BT-Drucksache 17/4533

Hunger bekämpfen - Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden

Vom 25. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4533
17. Wahlperiode 25. 01. 2011

Antrag
der Abgeordneten Niema Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost,
Dr. Kirsten Tackmann, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Sabine Leidig, Stefan Liebich, Ulla Lötzer, Thomas
Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Süßmair, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler,
Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Hunger bekämpfen – Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Preise für Nahrungsmittel sind in den letzten Jahren massiv gestiegen und
unterliegen zusätzlich drastischen Schwankungen. Besonders dramatisch war
die Steigerung bei den Grundnahrungsmitteln Reis und Getreide, die zwischen
Ende 2006 und März 2008 126 Prozent betrug. Aktuell steuern die Grund-
nahrungsmittelpreise nach einem zwischenzeitlichen Preiseinbruch wieder auf
ein Rekordhoch zu. Besonders hart von den Preissteigerungen betroffen sind
die Menschen in den am wenigsten entwickelten Ländern, den Least Developed
Countries (LDCs): Während der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel je
Haushalt in den Industrieländern bei 10 bis 20 Prozent liegt, machen die Aus-
gaben in den LDCs 60 bis 80 Prozent aus.

Als Ergebnis der Preiserhöhungen stieg die Anzahl der Menschen, die in extre-
mer Armut leben, nach Schätzungen der Weltbank zwischen 2007 und 2008 um
130 bis 150 Millionen auf über 960 Millionen. Die Preisexzesse im Nahrungs-
mittelbereich stellen eine direkte Bedrohung der Ernährungssicherheit und des
Menschenrechts auf Nahrung dar. Viele Länder des Globalen Südens sind
Nettonahrungsmittelimporteure. Dort führen die verteuerten Nahrungsmittel-
importe zu einer erhöhten Verschuldung und einer größeren Inflationsgefahr.
Auf der anderen Seite hat die Landwirtschaft insbesondere in den Ländern des
Südens eine wichtige Einkommensfunktion. Nur durch faire, verlässliche Preise
sind landwirtschaftliche Betriebe in der Lage, ihre Existenz zu sichern. Die
durch Preisvolatilität bewirkte Planungsunsicherheit verhindert darüber hinaus
notwendige Investitionen. Auch in den Ländern des Nordens sind die extremen
Preisschwankungen aus den gleichen Gründen ein zunehmendes Problem für
die landwirtschaftliche Erzeugung.
Die Preissteigerungen und Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln haben
komplexe Ursachen. Spekulationen mit Agrarrohstoffderivaten haben jedoch zu
den extremen und unberechenbaren Preisausschlägen geführt. Darüber hinaus
hat die Nutzung von Agrarrohstoffen als Vermögensanlage die Preise im Trend
ansteigen lassen und die Gefahr der Bildung von Spekulationsblasen erhöht. Das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
stellte schon im April 2008 fest: „Die internationalen Kapitalmärkte sind auf der

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Suche nach lukrativen und relativ zukunftssicheren Anlagemöglichkeiten wie-
der auf die Agrarmärkte aufmerksam geworden. Dies sorgt für mehr Volatilität,
insbesondere, wenn die Akteure einsteigen, die stark spekulativ agieren“. Den
Anteil des Preisanstiegs von Nahrungsmitteln, der auf Spekulationen zurück-
geht, beziffern Experten der Weltbank 2008 auf zirka 37 Prozent, der Chefvolks-
wirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen
(UNCTAD) Heiner Flassbeck sogar auf das Doppelte.

Erst die Liberalisierung der Finanzmärkte hat diese drastische Entwicklung er-
möglicht. So betrug das Volumen gehandelter Futures (handelbare Verpflich-
tung, an einem bestimmten Datum eine festgelegte Menge eines bestimmten
Vermögensgegenstandes zu kaufen oder zu verkaufen) verglichen mit der realen
Getreideproduktion in den USA 2002 das 11-Fache, 2004 das 16-Fache und
2007 gar das 30-Fache. Institutionelle Investoren wie Pensionsfonds, Invest-
mentbanken und Hedgefonds drängten insbesondere während der Kredit- und
Finanzkrise 2007/2008 auf der Suche nach Profiten in die Rohstoffmärkte, ver-
stärkt auch in die Agrarrohstoffmärkte. Die Deutsche Bank, neben den US-Ban-
ken Goldman Sachs und Merrill Lynch, sehr aktiv im Rohstoffgeschäft, schreibt
in ihrem Jahresbericht 2009: „In aussichtsreichen Wachstumsfeldern wie im
Handel mit Rohstoffen (…) wurden neue Höchstwerte erzielt.“ Goldman Sachs
machte 2009 allein mit Rohstoffderivaten, darunter in steigendem Maße Agrar-
rohstoffderivate, 5 Mrd. US-Dollar Gewinn.

