BT-Drucksache 17/4585

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung - Drucksachen 17/4402, 17/4561 - Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 27. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4585
17. Wahlperiode 27. 01. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy,
Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Ingrid Hönlinger,
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Agnes Malczak, Dr. Konstantin von Notz,
Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 17/4402, 17/4561 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland hat unter dem Mandat der Vereinten Nationen, im Rahmen der
International Security Assistance Force (ISAF), auf Wunsch der afghanischen
Regierung und unter Beteiligung zahlreicher Partner Verantwortung in Afgha-
nistan übernommen. Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den afgha-
nischen Frauen und Männern, den zivilen Helferinnen und Helfern, den Solda-
tinnen und Soldaten und den Vereinten Nationen und halten an dem Ziel eines
stabilen afghanischen Staates fest, der nach gängigen rechtsstaatlichen Normen
operiert und die Menschenrechte seiner Bürgerinnen und Bürger respektiert,
schützt, fördert und garantiert.

Vor einem Jahr hat die internationale Gemeinschaft, angestoßen von der neuen
US-Regierung, auf den Konferenzen in London und Kabul einen Strategiewech-
sel vollzogen. Die großflächige Aufstandsbekämpfung durch Einheiten der
USA sowie von ISAF-Truppen gemeinsam mit der afghanischen Armee hat
nicht den behaupteten Erfolg gebracht. 2010 wurden mehr Menschen in Afgha-
nistan getötet oder verletzt als in jedem anderen Jahr seit Beginn des Einsatzes.

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert. Ob dies 2011 geschehen wird, ist
fraglich.

Militärisch kann der Konflikt in Afghanistan nicht gelöst werden. Die von der
Bundesregierung angestrebte „Übergabe in Verantwortung“ kann ohne einen
Rückfall Afghanistans in einen offenen Bürgerkrieg nach dem Abzug der inter-

Drucksache 17/4585 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

nationalen Truppen nur im Rahmen einer politischen Verhandlungslösung mit
allen relevanten Akteurinnen und Akteuren erreicht werden.

Die Ausbildung der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) kommt
zwar quantitativ zügig voran. Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Ein-
satzfähigkeit der ANSF.

Besorgniserregend ist die politische Lage in Afghanistan. Die Regierung Hamid
Karsais verliert in der Bevölkerung landesweit immer weiter an Legitimation.
Verantwortlich dafür ist ihr Versagen bei der Korruptions- und Drogenbekämp-
fung, beim Staatsaufbau sowie ihr mangelnder Einsatz für mehr Meinungsfrei-
heit und Menschenrechte. Die eindeutigen Unregelmäßigkeiten bei den Präsi-
dentschafts- und Parlamentswahlen haben diese Entwicklung weiter beschleu-
nigt.

Beim zivilen Wiederaufbau konnten auch aufgrund der gestiegenen Mittel Er-
folge erzielt werden. Die Nachhaltigkeit und Fortführung dieser Erfolge sind
jedoch nicht gesichert, da langfristige Zusagen fehlen, obwohl klar ist, dass Af-
ghanistan in der zivilen Zusammenarbeit noch für lange Zeit auf Unterstützung
durch die internationale Gemeinschaft angewiesen ist.

Die Bundesregierung hat im Dezember 2010 erstmals einen umfassenden Fort-
schrittsbericht zur Lage in Afghanistan vorgelegt. Eine weitergehende unabhän-
gige Evaluierung hat die Bundesregierung mit der Mehrheit der Koalitionsfrak-
tionen der CDU/CSU und FDP im Deutschen Bundestag blockiert und den
gemeinsamen Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD
schließlich abgelehnt. Damit haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen
eine mögliche Zusammenarbeit ausgeschlagen. Der Fortschrittsbericht stellt eine
Verbesserung in der Unterrichtung des Parlaments über die aktuelle Situation
und das deutsche Engagement im Einsatzgebiet dar. Die politische Schlussfolge-
rung aus dem Fortschrittsbericht, 2011 stehe eine Trendwende bevor, ist weder
durch die Fakten im Bericht noch durch die Einschätzung unabhängiger Exper-
tinnen und Experten unterlegt. Stattdessen zeigt das vergangene Jahr, dass die
Strategie aus verstärktem militärischem Druck, zivilem Aufbau und dem Ver-
folgen einer politischen Verhandlungslösung bisher keineswegs aufgegangen ist.

