BT-Drucksache 17/3078

zu der vereinbarten Debatte "20 Jahre Deutsche Einheit"

Vom 29. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3078
17. Wahlperiode 29. 09. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Daniela Kolbe(Leipzig), Iris Gleicke, Dagmar Ziegler, Dr. Hans-
Peter Bartels, Klaus Barthel, Willi Brase, Ulla Burchardt, Dr. Peter Danckert, Petra
Ernstberger, Michael Gerdes, Wolfgang Gunkel, Hans-Joachim Hacker, Klaus
Hagemann, Dr. Eva Högl, Christel Humme, Oliver Kaczmarek, Angelika Krüger-
Leißner, Ute Kumpf, Steffen-Claudio Lemme, Burkhard Lischka, Petra Merkel
(Berlin), Thomas Oppermann, Florian Pronold, Mechthild Rawert, René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Marianne Schieder (Schwandorf), Silvia Schmidt
(Eisleben), Carsten Schneider (Erfurt), Swen Schulz (Spandau), Rolf Schwanitz,
Sonja Steffen, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Wolfgang Tiefensee, Dr. Marlies Volkmer,
Andrea Wicklein, Dr. Dieter Wiefelspütz, Waltraud Wolff (Wolmirstedt),
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

zu der vereinbarten Debatte „20 Jahre Deutsche Einheit“

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den ostdeutschen Ländern ist in den vergangenen zwanzig Jahren unbestreit-
bar viel erreicht worden. Die Grundlage für unser heutiges Leben in Demokra-
tie und Freiheit und für die deutsche Einheit wurde von vielen mutigen Men-
schen gelegt, die auf vielfältige Weise für Reformen eines undemokratischen
Systems kämpften. Die Menschen in Ostdeutschland haben die Diktatur
schließlich aus eigener Kraft überwunden und wissen vielleicht besser als an-
dere, wie kostbar die Freiheit ist.

Seit der geglückten friedlichen Revolution hat es dank der Anpassungsbereit-
schaft und des Fleißes der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger, aber auch
dank der Solidarität der Westdeutschen Fortschritte gegeben. Dies wird auch im
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2010 deut-
lich. Die wirtschaftliche Entwicklung ist seit dem Jahr 2000 in eine Phase der
nachhaltigen Konvergenz getreten. Dennoch liegt das pro Einwohner erzeugte
Bruttoinlandsprodukt bei lediglich rund 73 Prozent des westdeutschen Niveaus.

Deshalb gehört zu einer ehrlichen Bilanz die Feststellung, dass die soziale Ein-
heit auch nach zwanzig Jahren noch längst nicht vollzogen ist. Die Anglei-

chung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West kommt vielmehr nur
noch schleppend voran. Der anhaltende Rückstand in der ostdeutschen Wirt-
schaftskraft hat laut Einschätzung verschiedener Wirtschaftsforschungsinstitute
(iwh, ifo-Institut) insbesondere strukturelle Gründe. Der Zusammenbruch gro-
ßer Industrien konnte bis heute nicht kompensiert werden, Existenzgründungen
waren nicht überall von Erfolg gekrönt. Die verfehlten Treuhand-Privatisierun-
gen werfen bis heute einen langen Schatten (was der Jahresbericht leider voll-

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ständig ausblendet). Strukturell unterscheidet sich die ostdeutsche Wirtschaft
noch maßgeblich von der der alten Länder. Stark vertreten sind Dienstleistun-
gen und der öffentliche Sektor, hingegen ist das produzierende Gewerbe nach
wie vor unterrepräsentiert. Es fehlt außerdem an Unternehmenshauptsitzen.
Dies und die geringe Größe vieler Unternehmen erschweren zudem Forschung
und Entwicklung und eine stärkere Exportorientierung. Viele Unternehmen
sind lediglich verlängerte Werkbänke des Westens, die wiederum nur über
wenige Arbeitsplätze für gut qualifizierte Beschäftigte verfügen.