Die Bundesregierung hat sich wiederholt, zuletzt im September 2010 auf dem
Millenniumsgipfel in New York, für die Millenniumsentwicklungsziele aus-
gesprochen. Erstes Ziel ist, den Anteil der Weltbevölkerung, der unter extremer
Armut und Hunger leidet, zu halbieren. Die Deregulierungspolitik der voran-
gegangenen Bundesregierungen und die mangelhafte Bereitschaft der aktuellen
Regierungskoalition der CDU/CSU und FDP, die Finanzmärkte endlich streng
zu regulieren, stehen in direktem Gegensatz zu diesem erklärten Ziel. Die zu-
ständige Arbeitsgruppe der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der
Vereinten Nationen (FAO) stellte im September 2010 unmissverständlich fest:
„Über 150 Jahre Geschichte von Termingeschäften zeigen, dass Positionslimits
für Rohstoffe mit endlichem Angebot nötig sind, um exzessive Spekulation und
Horten einzuschränken“. Die UNCTAD forderte Ende November 2010 unter
anderem, die Spekulation in Rohstoffmärkten durch steuerliche Maßnahmen zu
beschränken. Die Bundesregierung muss umgehend handeln – so etwa durch
Einflussnahme bei den Überarbeitungen der EU-Richtlinien über Märkte für
Finanzinstrumente (MiFID) und Marktmissbrauch (MAD) sowie der Verord-
nung über OTC-Derivate (Over-the-Counter, d. h. außerbörslich gehandelte
Derivate). Allerdings reicht es nicht aus, Spekulation lediglich zu erschweren.
Mittelfristig besteht die Notwendigkeit, die Erzeugung und den Handel von
Agrarrohstoffen vollständig von den Finanzmärkten zu entkoppeln und statt-
dessen politisch auf der Grundlage internationaler Abkommen und im Interesse
von Ernährungssicherheit und -souveräniät zu regulieren. Außerdem muss welt-
weit die Bodenspekulation mit landwirtschaftlichen Flächen verhindert werden,
da sonst die Grundlagen der Nahrungsmittelproduktion gefährdet werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf nationaler, EU- und internationaler Ebene Maßnahmen zu ergreifen,
damit Spekulation mit Agrarrohstoffen unterbunden wird und nur das zur
Preisabsicherung notwendige Maß an Warentermingeschäften stattfindet.

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Dazu gehört:

a) die Agrarmärkte streng zu regulieren durch eine Standardisierung der
Derivatkontrakte, die Einführung von Positionsobergrenzen für einzelne
Händler und die Gesamtmenge an Kontrakten je Rohstoff (aggregierte
Positionslimits) sowie von Obergrenzen für den physischen Erwerb und
Besitz von Agrarrohstoffen durch nichtstaatliche Unternehmen oder
Privatpersonen und die Schaffung von Kontrollinstanzen und Offen-
legungspflichten einschließlich Berichtspflichten in Echtzeit;

b) OTC-Handel mit Agrarrohstoffderivaten zu verbieten;

c) entsprechend der US-Aufsichtsbehörde für den Handel mit Rohstoff-
derivaten CTFC (U.S. Commodity Futures Trading Commission) eine
europäische, auf Agrarrohstoffe spezialisierte Warenterminhandelsauf-
sicht einzurichten und mit Durchgriffsmöglichkeiten gegen Marktmiss-
brauch und extreme Marktsituationen auszustatten;

d) ein Händlerregister einzuführen, in dem sich alle Akteure, die mit Agrar-
rohstoffderivaten handeln, registrieren lassen müssen. Eine Registrierung
ist Akteuren möglich, die an Produktion, Weiterverarbeitung und Verkauf
beteiligt sind. Indexfonds ist die Eintragung in das Handelsregister zu
verweigern;

e) die zu unterlegenden Sicherheiten für Agrarrohstoffderivate zu erhöhen
und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer voranzutreiben;

f) das Anlegen staatlicher, international koordinierter und kontrollierter,
physischer Nahrungsmittelreserven zu forcieren, um der Volatilität auf
den Agrarmärkten begegnen und auf Nahrungskrisen reagieren zu kön-
nen;

g) für die Vermeidung staatlich veranlasster Spekulationsgeschäfte im Rah-
men internationaler Verhandlungen Sorge zu tragen;

2. auf nationaler, EU- und internationaler Ebene Schritte einzuleiten, damit

a) mittelfristig staatlich festgelegte Preiskorridore geschaffen werden, die
Termingeschäfte zur Preisabsicherung unnötig machen;

b) der Agrarrohstoffbereich im Interesse der Ernährungssicherheit im Rah-
men der Vereinten Nationen, z. B. der UNCTAD, koordiniert und über-
wacht wird;

c) Machtkonzentration in den Agrarmärkten wirksam begrenzt wird.

Berlin, den 25. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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