Unklarheit herrscht weiter über die militärische Abzugsstrategie der Bundesre-
gierung. Im Rahmen der NATO wurde eine Übergabe der Verantwortung an die
afghanische Regierung bis 2014 beschlossen. Zugleich wurde betont, dies sei
nicht gleichbedeutend mit einem Abzug der internationalen Truppen. Die Bun-
desregierung hat sich mehrfach zu diesem Beschluss bekannt, ohne ihn jedoch
zu präzisieren. So bleibt bisher sowohl offen, wann und wo mit einem Abzug der
Bundeswehr aus Afghanistan begonnen werden soll als auch, welche Wegmar-
ken die Bundesregierung für die Übergabe der Verantwortung an die afghani-
schen Sicherheitskräfte im Norden des Landes anstrebt und wie lange deutsche
Truppen noch in Afghanistan verbleiben sollen. Derweil diskutieren viele Part-
nerstaaten wie Kanada, die Niederlande, Polen, Schweden und die USA Ab-
zugspläne und -schritte bzw. haben entsprechende Absichten verkündet.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. umgehend einen konkreten, verantwortbaren Plan vorzulegen, der den Abzug
der Bundeswehr aus Afghanistan ab 2011 bis 2014 vorsieht, der mit der af-
ghanischen Regierung und den internationalen Partner abgestimmt ist und
Zwischenziele auf Provinz- und Distriktebene vorsieht;

2. sich gegenüber dem Oberkommandierenden der NATO in Afghanistan für
eine Beendigung der Strategie der gezielten Tötungen einzusetzen, sich nicht
an solchen Aktionen zu beteiligen und darauf zu beharren, das humanitäre

Völkerrecht einzuhalten;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4585

3. die andauernde Veränderung des Bundeswehreinsatzes von einem Stabi-
lisierungseinsatz hin zu einer kontraproduktiven offensiven Aufstandsbe-
kämpfung zu beenden;

4. eine Agenda für den Aufbau bis 2014 und danach in Abstimmung mit den
afghanischen und internationalen Partnern für Afghanistan ohne Verzug zu
erstellen. Diese Agenda für den Aufbau muss die veränderten Rahmen-
bedingungen nach einem militärischen Abzug berücksichtigen und die ent-
wicklungspolitischen Anforderungen anderer Staaten der Region integrie-
ren;

5. an der Ausarbeitung und Umsetzung einer Agenda für den Aufbau, welche
den militärischen Abzug und die Erhöhung der zivilen Kapazitäten berück-
sichtigt, müssen alle betroffenen Bundesministerien (Auswärtiges Amt,
Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium des Innern, Bun-
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) eng
zusammenarbeiten;

6. sich auf internationaler Ebene für die Entwicklung eines zivilen Peacebuil-
ding-Prozesses, der über 2014 hinausgeht, einzusetzen;

7. ein nachhaltiges Konzept für die weitere Unterstützung des Aufbaus poli-
zeilicher Strukturen inklusive Polizeiausbildung vorzulegen, welches insbe-
sondere darstellt, wie das deutsche Engagement im Polizeibereich nach Ab-
zug des Militärs gestaltet werden soll;

8. im Sinne eines Gesamtkonzepts bei der Formulierung der Mandate nicht nur
den Einsatz der Bundeswehr, sondern auch eine umfassende Planung des
polizeilichen und entwicklungspolitischen Engagements Deutschlands in
Afghanistan vorzunehmen und die entsprechenden Mittel und Fähigkeiten
detailliert darzulegen;