Dennoch hat sich zwischen Rügen und Thüringer Wald die Situation am
Arbeitsmarkt verbessert. Seit 2005 konnten die ostdeutschen Länder Beschäfti-
gungszuwächse verzeichnen und mussten selbst im Krisenjahr 2009 nur einen
moderaten Arbeitsplatzverlust hinnehmen. Im August 2010 ist die Arbeitslosig-
keit auf unter eine Million gesunken. Das entspricht einer Quote von 11,5 Pro-
zent. Ungeachtet all dessen ist die Arbeitslosigkeit immer noch fast doppelt so
hoch wie in Westdeutschland (Quote: 6,6 Prozent). Hinzu kommt, dass die Zahl
geringfügiger bzw. schlecht bezahlter Beschäftigung gerade im Osten überpro-
portional hoch ist. Auch kristallisieren sich immer stärker regionale Unter-
schiede innerhalb Ostdeutschlands heraus. Zudem verharrt seit Jahren ein
unverändert großer Kreis von Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit. Die ost-
deutschen SPD-Bundestagsabgeordneten hatten bereits im Jahr 2006 einen
„sozialen“ bzw. „dritten“ Arbeitsmarkt gefordert, um diesem Personenkreis
neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Mit ihrem vor einiger Zeit vor-
gestellten Modell der Bürgerarbeit hat die Bundesregierung diesen Vorschlag
allenfalls halbherzig aufgegriffen: Ein Bruttolohn von 900 Euro ist inakzepta-
bel, es ist außerdem völlig ungeklärt, wie bei diesem Modell die Verdrängung
von regulärer Beschäftigung vermieden werden kann.

Zeitgleich sorgt die demographische Entwicklung für Entlastung auf dem
Arbeitsmarkt – ein Trend, der in den kommenden Jahren anhalten dürfte und zu
einem gravierenden Fachkräftemangel führen kann. Jüngste Studien belegen,
dass beispielsweise in der Region Berlin/Brandenburg bereits in fünf Jahren
knapp 300 000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, da qualifizierte
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fehlen. Gleichzeitig wird für viele Lang-
zeitarbeitslose der Weg in Beschäftigung weiter sehr schwierig sein. Umso un-
verständlicher ist, dass die Bundesregierung angesichts dieser kolossalen
Engpässe kaum Initiativen zeigt. So droht der Fachkräftemangel zu einer
Bremse nicht nur für den Aufschwung, sondern für die Überlebensfähigkeit der
deutschen Wirtschaft insgesamt zu werden. Wenn die ostdeutsche Wirtschaft
auf Dauer Erfolg haben will, ist sie auf leistungsstarke Menschen angewiesen,
die gut qualifiziert sind und sich stetig weiterbilden.

Mit Blick auf die zusätzliche Öffnung des (ost-)deutschen Arbeitsmarktes ab
Mai 2011 infolge der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeitsregelung muss ein wirt-
schaftlich fairer wie sozial gerechter Wettbewerb geschaffen werden. Dazu ge-
hören soziale Mindeststandards, Mindestlöhne und damit die Ausweitung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf weitere Branchen. Nur so können die
zweifellos bestehenden Ängste in der Bevölkerung vor der Konkurrenz aus
dem Ausland abgebaut werden. Nur dann wird die unbeschränkte Freizügigkeit
als eine positive Antwort auf den demographischen Wandel verstanden. Ob-
wohl der Handlungsbedarf groß ist, zeigt die Bundesregierung hier bislang nur
eine äußerst unzureichende Handlungsbereitschaft.

Die Folgen des demographischen Wandels schlagen sich bereits jetzt auf dem
ostdeutschen Ausbildungsmarkt nieder. Inzwischen bleiben immer mehr Aus-
bildungsplätze unbesetzt. Mittelständische Unternehmen und Handwerk wettei-
fern zunehmend um den immer schwerer zu findenden qualifizierten Nach-

wuchs, gleichzeitig verlassen immer noch zu viele junge Menschen die Schule
ohne Abschluss.

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Positiv ist, dass sich die Zahl der Studienanfänger seit 1990 mehr als verdoppelt
hat und damit deutlich stärker gestiegen ist als in Westdeutschland (inklusive
Berlin). Die ostdeutschen Hochschulen haben in den vergangenen Jahren an
Attraktivität gewonnen. Im Zusammenhang mit dem Hochschulpakt 2020
bleibt abzuwarten, ob mit der Zahl von Studienplätzen auch die Zahl der Stu-
dierenden in Ostdeutschland entsprechend wächst. So sehr wie das technische
Know-how an den Universitäten und Hochschulen gestiegen ist, so wenig hat
sich das wissenschaftliche Know-how bisher entfalten können. Dies wurde
umso deutlicher, als bei der Exzellenzinitiative vor allem Universitäten aus
Südwestdeutschland den Zuschlag für Spitzenförderung bekamen. Auch hier ist
der Osten noch weit von gleichen Wettbewerbsbedingungen entfernt. Das
Stipendienprogramm der Bundesregierung benachteiligt wirtschaftlich schwä-
chere Regionen sowie Regionen, die nicht über eine traditionsreiche Hoch-
schullandschaft verfügen, da die Hälfte der Mittel von privaten Geldgebern
eingeworben werden muss. Dies wird in Ostdeutschland mit seiner kleinteili-
gen Unternehmensstruktur nicht funktionieren. Das Programm ist eindeutig auf
die hier deutlich privilegierten Verhältnisse in Westdeutschland ausgerichtet.

