens einsetzen.

Die Beispiele Bahrain, Jemen und vor allem Libyen zeigen allerdings in schreck-
licher und dramatischer Weise, dass es in der Region auch Regime gibt, die nicht
davor zurückschrecken, auf eine Freiheitsbewegung im Land mit brutaler Gewalt
gegen die eigene Bevölkerung zu reagieren. Der Deutsche Bundestag verurteilt
ohne Wenn und Aber die offenkundigen und systematischen Menschenrechtsver-
letzungen von Muammar al-Gaddafis Regime, wie beispielsweise wahllose An-
griffe auf die Zivilbevölkerung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat mit
seiner einstimmig gefassten Entscheidung, die Situation in Libyen an den Inter-
nationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu überweisen, ein deutliches
und wichtiges Signal gesetzt, dass diejenigen, die verantwortlich für schwerste
Menschenrechtsverletzungen sind, nicht straffrei davonkommen werden. Der

Deutsche Bundestag begrüßt diese Entscheidung und unterstützt die Ermittlungen
des IStGH.

Der Vormarsch von Muammar al-Gaddafis Truppen stellt die internationale Ge-
meinschaft vor ein schwieriges Dilemma. Die internationale Verantwortung zum
Schutz der Menschen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen muss gegen-
über der Gefahr einer weiteren Eskalation und Ausweitung des Konflikts abgewo-
gen werden. Militärische Kriegsgewalt ist immer ein Übel. In diesem Dilemma

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gibt es keine einfache Entscheidung. Nach langer Abwägung aller Risiken ist der
UN-Sicherheitsrat zu einer Entscheidung gekommen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die Forderungen des UN-Sicherheitsrats nach
einem sofortigen Waffenstillstand und einem Ende der Gewalt. Der Diktator
Muammar al-Gaddafi muss der Aufforderung des Sicherheitsrates umgehend fol-
gen; seine Truppen müssen den Waffenstillstand strikt einhalten. Die Maßnahmen
der Vereinten Nationen sind insgesamt politisch notwendig, um die Bevölkerung
vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass der Sicherheitsrat die Entsendungen von
Besatzungstruppen ausdrücklich ausschließt. Der UN-Sicherheitsrat hat die Ent-
sendung eines Sondergesandten der Vereinten Nationen nach Libyen beschlossen,
um eine Lösung der Krise zu finden, die den legitimen Forderungen des libyschen
Volkes entspricht. Zudem werden Schutzzonen für die Zivilbevölkerung eingerich-
tet und angekündigt, jeden drohenden Angriff notfalls mit Gewalt zu unterbinden.

Die damit verbundene Einrichtung einer Flugverbotszone erhöht den Druck auf
das Regime. Diese Maßnahmen und die Durchsetzung eines Waffenembargos ver-
schaffen Zeit, damit die ebenfalls verschärften Sanktionen an Wirkung gewinnen
können.

Der libysche Staat verletzt gegenwärtig seine Schutzverantwortung gegenüber der
eigenen Bevölkerung vorsätzlich. Aus völkerrechtlichen und menschenrechtli-
chen Gründen ist es daher notwendig und richtig, dass die internationale Staaten-
gemeinschaft in dieser besonderen Situation ihre Schutzverpflichtung gegenüber
der libyschen Bevölkerung wahrnimmt. Bei der Durchsetzung der Flugverbots-
zone müssen alle möglichen Mittel eingesetzt werden, um zivile Opfer zu vermei-
den. Es ist aber zu befürchten, dass die Durchsetzung einer Flugverbotszone zu
hohen Verlusten in der Zivilbevölkerung führen könnte. Bei der Durchführung der
Flugverbotszone ist auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu achten und dem
Schutz der Zivilbevölkerung höchste Priorität zu geben.

Die „Responsibility to Protect“ beinhaltet zivile und militärische Maßnahmen.
Die in der UN-Sicherheitsratsresolution genannten zivilen Maßnahmen sollten
umfassend umgesetzt und die militärischen Mittel genutzt werden, um weitere
schwerste Menschenrechtsverletzungen durch das libysche Regime zu verhindern.

