BT-Drucksache 17/3681

zu der vereinbarten Debatte zum neuen Strategischen Konzept der NATO Die NATO muss abrüsten

Vom 10. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3681
17. Wahlperiode 10. 11. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Agnes Malczak, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller (Köln), Katja Keul, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola
von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Ute Koczy,
Tom Koenigs, Manuel Sarrazin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der vereinbarten Debatte zum neuen Strategischen Konzept der NATO

Die NATO muss abrüsten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Rahmenbedingungen für eine Umkehr der globalen Rüstungs- und Prolife-
rationsspirale und die Verwirklichung einer Welt frei von Atomwaffen haben
sich seit dem Bekenntnis von US-Präsident Barack Obama zu einer atomwaffen-
freien Welt am 5. April 2009 in Prag deutlich verbessert. Am 24. September
2009 bekannte sich der UN-Sicherheitsrat mit der historischen Resolution 1887
zu diesem Ziel und forderte alle Staaten zu Anstrengungen gegen Weiterver-
breitung, Atomterrorismus und für eine allgemeine und vollständige nukleare
Abrüstung auf. Die größte Atommacht der Welt hat mit der Überarbeitung ihrer
Nukleardoktrin einen ersten Schritt zur Einschränkung der Rolle ihrer Atom-
waffen unternommen. Im April 2010 haben die USA und Russland einen neuen
Vertrag über eine, wenn auch bescheidene, Reduzierung ihres strategischen
Atomwaffenarsenals abgeschlossen, dessen Ratifizierung demnächst ansteht.
Auf der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im Mai 2010
wurde eine Einigung über ein Abschlussdokument erzielt, das zumindest in eini-
gen Punkten in die richtige Richtung weist und eine wichtige Vertrauensgrund-
lage für den Erhalt des Nichtverbreitungsregimes bildet.

Ob die Wende hin in eine Ära der weltweiten Abrüstung gelingt, hängt ins-
besondere vom zukünftigen Selbstverständnis und Verhalten der NATO ab.
Grundlage für die künftige Ausrichtung des transatlantischen Verteidigungs-
bündnisses soll ein neues Strategisches Konzept sein, das auf dem NATO-Gipfel
am 19. und 20. November 2010 in Lissabon verabschiedet werden soll. Am

17. Mai 2010 wurden dem Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen von einer
eigens dafür eingesetzten zwölfköpfigen Expertengruppe unter der Leitung der
ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright Vorschläge für eine
Reform der Organisation vorgelegt. Darauf aufbauend erarbeitet der General-
sekretär derzeit einen eigenen Entwurf, der in den kommenden Wochen von
allen 28 Mitgliedstaaten diskutiert wird.

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Deutschland muss sich in dieser Diskussion dafür stark machen, dass Ab-
rüstung zum Kern der neuen NATO-Strategie gehört und das Bündnis Ver-
antwortung und Führung für einen weltweiten Abrüstungsprozess übernimmt.
Das Bündnis muss seine Nuklearpolitik grundlegend überarbeiten, um den
weltweiten Konsens über die nukleare Nichtverbreitung zu stärken und die im
Atomwaffensperrvertrag vereinbarten Anstrengungen der Atomwaffenstaaten
um allgemeine und vollständige Abrüstung proaktiv zu unterstützen. Die neue
NATO-Strategie hat auch Einfluss darauf, ob Deutschland atomwaffenfrei wird
oder nicht. Es geht daher in den kommenden Wochen darum, die Grundlage für
den Abzug der in Deutschland und Europa verbliebenen US-Atomwaffen zu
schaffen. Der Deutsche Bundestag hat in dem Antrag auf Bundestagsdruck-
sache 17/1159 vom 24. März 2009 die Bundesregierung aufgefordert, sich mit
Nachdruck für einen Abzug der noch in Deutschland stationierten US-Atom-
waffen einzusetzen.