Der Fortschrittsbericht macht ebenfalls deutlich, dass die DDR eine marode
Verkehrsinfrastruktur hinterließ. Die hier erzielten Fortschritte sind beispiellos.
Ostdeutschland verfügt inzwischen über eine moderne Infrastruktur. Viele Dör-
fer und Städte erstrahlen in neuem Glanz. Zahlreiche Kitas, Schulen und Kran-
kenhäuser sind oder werden gerade modernisiert. Vor diesem Hintergrund er-
scheint es grotesk, dass die Städtebauförderung nach dem Willen der Bundes-
regierung – verteilt auf acht Jahre – um insgesamt 2,4 Mrd. Euro gekürzt
werden soll. Dies würde für viele ostdeutsche Städte und Gemeinden sowie für
das örtliche Handwerk gravierende negative Folgen haben. Hinzu kommt der
Kahlschlag bei den Programmen der KfW Bankengruppe zur energetischen Ge-
bäudesanierung um 70 Prozent. In der Praxis bedeutet dies ein weitgehendes
Erliegen der Bautätigkeit, auch die anstehenden Herausforderungen des Klima-
schutzes würden kaum noch bewältigt. Das jetzt noch bewilligte Geld wird nur
noch zur Abwicklung bereits begonnener Projekte ausreichen. Investitions-
stopps in den Kommunen dürften die zwangsläufige Folge sein. Von den Pla-
nungsbüros bis zur Baubranche könnten Tausende von Arbeitsplätzen wegfal-
len und Steuereinnahmen in Millionenhöhe ausbleiben.

Damit unterläuft die Bundesregierung außerdem den von Bund und Ländern
einvernehmlich beschlossenen Solidarpakt II. Die sozialdemokratische Bun-
desregierung unter Gerhard Schröder hatte seinerzeit dafür gesorgt, dass den
neuen Ländern mit dem sogenannten Korb II des Solidarpakts überproportio-
nale Leistungen in vollem Umfang von 51 Mrd. Euro bis 2019 zugesagt wer-
den. Die Städtebauförderung ist fester Bestandteil des Korbs II. Eine Halbie-
rung der Mittel würde den Solidarpakt aushöhlen. Aus gutem Grund wurde von
einer SPD-geführten Bundesregierung mit dem Solidarpakt II ein fester und
verbindlicher Rahmen für die weitere Entwicklung Ostdeutschlands geschaf-
fen. Daran darf nicht gerüttelt werden. Umso unverständlicher sind daher die
Pläne der Bundesregierung, die sich gut entfaltende Bauwirtschaft in Ost-
deutschland plan- und sinnlos abzuwürgen.

Allerdings wird der Trend zum nur mühsam bemäntelten Ausstieg aus dem
Solidarpakt auch in weiteren Bereichen erkennbar, wo ohne eine verlässliche
Förderpolitik des Bundes mit den Schwerpunkten Innovation, Investition und
Infrastruktur kaum die vielfältigen Impulse der letzten Jahre erzielt worden
wären. So fallen mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstruktur bzw. der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes zwei der wichtigsten ostdeutschen Wirt-
schaftsförderinstrumente der jedenfalls aus ostdeutscher Perspektive offenbar

völlig blinden „Sparwut“ der Bundesregierung zum Opfer. Laut Bundeshaus-
haltsplan sollen diese ab 2011 zusammen um rund 109 Mio. Euro reduziert

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werden. Hier muss daran erinnert werden, dass noch im Sommer 2008 Einver-
nehmen darüber bestand, die beiden Gemeinschaftsaufgaben nicht anzutasten,
um das für Ende 2013 anstehende Auslaufen der sogenannten I-Zulage als drit-
tem wichtigen Wirtschaftsförderinstrument zu kompensieren. Allein im Jahr
2007 konnte mit den rd. 530 Mio. Euro (gesamt 644 Mio. Euro) aus der Ge-
meinschaftsaufgabe für die ostdeutsche Wirtschaft ein Investitionsvolumen von
knapp 7 Mrd. Euro angeregt werden, fast 120 000 Dauerarbeitsplätze wurden
so geschaffen bzw. gesichert.

Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer,
feiert sich insbesondere in diesen Tagen und Wochen dafür, dass die Verkehrs-
projekte Deutsche Einheit fertiggestellt werden.

Gleichzeitig vollzieht sein „Haus“ einen Schwenk hin zum Aufbau West, der
mit einem „Nachholbedarf“ gerechtfertigt werden soll. Dazu passt, dass das
Förderprogramm für ostdeutsche Sportstätten (Goldener Plan Ost) zugunsten
der Skiweltmeisterschaft im nächsten Jahr im bayerischen Garmisch-Partenkir-
chen ganz wegfällt.

Die Chancen Ostdeutschlands liegen zukünftig noch stärker als bisher in neuen
Technologien und innovativen Industriefeldern. Dabei spielt die Energiefrage
eine große Rolle. Die Energiepolitik wird immer mehr zu einer echten Stand-
ortfrage für Ostdeutschland, das sich bei den erneuerbaren Energien zum Kom-
petenzzentrum Europas entwickelt hat. Die Bundesregierung müsste alles dafür
tun, die im Osten gewachsene Kompetenz als Anbieter und Anwender neuer
Lösungen bei der Energieversorgung zu nutzen, damit Ostdeutschland auch zur
Modellregion für ökologische Industriepolitik werden kann. Stattdessen setzt
die Bundesregierung diese hoffnungsvolle Perspektive mit den von ihr be-
schlossenen tiefen Einschnitten bei der Solarförderung aufs Spiel. Diese Ent-
scheidung wird in manchen Unternehmen eine Senkung der Kosten um 40 Pro-
zent nötig machen und wertvolle Arbeitsplätze kosten.

Im ökologischen Bereich ist seit der Einheit sehr viel geleistet worden. Denn
zweifellos war die ökologische Bilanz der DDR verheerend. Zahlreiche Gewäs-
ser – vor allem Flüsse – waren teils schwer „ökologisch zerstört“, wie Gewäs-
sergüteklassen auswiesen. Die Braunkohlenutzung in der DDR war auf Grund
ihrer völlig unzureichenden, umweltfeindlichen Technologie nicht nur ein öko-
nomischer Schwachpunkt, sondern eine gefährliche Belastung der Umwelt.
Auch heute noch ist die Nutzung der Braunkohle ein wichtiger Faktor bei der
Stromerzeugung in Ostdeutschland, vor allem in Brandenburg und Sachsen.
Auch hier wird es nötig sein, die Umstellung auf erneuerbare Energien weiter
voranzutreiben.

Zu den großen Errungenschaften der Einheit zählt die Eingliederung der Bürge-
rinnen und Bürger Ostdeutschlands in die Sozialsysteme der Bundesrepublik
Deutschland. Damit wurden die Voraussetzungen für eine solide soziale Siche-
rung geschaffen. Und dennoch ist die Angleichung der Lebensverhältnisse ge-
rade auf diesem Feld noch nicht vollständig gelungen. Die soziale Einheit unse-
res Landes ist nicht vollendet. Es hilft nichts, wenn die Löhne zwar nach
Tarifniveau formal auf 96 Prozent und damit fast angeglichen sind, die tatsäch-
lich gezahlten Löhne auf Grund der geringeren Tarifbindung jedoch deutlich
darunter liegen. Viele derjenigen, die jeden Tag fleißig zur Arbeit gehen, blei-
ben damit auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Das ist ein idealer
Nährboden für das im Osten noch immer weit verbreitete Gefühl der Zweitklas-
sigkeit.

Zum Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, trägt auch die Tatsache bei, dass es
20 Jahre nach der Einheit in so wesentlichen Bereichen wie dem Rentensystem
noch immer unterschiedliche Rechtsgrundlagen gibt. Der Unmut hierüber ist

verständlich und nachvollziehbar. Dennoch: So lange nichts Gleichwertiges auf

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dem Tisch liegt, muss es beim derzeitigen, fein austarierten System mit dem für
die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger so wichtigen Aufwertungsfaktor blei-
ben.

Aktuell viel drängender für viele Ostdeutsche sind die Sparbeschlüsse der Bun-
desregierung im Sozialbereich. Bis 2014 sollen rund 29,5 Mrd. Euro zum Bei-
spiel durch Abschaffung des Elterngeldes, durch Wegfall der Zuschüsse zur
Rentenversicherung bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern oder durch die Um-
wandlung von Pflicht- in Ermessensleistungen eingespart werden. Dies wird
vor allem den Osten treffen.