Ein Einsatz deutscher Truppen in Libyen ist durch die Resolution des UN-
Sicherheitsrates nicht erforderlich. Der Deutsche Bundestag hält ihn auch nicht
für geboten und fordert die Bundesregierung auch nicht dazu auf. Der Deutsche
Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung durch ihr ganzes Auftreten den
Anschein erweckt, als seien die Unterstützung und der Schutz der Opposition in
Libyen kein ernsthaftes Anliegen ihrer Politik. Die Enthaltung der deutschen Bun-
desregierung hat die Spaltung Europas verschärft. Auch mit einer Zustimmung
zur Sicherheitsratsresolution hätte man in einem Anhang zur Resolution erklären
können, welche Risiken ein militärischer Einsatz in sich birgt und dass man sich
nicht an allen beschlossenen Maßnahmen beteiligen wird. Deutschland hat sich
international isoliert. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
sich aktiv für die Umsetzung der Sanktionen, für die Durchsetzung des Waffen-
embargos und die Versorgung und Aufnahme von Flüchtlingen einzusetzen. Die
Bundesregierung muss innerhalb der EU und der UN mit für eine vollständige und
sofortige Umsetzung des Ölembargos Sorge tragen.

Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
(UNHCR) sind über 200 000 Menschen aus Libyen nach Tunesien, Ägypten und
in den Niger geflohen. Bereits jetzt existieren große Flüchtlingslager an den Gren-
zen zu Tunesien und Ägypten. Darunter sind ehemalige, in Libyen tätige Arbeiter
aus anderen Ländern wie beispielsweise Eritreer und Somalier, die nicht mehr in
ihre Heimat zurückkehren können und deshalb auf internationale Hilfe angewie-

sen sind. Die USA, Kanada und Australien haben ihre Bereitschaft für eine Auf-
nahme dieser Menschen bereits signalisiert und damit ein Vorbild für Europa ge-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5192

geben. Die Europäische Union ist gefordert, dem Beispiel dieser Staaten nachzu-
kommen.

Die Europäische Union muss sich auch auf eine Flüchtlingswelle von Libyerinnen
und Libyern einstellen, die vor der Gewalt und der Rache Muammar al-Gaddafis
fliehen werden. Als politisch Verfolgte genießen sie das Recht auf Asyl und sind
nach der Genfer Flüchtlingskonvention schutzbedürftig. Es muss eine europäische
Lösung für ihre Sicherheit gefunden werden. Im Rahmen der „Responsibility to
Protect“, der internationalen Schutzverantwortung, ist es erforderlich, dass die
internationale Gemeinschaft sich auf eine humanitäre Katastrophe im Osten
Libyens und in Abstimmung mit der ägyptischen Regierung auf die Aufnahme
großer Flüchtlingsbewegungen vorbereitet und deutlich macht, dass sie schwerste
Menschenrechtsverbrechen nicht tatenlos hinnehmen wird.