Wenn die NATO ihren eigenen Anspruch als Sicherheitsallianz für den Frieden
erfüllen will, muss sie ihren Beitrag für die weltweite Abrüstung im nuklearen
wie im konventionellen Bereich leisten. Die konventionelle und nukleare Über-
legenheit der USA und der NATO verpflichten diese, die Sicherheitsbedürf-
nisse anderer Akteure zu berücksichtigen und bestehendes Misstrauen und
Ängste ernst zu nehmen und abzubauen. Nur durch konsequente und umfas-
sende Abrüstung und Rüstungskontrolle kann das für einen nachhaltigen inter-
nationalen Frieden nötige Vertrauen geschaffen werden.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass nukleare Abrüstungsmaßnahmen der
NATO nicht durch Aufrüstungsmaßnahmen im konventionellen Bereich konter-
kariert werden. Als mächtigstes Militärbündnis der Welt kann und muss die
NATO nuklear und konventionell abrüsten. Insbesondere im Bereich der konven-
tionellen Abrüstung gibt es ein großes Kooperationspotential mit Russland.
Dabei muss den berechtigten Sicherheitsinteressen der zentral- und osteuro-
päischen Allianzmitglieder sowie der Türkei Rechnung getragen werden, indem
gemeinsam glaubwürdige und transparente Mechanismen der Vertrauensbil-
dung geschaffen werden. Rüstungskontrolle, der politische Dialog mit Russland
und die Forcierung der Suche nach einer diplomatischen Lösung im Atom-
konflikt mit dem Iran sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig.

Als Teil einer umfassenden globalen Sicherheitsarchitektur kann ein Raketen-
abwehrsystem, das jedes Mitglied der Weltgemeinschaft vor Regelbrechern
schützt, eine stabilisierende Funktion erfüllen. Es bedarf gemeinsamer und ko-
operativer Lösungen für eine Raketenabwehr, die nicht zu neuen Spannungen
und Rüstungswettläufen führen. Von einer solchen Weltordnung sind wir
jedoch noch weit entfernt. Sollte ein internationales Raketenabwehrsystem in
Betracht gezogen werden, ist in Europa eine enge Abstimmung mit Russland
notwendig. Ein solcher Prozess müsste mit der Schaffung eines effektiven
Rüstungskontrollregimes für Raketenabwehrsysteme verbunden werden.

Der Plan zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems der NATO, der auf dem
Lissabon-Gipfel beraten wird, birgt hingegen große technische, finanzielle und
vor allem friedens- und sicherheitspolitische Risiken.

Aufgrund technischer Unwägbarkeiten ist eine mögliche Schutzfunktion frag-
lich. Zudem machen kurze Reaktionszeiten auf potentielle Raketenangriffe Fehl-
einschätzungen wahrscheinlich. Unbeantwortet ist auch die Frage, wie gemein-
same Entscheidungen in den Kommando- und Befehlsstrukturen eines Raketen-
abwehrsystems erzielt werden können. Die Mitwirkung der einzelnen NATO-
Staaten betrifft vor allem die Finanzierung, dessen Gesamtkosten Experten zu-
folge in Milliardenhöhe liegen.

Der Aufbau eines NATO-Raketenabwehrsystems beschwört aber vor allem die

Gefahr einer weltweiten Rüstungs- und Proliferationsspirale herauf, insbeson-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3681

dere in einer Zeit, in der die globale Machtverteilung durch aufstrebende
Mächte neu bestimmt wird. Unklar ist auch, auf welche Bedrohung eigentlich
mit dem Raketenabwehrsystem reagiert werden soll. In einer hochgerüsteten
Welt vermittelt ein bündnisbeschränktes Raketenabwehrsystem ein falsches
Gefühl von Sicherheit und täuscht über die Notwendigkeit von Abrüstung und
Rüstungskontrolle hinweg.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für die Verankerung von Abrüstung als Kernelement der neuen NATO-
Strategie einzusetzen;

2. sich dafür einzusetzen, dass die NATO mit diesem Selbstverständnis um-
fassende, verbindliche und überprüfbare Abrüstungs-, Rüstungskontroll-
und Waffenhandelsvereinbarungen im nuklearen und konventionellen Be-
reich vorantreibt;

3. sich dafür einzusetzen, dass sich die NATO im neuen Strategischen
Konzept vorbehaltlos zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekennt und
konkrete Schritte zur Umsetzung dieses Vorhabens benennt;

4. bei der Ausarbeitung des neuen Strategischen Konzepts der NATO auf
die Überwindung einer Politik der nuklearen Abschreckung und eine
Zurücknahme der strategischen Bedeutung von Atomwaffen in der Allianz
zu drängen, ohne dass im Gegenzug konventionelle Abschreckung und
Raketenabwehrsysteme aufgewertet werden;