9. den innerafghanischen Reintegrations- und Versöhnungsprozess sowie Ver-
handlungen zu unterstützen und dazu auch die Mitgliedschaft im Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen (VN) zu nutzen, wobei klarzustellen ist,
dass von den Beteiligten des Verhandlungsprozesses „rote Linien“ wie etwa
der Bruch mit al-Qaida oder die Akzeptanz der afghanischen Verfassung
eingehalten werden müssen, und in diesem Zusammenhang insbesondere
sich dafür einzusetzen, dass die afghanischen Frauen ihre mühsam erkämpf-
ten Rechte nicht auf Kosten eines sogenannten Friedensschlusses mit den
Aufständischen wieder einbüßen und Fortschritte in der Umsetzung der
Menschenrechte rückgängig gemacht werden;

10. sich dafür einzusetzen, dass Menschenrechtsverletzungen mit geeigneten
Instrumenten aufgedeckt und aufgearbeitet werden, um einen nachhaltigen
Versöhnungsprozess zu ermöglichen;

11. die Mittel für Afghanistan im Rahmen einer entwicklungspolitischen
Agenda für den Aufbau bis 2014 und danach unabhängig von der Präsenz
der Bundeswehr auf dem erreichten hohen Niveau über 2014 hinaus fortzu-
schreiben und dabei insbesondere das Engagement in den Bereichen „Bil-
dung“, „Ländliche Entwicklung“ und „Frauen“ auszubauen;

12. den Aufbau rechtstaatlicher und effizienter Verwaltungsstrukturen auf natio-
naler und vor allem auf regionaler Ebene stärker zu unterstützen und dabei
insbesondere die Ausbildung und Arbeitsfähigkeit afghanischer Juristinnen
und Juristen sowie Verwaltungsfachleute zu fördern und die entsprechenden
Studiengänge und Ausbildungsmöglichkeiten bestmöglich zu unterstützen;

13. die Praxis im Rahmen der „NRO-Fazilität Afghanistan“, nach der deutsche
Nichtregierungsorganisationen Gelder für Projekte nur im Einsatzgebiet der

Bundeswehr beantragen dürfen und sich dem Konzept der „Vernetzten

Drucksache 17/4585 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Sicherheit“ unterordnen müssen, sofort zu beenden und die Neutralität zivi-
ler und humanitärer Hilfe zukünftig strikt zu wahren;

14. Initiativen zu ergreifen, um die Einbeziehung der afghanischen Nachbar-
staaten und regionaler Akteure in eine politische Lösung des Afghanistan-
konflikts wirksamer voranzubringen;

15. sich dafür einzusetzen, dass in Afghanistan die Menschenrechte gewahrt
werden und dass Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Natio-
nen Zugang zu allen Gefangenen und in Gewahrsam Genommenen haben;

16. sich dem Resettlement-Programm des Flüchtlingskommissariats der Ver-
einten Nationen (UNHCR) mit einem großzügigen Kontingent anzuschlie-
ßen und die Arbeit des UNHCR zu unterstützen, damit weiterhin Flücht-
lingen in Afghanistan und insbesondere den afghanischen Flüchtlingen in
Iran und Pakistan geholfen wird;

17. einen lückenlosen Abschiebestopp für afghanische Flüchtlinge durchzuset-
zen, um deren Leben nicht zu gefährden und ein großzügiges Aufnahmepro-
gramm für Menschen in Afghanistan zu entwickeln und umzusetzen, die in
ihrem Leben oder in ihrer Gesundheit bedroht sind;

18. dem Bundestag eine unabhängige Evaluierung und Wirksamkeitsanalyse
des bisherigen deutschen Engagements in Afghanistan unter Beurteilung
der Gesamtlage vorzulegen und den Fortschrittsbericht der Bundesregie-
rung halbjährlich gegenüber dem Parlament zu aktualisieren.