Alarmierend ist auch das Beispiel Bahrein, wo viele tausend Menschen seit Wo-
chen auf den Straßen demonstrieren gegen Unterdrückung durch den absolutistisch
regierenden König, gegen Korruption und für gleiche Rechte und gute Regierungs-
führung. Der Deutsche Bundestag verurteilt die staatliche Gewalt gegen die
Demonstranten in Bahrain und in Jemen, durch die Menschen getötet, zahlreiche
verletzt und ins Gefängnis geworfen wurden. Er verurteilt auch die Intervention in
Bahrain mit über tausend Soldaten mit schwerem Kriegsgerät und 500 Polizisten
aus Saudi-Arabien auf Befehl des dortigen absoluten Herrschers. Nachdem in
Ägypten, dem größten und einflussreichsten arabischen Staat, der bisherige Herr-
scher abtreten musste, gibt es für kein Regime in der Region mehr eine Bestands-
sicherheit. Es gibt allerdings auch keine Garantie, dass sich revolutionäre Entwick-
lungen so wie in Ägypten und Tunesien und nicht wie in Libyen vollziehen werden.
Und auch in Tunesien und Ägypten selbst stehen die Gesellschaften am Anfang ei-
ner langen und schwierigen Entwicklung. In Ägypten etwa ist es nach wie vor of-
fen, ob sich nicht doch die alten Eliten durchsetzen, da sie über entsprechende
Strukturen verfügen. Wie fragil die Situation ist, zeigen die fortgesetzten Demons-
trationen und Auseinandersetzungen auf den Straßen. Offen sind die künftigen
Machtstrukturen. Vorrangig müssen unter breiter Einbeziehung der Bevölkerung
neue Verfassungen erarbeitet und anschließend freie und faire Wahlen durchge-
führt werden. Die Übergangsregierungen müssen diese Demokratiewerdungspro-
zesse organisieren und dürfen nur zeitlich befristet im Amt bleiben. Diese Fragen
erfordern Diskussionsprozesse zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen und eine Mehrheitsfindung. Die Unterstützung des neuen und die Äch-
tung des alten Regimes müssen daher nachhaltig und langfristig angelegt werden.

Wichtig ist auch, dass Frauen, die bei den Protesten zum Sturz der Regime eine
wichtige Rolle gespielt haben, nicht von politischer Partizipation abgeschnitten
werden. Der Deutsche Bundestag unterstützt daher die Forderung ägyptischer
Frauenorganisationen. Frauen müssen in der Übergangsregierung, bei der Verfas-
sungsreform und bei den Wahlen gleich beteiligt werden.

Die Reaktionen der Politik in der EU und in der Bundesrepublik Deutschland auf
die mutigen und ausdauernden Proteste der Menschen in der arabischen Welt wa-
ren zunächst beschämend. Das ist nicht verwunderlich angesichts der bisherigen
europäischen, aber auch deutschen Politik. Vor allem nach dem 11. September
2001 wurde die Politik gegenüber arabischen und islamischen Staaten auf den
Kampf gegen den islamistischen Terrorismus eingeengt. Einseitig wurde auf
vermeintliche Stabilität in den Ländern und auf enge Bündnisse mit autoritären
Regimen gesetzt. Dabei wurden die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und der
Schutz und die Durchsetzung von Menschenrechten vernachlässigt. Zu vielen der
autoritären Regime unterhielten Deutschland und Europa gute wirtschaftliche und
politische Beziehungen und unterstützten sie somit finanziell, materiell und ideell.
Aber auf Stabilität zu setzen, ohne Demokratie und Menschenrechte ausreichend
zu fördern, war ein fataler Irrweg. Diese vermeintliche Stabilität war nicht nach-

haltig. Demokratische Entwicklung wurde dem Kampf gegen den Terrorismus
und einer zynischen Flüchtlingsabwehrpolitik geopfert. Auch die Bundesregie-

Drucksache 17/5192 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

rungen der vergangenen zehn Jahre haben hier keine gute Rolle gespielt und es
nicht vermocht, hinreichende Vorstellungen für eine Politik für gute Regierungs-
führung, Demokratie und Menschenrechte gegenüber Despoten und autokrati-
schen Regimen zu entwickeln.

Alle Maßnahmen und Angebote für die Länder der Region müssen auf soliden
Analysen der Sachlage und einem Dialogprozess beruhen und benennen, mit wel-
chen Akteuren und mit welchen Konzepten vorgegangen werden soll. Deutschland
und die EU müssen den arabischen Gesellschaften auf Augenhöhe begegnen, ohne
zu belehren, welches der beste Weg zur Demokratie ist. Problematisch ist in diesem
Zusammenhang vor allem, dass es in Deutschland nur in begrenztem Maße Fach-
wissen zu der Region gibt. In der Vergangenheit wurde vor allem im Bereich der
universitären Forschung sowie bei den großen Think-Tanks Mittel und Stellen für
eine regionale Forschung zu Nordafrika und dem Nahen Osten reduziert.