Unterm Strich bleibt festzuhalten: Es ist viel erreicht worden, es bleibt aber
auch noch viel zu tun. Ostdeutschland hat sich seine Perspektiven hart erarbei-
tet, darauf können wir alle, Ost- wie Westdeutsche, stolz sein. Das Erreichte
darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass noch immer weite Teile
durch einen strukturellen Nachholbedarf gekennzeichnet sind und das die ost-
deutsche Wirtschaftskraft noch längst nicht an die der westdeutschen Länder
heranreicht. Auch deshalb ist es notwendig zu überprüfen, wie und in welcher
Art und Weise den vom Bevölkerungsrückgang besonders betroffenen Ländern
und Regionen z. B. durch eine Dünnsiedlerzulage geholfen werden kann.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. allen nachfolgenden Forderungen unter der Prämisse nachzukommen, dass
das Erreichen der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ oberste Priori-
tät hat. Dazu muss die Aufbau-Ost-Politik auch künftig alle Anstrengungen
unternehmen, die ostdeutschen Länder wirtschaftlich voranzubringen;

2. den ostdeutschen Ländern und Kommunen in den kommenden zehn Jahren
bis zum Auslaufen des Solidarpaktes II keine zusätzlichen Mindereinnah-
men aufzubürden angesichts der Tatsache, dass die Zuweisungen aus dem
Solidarpakt II degressiv gestaltet sind und demzufolge bis 2019 kontinuier-
lich abschmelzen;

3. die bestehenden Verwendungskriterien bei den Zuweisungen im Rahmen
des Solidarpaktes II (hier Korb I) geringfügig zu verändern. Es sollen nicht
mehr nur „investive“ Ausgaben im Sinne der Finanzstatistik, sondern auch
„laufende“ Ausgaben der Wirtschaftsförderung durch Solidarpaktmittel
finanzierbar sein. Es soll jedoch keine vollständige Aufhebung der Verwen-
dungsauflagen geben, um zu verhindern, dass Personal- und sonstige kon-
sumtive Ausgaben aus den Solidarpaktmitteln finanziert werden. Analog zu
den Richtlinien bei der EU-Strukturfondsförderung könnten den Ländern
erweiterte Handlungsspielräume bei der Verwendung gegeben werden;

4. gleichzeitig am Solidarpakt als wichtigem Eckpfeiler für den weiteren wirt-
schaftlichen Aufholprozess nicht zu rütteln. Angesichts der Finanz- und
Wirtschaftskrise und ihrer noch immer unabsehbaren Folgen müssen die ge-
gebenen Zusagen eingehalten werden. Das betrifft insbesondere Verwen-
dungsbeschränkungen für den Korb II, aus dem sich beispielsweise die
Städtebaufördergelder speisen. Eine Halbierung der Mittel für die Städte-
bauförderung ab dem Jahr 2011 von rd. 610 auf rd. 305 Mio. Euro (und da-
mit für so wichtige Programme wie den „Stadtumbau Ost“, die „Soziale
Stadt“ und den „Städtebaulichen Denkmalschutz“) würde den Solidarpakt
aushöhlen;

5. das bewährte Programm „Stadtumbau Ost“ auf Grundlage der Vereinbarung
in der großen Koalition der CDU/CSU und SPD bis 2016 im bisherigem
Umfang fortzuführen. Dabei muss eine Anschlussregelung zur Altschulden-
hilfe gefunden werden. Viele kommunale Wohnungsunternehmen, Kommu-

nen und Wohnungsgenossenschaften bedürfen weiterhin der Unterstützung,
um den Anforderungen aus Wohnungsleerstand, demographischem Wandel

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und erhöhten Qualitätserwartungen seitens der Mieter gerecht werden zu
können;

6. die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) zügig zum Abschluss zu
bringen. Das gilt insbesondere für die VDE 1, 8.1, 8.2 sowie 9;

7. den absehbaren Fachkräftemangel mit intelligenten Lösungen und Initiati-
ven zu kompensieren. Die ab Mai 2011 geltende vollständige EU-Arbeit-
nehmerfreizügigkeit gegenüber den „neuen“ Beitrittsländern sollte dabei
als positives Signal aufgenommen und gründlich vorbereitet werden. Die
Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Bund, den ostdeutschen Ländern
und den Herkunftsländern der „Zuwanderer“ sollen dabei intensiviert wer-
den. Bestehende Vorbehalte in Wirtschaft und Öffentlichkeit müssen von
der Bundesregierung ernst genommen und schließlich abgebaut werden.
Unabdingbar bleiben in diesem Zusammenhang die Einführung von Min-
destlöhnen und die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes;