Berlin, den 27. Januar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Vor einem Jahr hat die NATO auf Anstoß der neuen US-Administration einen
Strategiewechsel in Afghanistan eingeleitet. Im Zentrum der neuen Strategie
stand das Ziel, bis 2014 Stabilität in Afghanistan durch eine Verstärkung der mi-
litärischen und zivilen Mittel einerseits und eine politische Verhandlungslösung
anderseits zu erzielen. Damit sollte eine „Übergabe in Verantwortung“ an die af-
ghanische Regierung und ein schrittweiser Abzug ermöglicht werden, ohne dass
das Land unmittelbar in einen neuen Bürgerkrieg zurückfällt. Bestandteile der
neuen Strategie waren neben einer Intensivierung des Aufbaus der Staatlichkeit,
insbesondere auf Distriktebene, ein deutlicher Aufwuchs der internationalen
Truppen und der Übergang zu einer offensiven Aufstandsbekämpfung (COIN).
Dabei wurde vom Oberkommandierenden der ISAF befohlen, dass der Schutz
der Zivilbevölkerung oberste Priorität haben muss. Die Aufständischen sollten
durch Verhandlungen und Angebote zur Reintegration und Versöhnung in eine
politische Lösung des Konflikts eingebunden werden. Gleichzeitig wurde der zi-
vile Aufbau in seinen verschiedenen Komponenten deutlich verstärkt. Zudem
verpflichtete sich die afghanische Regierung, stärker gegen Korruption vorzuge-
hen und die Fähigkeiten zur Regierungsführung zu verbessern.

Die Bewertung der neuen Strategie vor einem Jahr fiel ambivalent aus. Die Stär-
kung des zivilen Aufbaus, verstärkte Bemühungen um eine regionale Lösung,
das Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung und die Verständigung auf eine
klare Abzugsperspektive waren Schritte in die richtige Richtung. Tatsächlich ist

trotz der Zunahme der Militäreinsätze 2010 die Zahl der zivilen Opfer durch
Einsätze der internationalen Truppen und der afghanischen Sicherheitskräfte

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4585

nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanis-
tan (UNAMA) um 18 Prozent zurückgegangen. 12 Prozent aller Verletzungen
und Todesfälle im Zusammenhang mit militärischer Gewalt werden laut Anga-
ben der VN von den internationalen Streitkräften oder den afghanischen Sicher-
heitskräften verursacht.1 Andererseits erschwert der Strategiewechsel hin zu
einer offensiven Aufstandsbekämpfung die Bemühungen um produktive Ver-
handlungen mit den Aufständischen. Die notwendige politische Einigung zwi-
schen den Konfliktparteien in Afghanistan kann jedoch nicht durch militärische
Mittel erzwungen werden. Das folgt einer militärischen Logik, die kontrapro-
duktiv ist. Notwendig ist allerdings eine politische Lösung und die Durchset-
zung einer Strategie, die einer anderen Logik folgt.

Ein Jahr nach Ankündigung der neuen Strategie hat die Bundesregierung in ih-
rem Fortschrittsbericht eine erste Bilanz gezogen. Mit Blick auf Umfang, Breite
der Themen, Detailliertheit und Informationsdichte stellt der Bericht eine Ver-
besserung der Berichterstattung dar. Zudem liefert der Bericht in manchen Punk-
ten eine realistische Lagebeschreibung. So werden die Verschlechterung der
Sicherheitslage, die dramatisch ist, die Probleme beim Staatsaufbau und durch
die Korruption sowie andere Entwicklungshemmnisse in Afghanistan deutlich
angesprochen. In seiner politischen Bewertung, eine Trendwende stünde 2011
bevor, ist der Bericht widersprüchlich.

Sicherheit

Die ISAF-Truppen haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit den Afghani-
schen Nationalen Sicherheitskräften insbesondere im Süden des Landes zahlrei-
che militärische Großoperationen durchgeführt, um Talibanhochburgen unter
die Kontrolle der afghanischen Regierung zu bringen. Auch die Bundeswehr hat
sich an mehreren Operationen gemeinsam mit afghanischen Truppen zur Auf-
standsbekämpfung im Norden Afghanistans beteiligt. Damit bestätigt sich, dass
die angekündigte Schwerpunktverlagerung „von dem gegenwärtig eher offen-
siven Vorgehen der Quick Reaction Force zu einer grundsätzlich defensiven
Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“2 ein Etikettenschwindel war. Die Bun-
desregierung muss auch in umstrittenen Einsätzen der Bundeswehr eine ehrliche
Informationspolitik führen und unbequeme Fakten offenlegen, um das notwen-
dige Grundvertrauen zwischen Parlament, Regierung und Öffentlichkeit nicht
vollends zu zerrütten.