Die Politik der doppelten Standards und der Doppelmoral in der europäischen Au-
ßenpolitik muss jetzt aufhören. Auch die EU muss die Lehren aus den Umbrüchen
in der arabischen Welt ziehen. Wir brauchen einen klaren Kompass: Eine Nachbar-
schaftspolitik ohne Förderung von Demokratie und Menschenrechten darf es nicht
mehr geben. Jede Unterstützung muss dabei partnerschaftlich und nicht paternalis-
tisch angelegt sein. Maßnahmen müssen sich viel stärker direkt an die Zivilgesell-
schaft wenden. Die Kolonialgeschichte in diesen Ländern und die zu oft unrühm-
liche Rolle Europas in den postkolonialen Jahren muss aufgearbeitet werden.

Der Deutsche Bundestag kritisiert daher die bisherige Uneinigkeit und mangelnde
Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Der neue Europäische Auswärtige
Dienst mit Catherine Ashton an der Spitze hat in der Krise versagt – nicht nur
wegen der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten. Bis heute wurde keine kritische
Bilanz der Politik der vergangenen Jahre gezogen. Insbesondere die mit großem
Pomp ins Leben gerufene „Union für das Mittelmeer“ ist dramatisch gescheitert
und hat ihre Versprechungen in keinster Weise eingehalten. Auch die Bundes-
regierung hat zu lange gezögert und gezaudert, Partei für die Demokratiebewe-
gungen zu ergreifen. In der Flüchtlingspolitik lässt die Bundesregierung immer
noch ausreichende Humanität und europäische Solidarität gegenüber den Betrof-
fenen vermissen.

Angesichts der Größe der Aufgaben, die in den verschiedenen Staaten nach dem
Sturz der bisherigen Machthaber bewältigt werden müssen, ist eine gemeinsame
und kohärente Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zwin-
gend notwendig, um die notwendige Unterstützung und Finanzierung aufzubrin-
gen und effizient umzusetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die zivilen Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime vollständig umzusetzen,
jede wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Gaddafi-Regime einzustellen
und eine vollständige Zahlungsblockade für Öllieferungen durchzusetzen;

2. sich dafür einzusetzen, dass der militärische Einsatz strikt an das humanitäre
Völkerrecht und die Menschenrechte gebunden und verhältnismäßig im Ein-
satz der Mittel ist;

3. die humanitäre und medizinische Hilfe für die Bevölkerung und die Flüchten-
den an den Grenzen zu Tunesien und Ägypten aufzustocken und zu beschleu-
nigen. Die EU und auch die UN müssen dafür sorgen, dass Fluchtwege für die
Menschen offen stehen, die sich in Sicherheit bringen wollen. Zum Schutz der
Transitflüchtlinge, die aus anderen afrikanischen Staaten nach Libyen gekom-
men sind oder im Rahmen der bestehenden Rücknahmeabkommen von den eu-
ropäischen Staaten wieder nach Nordafrika zurückgeschickt wurden, müssen

die EU-Staaten ein Resettlement-Programm auflegen. Den vom Gaddafi-
Regime Verfolgten muss in europäischen Staaten Zuflucht gewährt werden;

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4. den Internationalen Strafgerichtshof in seinen Ermittlungen gegen Muammar
al-Gaddafi zu unterstützen, indem Erkenntnisse der Bundesregierung und
der Geheimdienste sowie finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden;

5. Kontakte zum vorläufigen Nationalen Übergangsrat Libyens aufzunehmen
und auszubauen;

6. sich dafür einzusetzen, dass die Staatengemeinschaft ihre Schutzverpflich-
tung für die Bevölkerung in den Golfstaaten insbesondere derzeit in Bahrain
und im Jemen wahrnimmt und notfalls auch mit zivilen Sanktionen dafür
Sorge trägt, dass die dortigen Demokratiebewegungen nicht gewaltsam un-
terdrückt, keine Menschen getötet und verletzt werden und keine Interven-
tionen durch Nachbarstaaten mit Militär und Polizei stattfinden;