8. das Qualifikationsniveau der ostdeutschen Erwerbspersonen zu erhöhen.
Der demographisch bedingten Verknappung des Fachkräftepotentials muss
kurzfristig mit zielführenden Weiterbildungsmaßnahmen für bereits Er-
werbstätige und langfristig mit weiteren qualitativen Reformen in der Bil-
dung Rechnung getragen werden. Dazu gehört der Ausbau von Ganztags-
schulen, längeres gemeinsames Lernen sowie eine bessere Sachausstattung
der Schulen bzw. noch besserer Ausstattung mit Lehrpersonal;

9. in diesem Zusammenhang weiterhin zu überprüfen, wie die Leistungs-
fähigkeit der ostdeutschen Universitäten und Hochschulen zur Bekämp-
fung des drohenden Fachkräftemangels erhöht werden kann. Zu häufig
wird noch am Bedarf der Wirtschaft vorbei ausgebildet. Hier sollten vor
allem die Fachhochschulen mit einbezogen werden. Um möglichst vielen
jungen Menschen ein Studium zu ermöglichen, ist eine Ausweitung der
BAföG-Berechtigten nötig. Das nationale Stipendienmodell wirkt in Ost-
deutschland dagegen kontraproduktiv;

10. die für Ostdeutschlands Wirtschaft eminent wichtige Gemeinschaftsaufgabe
zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und die Gemein-
schaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes
gemäß dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP wieder auf das
Förderungsniveau zu führen, dass die Gemeinschaftsaufgaben vor der Wirt-
schaftskrise im Jahr 2008 hatten;

11. im Zusammenhang mit der künftigen Ausrichtung und Höhe der Gemein-
schaftsaufgaben außerdem zu überprüfen, inwieweit zur Grundförderung
Aufschläge gezahlt werden können, wenn das entsprechende Unternehmen
bestimmte qualitative Kriterien erfüllt (z. B. Schaffung von hochwertigen
Arbeitsplätzen, Durchführung von Forschung und Entwicklung – FuE – in
Ostdeutschland);

12. endlich das groß angekündigte und auf der Kabinettklausur in Meseberg im
November 2009 beschlossene ganzheitliche „Demographie-Konzept für
strukturschwache Regionen“ vorzulegen. Der anhaltende Wegzug aus ost-
deutschen Regionen ist nicht aufzuhalten und wird zu einer gravierenden
Zunahme von regionalen Disparitäten führen. Deshalb müssen alle Maß-
nahmen ergriffen werden, die geeignet sind, das notwenige Mindestmaß an
öffentlicher Daseinsvorsorge zu sichern. Die Kommunen müssen dabei un-
terstützt werden, sinnvolle Maßnahmen wie die arztentlastende Gemeinde-
schwester zu installieren;

13. in Anbetracht der massiv gekürzten arbeitsmarktpolitischen Instrumente
das Modell Kommunalkombi wieder einzuführen und weiterzuentwickeln

mit der Prämisse, dabei der Verdrängung von regulärer Beschäftigung zu

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/3078

begegnen sowie den unzureichenden Bruttolohn von 900 Euro auf ein aus-
kömmliches Maß anzuheben;

14. an die Tarifparteien zu appellieren, das noch immer bestehende Ost-West-
Gefälle bei den Löhnen endlich anzupassen;

15. bei den Verhandlungen zur Verkaufspraxis der Bodenverwertungs- und
-verwaltungs GmbH (BVVG) von Seen und Gewässern schnellstens zu
einem einvernehmlichen Abschluss zu kommen, der einer unbeschränkten,
öffentlichen Nutzung der Seen nicht entgegensteht;

16. sich bei den anstehenden Verhandlungen zur kommenden EU-Förder-
periode ab 2014 gezielt für die Interessen der ostdeutschen Länder einzu-
setzen. Innerhalb der EU wird demnächst eine massive Debatte über die
künftige Verteilung der Strukturfondsmittel einsetzen, wo es für die ost-
deutschen Länder um künftige Hilfen für Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und
Sozialprojekte sowie Hilfen für den ländlichen Raum gehen wird;

17. schließlich eine gerechte Lösung im Sinne aller Beteiligten bei der Verein-
heitlichung der Rentensysteme herbeizuführen.

Berlin, den 29. September 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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