Obwohl 2010 zum verlustreichsten Jahr der internationalen Truppen wurde, be-
trachtet die Bundesregierung das Jahr 2010 als Wendepunkt. Die neue ISAF-
Strategie, der Aufwuchs an truppenstellenden Nationen und der ISAF-Truppen-
stärke sowie die inzwischen Wirkung zeigende Ausbildung einsatzfähiger af-
ghanischer Sicherheitskräfte haben aus ihrer Sicht die Voraussetzungen dafür
geschaffen, den Abwärtstrend zu stoppen. Für 2011 wird eine „spürbare Trend-
wende“ hin zu mehr Sicherheit prognostiziert.

Dieser Einschätzung der Bundesregierung stehen jedoch mehrere Studien (Gil-
les Dorronsoro, Carnegie Endowment, „Afghanistan at the Breaking Point“;
Center for American Progress „Realignment – Managing a Stable Transition to
Afghan Responsibility“) entgegen, denen zufolge der neue Ansatz nicht erfolg-
reich, ja vielleicht sogar bereits gescheitert ist. Im Süden des Landes wird ein
Patt zwischen ISAF und ANSF einerseits sowie den Aufständischen anderer-
seits gesehen. Eine Positivdynamik konnte, anders als von der Militärführung
gehofft, bislang nicht ausgelöst werden. Die Taliban und andere Aufständische
konnten durch die Aufstandsbekämpfung kaum geschwächt werden.

1 http://unama.unmissions.org/LinkClick.aspx?link=SG+Reports%2fSG+REPORT_10DEC2010.pdf&tabid=1741&mid=1888 (Absätze 55 und 56).

2 „Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung: Das deutsche Afghanistan-Engagement nach der Londoner Konferenz, Bundesregierung, Januar

2010.

Drucksache 17/4585 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kommt in einer aktuellen Studie
zu dem Schluss, dass der Aufstand im Raum Kundus „nicht an Intensität ver-
liert“ und die „Gewalt dort in den letzten Monaten weiter eskaliert“ ist. Zudem
hat sich die Einstellung der afghanischen Bevölkerung gegenüber den ISAF-
Truppen weiter verschlechtert. Erstmals gibt es laut einer Umfrage von ARD,
ABC, BBC und „The Washington Post“ aus dem Dezember 2010 bei einer Mehr-
heit der befragten Afghaninnen und Afghanen eine negative Einstellung gegen-
über Deutschland. Das bisherige Engagement Deutschlands sollte ernsthaft
überprüft und nachjustiert werden, um den Aufbau eines rechtsstaatlich organi-
sierten und menschenrechtskonformen Afghanistans besser zu unterstützen. Die
NATO-Truppen und die Bundeswehr sollen den für diesen Aufbau notwendigen
Raum schaffen, auch wenn sie die Taliban militärisch nicht besiegen können.

Die einseitige Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung verspielt die Un-
terstützung vieler Afghaninnen und Afghanen, sie ist militärisch nicht erfolg-
reich und sie schwächt die Chancen auf Frieden durch eine politische Verhand-
lungslösung. Sie kostet zahlreiche Menschleben, darunter auch von vielen unbe-
teiligten Zivilistinnen und Zivilisten, und muss deshalb beendet werden.

Staatsaufbau und Versöhnungsprozess

Zentrale Probleme in Bezug auf das politische System Afghanistan bleiben un-
gelöst. Funktionierende Staatlichkeit existiert nur als Fassade. Warlords und
Drogenkartelle haben in weiten Teilen des Landes und teilweise auch auf die Re-
gierung einen enormen Einfluss.