7. sich für eine umfassende Unterstützung der Demokratisierungsbewegungen
seitens der EU für die betroffenen Länder der arabischen Welt einzusetzen
und dabei auch die Forderung der Frauen sowie der religiösen, ethnischen,
sexuellen und anderen sozialen Minderheiten dieser Länder nach angemes-
sener Beteiligung zu unterstützen. Die EU sollte dafür kurz- und mittelfris-
tig humanitäre Nothilfe leisten und langfristig die wirtschaftliche, soziale
und rechtsstaatliche Entwicklung politisch und finanziell unterstützen.
Diese Politik muss in enger Abstimmung mit den arabischen Partnern ent-
wickelt werden und nachhaltig und von langer Dauer sein, um einen Rück-
fall in alte Verhältnisse zu vermeiden;

8. eine neue und überarbeitete europäische Nachbarschaftspolitik anzustre-
ben, statt weiterhin auf die gescheiterte „Union für das Mittelmeer“ zu set-
zen. Dabei dürfen die östlichen Nachbarn der EU nicht gegen die Länder im
Süden ausgespielt werden, sondern müssen gleichermaßen zum Aufbau de-
mokratischer Strukturen ermutigt werden. Unterstützung und Stärkung der
Zivilgesellschaft, eine Verbesserung der Menschenrechtslage und Ge-
schlechtergerechtigkeit, Unterstützung beim Aufbau von Rechtsstaatlich-
keit und Demokratie, insbesondere des Justizwesens, sind Kernpunkte einer
neuen Nachbarschaftspolitik. Zu diesem Zweck muss die EU zunächst stär-
kere Kontakte und einen Dialog in die Zivilgesellschaften der Region auf-
bauen sowie die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen aus-
bauen und die EU-Hilfe an staatliche Stellen stärker konditionieren. Analog
zum Erweiterungsprozess müssen klare Kriterien für die Vergabe von EU-
Mitteln und den Annäherungsprozess der Partnerländer an die EU einge-
führt werden. Die Aufwertung eines Landes im Rahmen der Nachbar-
schaftspolitik („fortgeschrittener Status“) sollte zukünftig aufgrund einer
transparenten Bewertung der rechtsstaatlichen Reformen und entwick-
lungspolitischen Fortschritte durch die Europäische Kommission erfolgen –
und nicht aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Opportunitätserwägun-
gen einzelner EU-Regierungen. Kurzfristig geht es auch darum, die Vorbe-
reitung und Durchführung von Wahlen zu begleiten und dabei insbesondere
auch die Einbeziehung der neuen politischen Kräfte zu fördern;

9. den neuen Demokratien der Region Unterstützung bei der Vorbereitung und
Durchführung von Wahlen anzubieten und dabei darauf zu achten, dass
neue politische Kräfte nicht durch Verfahren oder Wahltermine benachtei-
ligt werden;

10. für die betroffenen Länder von Seiten der Bundesregierung humanitäre Hilfe
bereitzustellen, insbesondere für den Bereich der Nahrungsmittelhilfe;

11. aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Beziehungen zu autori-
tären, undemokratischen Regimen, die schwere Menschenrechtsverletzungen
begehen, und zu nicht demokratisch legitimierten Herrschern auf das diploma-

tisch Gebotene zu beschränken, sich für die Einhaltung der Menschenrechte,
die Schaffung von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen und guter

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Regierungsführung beharrlich einzusetzen und jede Zusammenarbeit zu ver-
meiden, die zur Unterdrückung von Bevölkerung und Freiheitsrechten miss-
braucht und der Legitimierung des Regimes missbraucht werden kann;