5. sich dafür einzusetzen, dass der Verzicht auf die nukleare Ersteinsatzoption
und die Drohung eines Atomwaffeneinsatzes gegen Nichtatomwaffen-
staaten in der neuen NATO-Strategie festgeschrieben wird;

6. sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass mit der neuen NATO-Strategie
eine Grundlage für den vollständigen Abzug der taktischen US-Atom-
waffen aus Europa geschaffen wird mit dem Ziel, dass die Allianz auf der
nächsten Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im Jahr
2015 erklären kann, dass die nuklearen Mitgliedstaaten der Allianz ihre
Atomwaffen künftig nur noch auf ihrem eigenen Territorium stationieren;

7. in diesem Zusammenhang den Weg für ein atomwaffenfreies Deutschland
zu ebnen, indem die Bundesregierung

– schnellstmöglich die Mitwirkung der Bundeswehr an der nuklearen
Teilhabe beendet und die Bereitstellung von Bundeswehrpiloten und
Trägermitteln in Büchel zum Atomwaffeneinsatz einstellt,

– sich gegenüber den USA mit großem Nachdruck für den sofortigen
Abzug der in Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen einsetzt;

8. sich dafür einzusetzen, dass die derzeitigen politischen Mechanismen zur
nuklearen Teilhabe, wie die Nukleare Planungsgruppe, künftig ausschließ-
lich für Konsultationen über nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung genutzt werden;

9. sich dafür einzusetzen, dass die NATO auf ihrem Gipfel die Initiative er-
greift, gemeinsam mit Russland eine weitgehende und verifizierbare Redu-
zierung taktischer Atomwaffen mit dem Ziel ihrer vollständigen Ver-
nichtung einzuleiten;

10. sich dafür einzusetzen, dass die NATO als vertrauensbildende Maßnahme
sofort die Anzahl und Stationierungsorte der in Europa befindlichen US-
Atomwaffen deklariert;
11. auf die Schaffung einer umfassenden atomwaffenfreien Zone in Mittel-
europa mit dem Ziel eines atomwaffenfreien Europas zu drängen;

Drucksache 17/3681 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
12. darauf hinzuwirken, dass alle Beratungen über eine Reform der Nuklear-
politik der Allianz so offen und transparent wie möglich stattfinden und
insbesondere Parlamente und Zivilgesellschaft eingebunden werden;

13. sich für die Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages durch die NATO
einzusetzen und hierzu auf Verhandlungen zwischen NATO und Russland
über eine umfassende Reform des Regimes zur konventionellen Rüstungs-
kontrolle zu drängen;

14. darauf hinzuwirken, dass sich die NATO in ihrem neuen Strategischen
Konzept dazu verpflichtet, sich für einen konsequenten und umfassenden
weltweiten Abrüstungsprozess einzusetzen, ohne dass dabei die Rolle der
Europäischen Union in der Rüstungskontrolle und Abrüstung beschädigt
wird;

15. sich dafür einzusetzen, dass auf dem Lissaboner NATO-Gipfel vom 19. bis
20. November 2010 kein Raketenabwehrsystem beschlossen wird;

16. sich im Rahmen der Ausarbeitung der neuen NATO-Strategie und gegen-
über den USA und Russland für die Wiederbelebung des ABM-Vertrages
zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen einzusetzen;

17. sich für die Schaffung eines effektiven internationalen Rüstungskontroll-
regimes für Raketenabwehrsysteme stark zu machen;

18. sich im Zuge der Verhandlungen über ein neues Strategisches Konzept der
NATO dagegen auszusprechen, den NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 des
NATO-Vertrages künftig auch bei Internetattacken anzuwenden;

19. sich innerhalb der NATO für eine friedliche Nutzung des Cyberspace und
gegen Cyber-Aufrüstung einzusetzen;

20. für eine internationale Konvention zur friedlichen Nutzung des Cyber-
space einzutreten, welche offensive Cyber-Waffen und -Programme sowie
E-Bomben und andere Waffen, die mit Mikrowellenstrahlung oder elektro-
magnetischen Impulsen arbeiten, verbietet und Angriffe auf zivile und
militärische Strukturen ächtet.

Berlin, den 9. November 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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