Die Regierung Hamid Karsais verliert an Zuspruch und das politische System
büßt Legitimität ein, vor allem aufgrund eines fehlenden staatlichen Gewaltmo-
nopols, mangelnder Entschlossenheit und willkürlicher Entscheidungsprozesse.
Die Parlamentswahlen verliefen zwar weitgehend friedlich, jedoch gab es wie
bei den Präsidentschaftswahlen zahlreiche Hinweise auf Wahlfälschungen, die
die Legitimation der Wahlen in der Bevölkerung in Frage gestellt hat. Es ist je-
doch positiv hervorzuheben, dass die Parlamentswahl als erste Wahl in alleiniger
afghanischer Verantwortung trotz aller Hindernisse durchgeführt werden konnte
und dass die beiden Kommissionen zur innerafghanischen Wahlkontrolle ihre
Aufgabe besser als von vielen Beobachterinnen und Beobachtern sowie Exper-
tinnen und Experten erwartet erfüllen konnten.

Bei der Umsetzung der in der Verfassung verankerten Menschenrechte gibt es
Fortschritte. Diese beziehen sich vor allem auf den Bereich Frauenrechte (u. a.
Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und politische Partizipation). Den-
noch bleibt die Menschenrechtslage insgesamt äußerst beklagenswert. Bis heute
fehlt es an einem funktionierenden Justizwesen. Ein politischer Wille, hier Fort-
schritte zu erzielen, ist nicht erkennbar.

Der Aufbau polizeilicher Strukturen kommt weiterhin schleppend voran. Ein
Kernproblem stellt dabei vielerorts die mangelnde Akzeptanz der afghanischen
Polizeikräfte in der Bevölkerung dar. Willkür, Korruption, übermäßige Gewalt-
anwendung etc. seitens der afghanischen Polizei sind an der Tagesordnung. In-
ternationale Aufbauhilfe kann vor diesem Hintergrund nur dann nachhaltig die
Rechtsstaatlichkeit fördern, wenn sie langfristig angelegt ist und insbesondere
im Hinblick auf die Polizeiausbildung mit einem einheitlichen Konzept auftritt.
Dabei sollte der zivilpolizeiliche Ansatz der Bundesrepublik Deutschland
grundsätzlich im Vordergrund stehen.

Präsident Hamid Karsai versucht bereits seit längerem, eine Verhandlungslösung
mit Aufständischen zu erzielen. Frauen sind an diesem Prozess nur unzurei-
chend beteiligt, auch Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft

werden nicht eingebunden. Bei der Friedensjirga im Juni 2010 kamen Frauen de
facto mit ihren Anliegen nicht zu Wort. Anschließend erklärten zehn afghani-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/4585

sche Frauenorganisationen, dass sie keine Friedensverhandlungen mehr akzep-
tieren werden, die ihre Anliegen untergraben.

Entwicklung

Insgesamt fehlt es an einem international abgestimmten und durchsetzbaren ent-
wicklungspolitischen Gesamtkonzept für Afghanistan, welches über einen Mili-
tärabzug hinaus andauernder langfristiger Verantwortung gegenüber Afghanis-
tan gerecht wird. Zentrale Anforderungen an eine solche Agenda für den Aufbau
bis 2014 und danach sind die Kohärenz aller zivilen Politikfelder und ihre inter-
nationale Umsetzbarkeit sowie die Integration entwicklungspolitischer Anfor-
derungen anderer Staaten der Region. In den vergangenen Jahren wurden Ent-
wicklungsprobleme in den Nachbarstaaten Afghanistans zu sehr vernachlässigt,
was zu gegenseitiger Destabilisierung beitrug. Zudem ist fraglich, inwieweit
sich die Projektstruktur tatsächlich an den lokalen Prioritäten orientiert. Die res-
sortübergreifende Zusammenarbeit in der Bundesregierung ist zwar besser ge-
worden aber immer noch nicht ausreichend.

Viele Wiederaufbauprojekte orientieren sich zu sehr an den Bedürfnissen der
Geberländer und den militärischen Zielen und zu wenig an den Bedürfnissen der
afghanischen Bevölkerung sowie an dem Ziel, afghanische Staatlichkeit zu stär-
ken. Die Bundesregierung hat die deutschen Anstrengungen zu stark auf den
Norden und umkämpfte Gebiete fokussiert, zulasten von bisher erfolgreichen
Projekten in anderen Landesteilen. Die wichtigen und richtigen Anstrengungen
im Norden dürfen aber nicht dazu führen, bisherige Aufbauerfolge zu verspielen.