12. auf eine Übereinstimmung der Handels- und Wirtschaftspolitik mit der Men-
schenrechtspolitik zu achten. Dabei sollten der UN-Zivilpakt, der UN-Sozial-
pakt und sämtliche UN-Abkommen zur Beseitigung jeglicher Form von Dis-
kriminierung im Fokus stehen und die Pflichten von Vertragsparteien in Ab-
kommen klar und in einer objektiv überprüfbaren Art und Weise benannt
werden. Zudem sollten Bundesregierung und EU zur Stärkung der Menschen-
rechte in den einzelnen Ländern die Unterstützung bei Reformen der Vereini-
gungsfreiheit, der Strafrechts-, Polizei- und Justizreformen, der Religionsfrei-
heit, des Diskriminierungsschutzes und der politischen Partizipation anbieten.
Hierbei gilt es, auch Frauenorganisationen und Minderheiten gezielt zu unter-
stützen und in die Reformprozesse einzubeziehen. Die Bundesrepublik
Deutschland und die EU sollten Mediations- und Dialogprozesse und eine
Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in den einzelnen Ländern
unterstützen und für den Übergang zu einem neuen Rechts- und Justizwesens
ihre Zusammenarbeit anbieten. Für derartige Maßnahmen muss es jenseits von
humanitärer Nothilfe schnell verfügbare Haushaltsmittel geben, die im Sinne
von ziviler Konfliktbearbeitung sofort und flexibel in politische Projekte
fließen können;

13. die Forschung zu der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas zu stärken
und auszubauen. Dabei sollte ein besonderer Schwerpunkt auf länderspezifi-
sche Gesellschafts- und Kulturforschung gelegt werden;

14. die bisherige Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands und der EU mit
den Staaten der Region kritisch zu hinterfragen. Um Angebote zu machen,
müssen Europa und Deutschland nachfragen, wo von Seiten der arabischen
Gesellschaften Bedarfe bestehen, sowie Foren und Möglichkeiten für einen
zivilgesellschaftlichen Austausch herstellen. Dabei spielen neben existieren-
den Kontakten aus Wissenschaft und Forschung die politischen Stiftungen
mit ihren Erfahrungen eine zentrale Rolle, die in ihrer Arbeit weiter gestärkt
werden müssen. Die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern der Re-
gion muss qualitativ und quantitativ ausgebaut werden. Dieser Ausbau soll
auf einer abgestimmten internationalen Geberkoordinierung beruhen und im
Einklang mit den Partnern in der Region stehen, um einen sinnvollen Einsatz
der Mittel sicherzustellen. Zentral sollten die Bereiche Demokratieförderung,
Stärkung der Zivilgesellschaft, Frauenförderung, Bildung, Wirtschaftsent-
wicklung und Aufbau einer unabhängigen Justiz gefördert werden. Maßnah-
men in den genannten Bereichen sollte eine Expertise in Konfliktmediation
zur Seite gestellt werden, um die unweigerlich entstehenden Konflikte in Um-
bruchgesellschaften konfliktsensitiv bearbeiten zu können. Die kurzfristig
gemachten Mittelzusagen müssen für die Geber bindend sein, langfristig aus-
gelegt werden und dürfen nicht auf Kosten anderer Programme, Projekte oder
Regionen gehen. Der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung (BMZ) eingerichtete Sonderfonds für Demokratie-
beratung, für Qualifizierung und Beschäftigung junger Menschen sowie die
Förderung von Kleinst- und Kleinunternehmen sollen in einem ressortüber-
greifenden Ansatz und in engem Austausch mit den Partnerinnen und Partnern
vor Ort verstetigt und finanziell ausgebaut werden. Budgethilfen der EU ge-
genüber diesen Ländern müssen künftig stärker an demokratische Reformen
und messbare Verbesserungen der Menschenrechtslage gebunden werden;

15. sich für einen erweiterten Zugang für die Länder dieser Region zum Binnen-
markt der EU einzusetzen, um die Wirtschaft in diesen Ländern zu stärken.

Insbesondere braucht es einen leichteren Zugang von landwirtschaftlichen
Produkten aus diesen Ländern in die EU. Auch der Ausbau von erneuerbaren

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5192

Energien bietet ein großes Potential für diese Länder. Diesen müssen
Deutschland und die EU unterstützen. In den Ländern des Nahen Ostens und
Nordafrikas tätige deutsche und europäische Unternehmen sind gefordert,
hohe Menschenrechts-, Sozial- und Umweltstandards einzuhalten, um damit
Impulse für eine nachhaltige Entwicklung und die Schaffung einer sozialen
und gerechten Wirtschaftsordnung zu geben;

16. sich gegen Pläne der EU einzusetzen, Atomkraftwerke oder Atomtechnik in
die Region zu exportieren. Exportsubventionen und -bürgschaften für Atom-
technologie dürfen nicht vergeben werden;

17. Instrumente zu entwickeln, die Nettoimporteuren von Getreide eine größere
Unabhängigkeit vom stark schwankenden Weltmarktpreis ermöglichen. Der-
zeit sind die nordafrikanischen Partnerländer alle in mehr oder weniger
großem Umfang auf Getreideimporte zur Versorgung ihrer Bevölkerung an-
gewiesen. Die stark schwankenden Weltgetreidepreise wirken sich unmittel-
bar auf das Haushaltseinkommen der Bevölkerung aus. Deshalb müssen auf
internationaler Ebene Bemühungen vorangebracht werden, die einerseits die
Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen und andererseits auch Instru-
mente für diese Länder entwickelt werden, wie diese eigene Getreidereserven
kostengünstig aufbauen können;

18. der jungen Generation in den Ländern gezielte Unterstützungsangebote zu
machen. Dazu soll die Bundesregierung die Bildungs- und Wissenschafts-
kooperation verstärken, Hochschulpartnerschaften fördern, Akademiker/Aka-
demikerinnenaustausch verbessern und Studierenden, insbesondere auch Wis-
senschaftlerinnen und Studentinnen aus diesen Ländern über Visaerleichte-
rung und Stipendien Hochschulzugang ermöglichen. Angebote im Bereich
Grund- und Hochschulbildung müssen dabei immer im Zusammenhang mit
beruflicher Qualifizierung und beruflichen Chancen geplant werden. Das
Kulturabkommen mit Algerien sollte zügig zum Abschluss gebracht werden;

19. den Export von Waffen, Rüstungsgütern und Repressionsmitteln an autoritäre
Regime umgehend zu unterbinden. Die Rüstungsexportrichtlinien der Bun-
desregierung und der Gemeinsame Standpunkt zu Waffenausfuhren der EU
müssen im restriktiven Sinne und überprüfbar eingehalten werden. Künftige
Ausbildungshilfe und andere Unterstützung im Bereich der Reform des
Sicherheitssektors müssen dem Aufbau demokratisch kontrollierter Sicher-
heitskräfte dienen und den Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie die Ein-
haltung von Menschenrechten in den Mittelpunkt stellen;

20. den Vorbereitungsprozess für eine Konferenz zur Schaffung einer massenver-
nichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten, wie sie entspre-
chend dem Abschlussbericht der Überprüfungskonferenz des Atomwaffen-
sperrvertrages von der UNO für 2012 geplant ist, aktiv zu unterstützen und
vertrauensbildende Maßnahmen für eine verbesserte sicherheitspolitische
Zusammenarbeit in der Region zu fördern;

21. die von starken Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen betroffenen
Staaten zur Bewältigung dieser Herausforderung humanitär, personell und
finanziell zu unterstützen und zu wesentlichen Verbesserungen des Flücht-
lingsschutzes sowie zur Einhaltung der internationalen Standards des Men-
schenrechtsschutzes, insbesondere zur Einhaltung der Genfer Flüchtlings-
konvention und des „Non-refoulement“-Prinzips zu drängen;