Die deutliche Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit geht
zwar in die richtige Richtung, ist jedoch in ihrer Wirkung aufgrund der einge-
schränkten Absorptionsfähigkeit kritisch zu bewerten. Die Beteiligung der af-
ghanischen Bevölkerung ist durch einen Überfluss an Mitteln und entsprechen-
den Mittelabflusszwang der Geber immer schwerer umzusetzen. Weit verbrei-
tete Korruption stellt in Afghanistan, das laut Transparency International das
drittkorrupteste Land der Erde ist, eine massive Beeinträchtigung für Projekte
und Programme der Technischen und Finanziellen Zusammenarbeit dar. Aus-
sagen, dass Projekte in Afghanistan weniger korruptionsanfällig sind als Pro-
gramm- und Budgethilfen, sind falsch.

Die schlechte Sicherheitslage in vielen Distrikten gefährdet Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Entwicklungszusammenarbeit, schränkt die Effektivität des
entwicklungspolitischen Engagements ein und gefährdet dessen nachhaltigen
Erfolg. Das gezielte Attentat auf einen Entwicklungshelfer der KfW Entwick-
lungsbank in der Provinz Balkh wirft Fragen auf, wie die Entwicklungszusam-
menarbeit dort fortgesetzt werden soll.

Die Kritik von Nichtregierungsorganisationen an einer zivil-militärischen Zu-
sammenarbeit, die sich nicht nach entwicklungspolitischen Gesichtspunkten
richtet sowie Helferinnen und Helfer zum potentiellen Ziel von Aufständischen
macht, muss ernst genommen werden. Die Unterordnung unter militärische
Ziele und die Eingrenzung deutscher Entwicklungszusammenarbeit auf das Um-
feld militärischer Präsenz zur Bedingung für Mittelzuwendungen zu machen, ist
kontraproduktiv. Auch international schlägt der Comprehensive Approach in
Afghanistan bislang fehl, da die NATO durch ihren Senior Civilian Representa-
tive die Koordinationsfunktion übernimmt und nicht die UNAMA. Deutschland
muss sich viel stärker dafür einsetzen, dass die VN-Mission vergrößert und
finanziell und personell besser ausgestattet wird (z. B. hinsichtlich des Baus
neuer Bürogebäude in Kandahar), damit sie Koordinierungsaufgaben nachkom-
men kann. Auch sollte Deutschland sich stärker dafür einsetzen, dass geeignetes
Personal für die freien Stellen in der UNAMA rekrutiert wird. Deutsche Bewer-

ber sollten intensiv unterstützt und vorbereitet werden.

Drucksache 17/4585 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Abzugsperspektive

Auf dem Lissabon-Gipfel hat die NATO erneut den Fahrplan für die Übergabe
in Verantwortung bekräftigt. Die NATO plant allerdings keinen vollständigen
Abzug aller Truppen bis 2014. Ziel ist es, bis dahin ausschließlich die Kampf-
truppen abzuziehen. Truppen zur Ausbildung sollen weiterhin im Land verblei-
ben. Dass mit „Ausbildung“ allerdings auch offensive Kampfeinsätze einherge-
hen können, verdeutlicht das Konzept des Partnering.

Viele Partnerstaaten wie Kanada, die Niederlande, Polen, Schweden und die
USA diskutieren Abzugspläne und -schritte bzw. haben entsprechende Absich-
ten verkündet.

Auch die Bundesregierung muss endlich einen konkreten Plan zum Abzug der
Bundeswehr von 2011 bis 2014 dem Deutschen Bundestag vorlegen. Der Plan
muss klare Zwischenschritte für die Übergabe der Verantwortung der neun Pro-
vinzen und 124 Distrikte im Norden an die afghanische Regierung beinhalten
und mit der afghanischen Regierung und internationalen Partnern abgestimmt
sein.

Es muss zudem jetzt ein ziviler Peacebuilding-Prozess vorbereitet werden, der
über das militärische Abzugsdatum 2014 hinaus angelegt ist.

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