22. auf eine Veränderung der europäischen Flüchtlingspolitik hinzuwirken. Die
EU-Innenminister müssen beschließen, die Zurückweisung und das Abdrän-
gen von Bootsflüchtlingen aus Nordafrika sofort zu beenden. Das Mandat
von FRONTEX (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an

den Außengrenzen) muss auf die Bewältigung humanitärer Aufgaben er-
weitert werden. Die EU-Mitgliedstaaten sind gefordert, entsprechende Res-

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sourcen und Personal zur Verfügung zu stellen. FRONTEX-Einsätze müssen
eine menschenwürdige Unterbringung der Ankommenden und ein faires Ver-
fahren zur Prüfung der Schutzbedürftigkeit, das menschen- und flüchtlings-
rechtlichen Standards genügt, garantieren. Dazu sind die Zusammenarbeit
mit und die Finanzierung von UNHCR und den Nichtregierungsorganisatio-
nen vor Ort unerlässlich. Schutzsuchende Flüchtlinge haben das Recht auf ein
faires Asylverfahren und darauf, in einen sicheren europäischen Hafen ge-
bracht zu werden. Daher muss das FRONTEX-Mandat abgeändert und an die
humanitären Herausforderungen angepasst werden. Hierzu bedarf es einer
verstärkten menschenrechtlichen Ausbildung der Beamtinnen und Beamten
sowie neuer Einsatzformen und neuer Infrastruktur. Die bisherige europäi-
sche Kooperationspolitik mit diktatorischen Regimen zur Flüchtlingsabwehr
muss beendet werden. Bilaterale Rücknahmeabkommen der EU-Mitglied-
staaten mit autoritären Regimen müssen sofort ausgesetzt werden. Sollte es
zu größeren Fluchtbewegungen kommen, insbesondere durch die politischen
Flüchtlinge aus Libyen, fordern wir einen solidarischen Lastenausgleich
unter den Mitgliedstaaten der EU nach humanitären Kriterien zugunsten der
primär vom Flüchtlingsdruck betroffenen Staaten. Dafür bietet die Richtlinie
zum vorübergehenden Schutz (2001/55/EG) eine angemessene Grundlage.
An den EU-Außengrenzen muss eine europäische Lösung gefunden werden,
die allen entsprechenden internationalen und europäischen Konventionen
und menschenrechtlichen Ansprüchen gerecht wird. Alle Mitgliedstaaten der
EU sind für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern verantwort-
lich. Eine Neuverhandlung der Dublin-II-Verordnung ist unbedingt notwen-
dig, um eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen in der Europäischen
Union zu ermöglichen. Besonders für Umbruchstaaten wie Ägypten und
Tunesien müssen neue Möglichkeiten für eine legale Einwanderung in die EU
geschaffen werden, zum Beispiel in Form vereinfachter Zulassungsverfahren
für Fachkräfte und Verfahren für eine mehrfache Einreise;

23. sich dafür einzusetzen, dass illegal außer Landes geschafftes Geld auf euro-
päischen Konten sowie Vermögens- und Sachwerte unverzüglich eingefroren
und die so sichergestellten Mittel mittelfristig für eine nachhaltige Entwick-
lung der Länder eingesetzt werden;

24. gegenüber Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde auf eine Re-
gelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes zu drängen. Die Sicherheit
des Staates Israel ist nicht verhandelbar, und Befürchtungen in Israel ange-
sichts der Entwicklungen müssen ernst genommen werden. Friedensverträge
mit Ägypten und Jordanien sind wichtige Aspekte dieser Sicherheit, und die
Bundesregierung sollte sich gegenüber den neu entstehenden Regierungen
für ein Festhalten an diesen einsetzen. Gleichzeitig muss die israelische Re-
gierung gedrängt werden, proaktive Schritte in eine Richtung zu gehen, die
einen ernsthaften Willen zur Beendigung der Besetzung der palästinensischen
Gebiete und der Golanhöhen zeigen. Die Demokratiebewegungen in den
palästinensischen Autonomiegebieten müssen ebenso unterstützt werden wie
die in den übrigen Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas.

Berlin, den 22. März 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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