BT-Drucksache 17/13703

Verfassungskonforme Sicherheitsgesetzgebung

Vom 29. Mai 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13703
17. Wahlperiode 29. 05. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Ingrid Hönlinger,
Memet Kilic, Jerzy Montag, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verfassungskonforme Sicherheitsgesetzgebung

Am 24. April 2013 hat das Bundesverfassungsgericht das Antiterrordateigesetz
(ATDG) für teilweise verfassungswidrig erklärt und weitreichende gesetzgebe-
rische Reformen gefordert. Das Urteil, das sich mit dem verfassungsrechtlichen
Gebot auch der informationellen Trennung von Nachrichtendiensten und Poli-
zei auseinandersetzt, hat über das Antiterrordateigesetz weit hinausgehende
Konsequenzen und legt die Überprüfung der Übermittlungsvorschriften der
Sicherheitsgesetze insgesamt nahe.

Die verfassungsrechtliche Problematik der nun vom Bundesverfassungsgericht
gerügten Vorschriften war spätestens seit der Anhörung des Innenausschusses
des Deutschen Bundestages am 6. November 2006 und nach der Stellungnahme
der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom
26./27. Oktober 2006 bekannt. Weitergehende verfassungsrechtliche Bedenken
gegen Recht, Praxis und Datenschutzkontrolle der Antiterrordatei hat seither
immer wieder der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informations-
freiheit (BfDI) gegenüber der Bundesregierung geäußert (s. auch BfDI, 23.
Tätigkeitsbericht 2009/2010 S. 83 ff., neuerdings 24. Tätigkeitsbericht S. 92 f.).

Dennoch befasst sich der Bericht zur Evaluierung des Antiterrordateigesetzes,
den das Bundesministerium des Innern (BMI) am 7. März 2013 dem Deutschen
Bundestag vorgelegt hat (Bundestagsdrucksache 17/12665 (neu)), auf lediglich
3 von 55 Seiten sehr oberflächlich mit der Analyse verfassungsrechtlicher Pro-
bleme und setzt sich stattdessen ausführlich mit Fragen der Handhabbarkeit, der
Nutzerzufriedenheit und den Wünschen der Behörden nach funktionaler Weiter-
entwicklung der Datei auseinander. Die Existenz eines verfassungsrechtlichen
informationellen Trennungsgebots (neben einem organisatorischen und funktio-
nalen), die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Antiterrordatei
nun bestätigt wurde, zieht der Evaluierungsbericht (s. S. 52) des BMI gar nicht
in Betracht, obwohl sie in der Fachliteratur seit langer Zeit vertreten wird. Frei-
mütig bekennt der Evaluierungsbericht (S. 50) aus den empirisch ermittelten
Nutzungszahlen, die gemäß der gewählten Methodik die Informationsbasis der
Evaluierung sind, könne nicht zwingend die rechtliche Aussage zur Bemessung
der verbundenen Grundrechtseingriffe abgeleitet werden. Die Auseinanderset-
zung mit qualitativen Aspekten gehe über den Fokus des vorgelegten Evaluie-
rungsberichts hinaus. Für die Grundrechtsanalyse wird auf ein offenbar vom
Bundesministerium der Justiz (BMJ) gegenüber dem BMI durchgesetztes
rechtswissenschaftliches Zweitgutachten verwiesen. Informationen dazu, von
wem dieses Gutachten erstellt wird und wann es vorgelegt werden soll, werden
nicht gegeben.

Drucksache 17/13703 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Durch das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
durch das Bundeskriminalamt (BKA) wurde das BKA-Gesetz 2008 neu gefasst.
Ungeachtet erheblicher verfassungsrechtlichter Bedenken seitens einer Reihe
von Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages vom 15. September 2005, von namhaften Verfassungsrechtlern,
den Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sowie aus der Zivil-
gesellschaft hat das BKA mit dieser Gesetzesänderung weitreichende Vorfeld-
befugnisse und Befugnisse zur heimlichen Überwachung erhalten. Neun Ab-
geordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Wolfgang Wieland,
Hans-Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Claudia Roth (Augsburg), Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Renate Künast und Volker
Beck (Köln)) haben im Mai 2009 Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung
des BKA-Gesetzes erhoben. In der Verfassungsbeschwerde kritisieren sie insbe-
sondere die Weite und Unbestimmtheit des Anwendungsbereichs des Gesetzes,
die Verletzung ihrer Grundrechte durch die neuen Befugnisse des BKA zur
Onlinedurchsuchung, zum Videospähangriff und zur Rasterfahndung sowie die
übermäßige Ausstattung der Sicherheitsbehörden mit Überwachungsbefugnis-
sen, die zu unverhältnismäßigen Eingriffen in die Grundrechte der Betroffenen
führt und absolute Sicherheit vorgaukelt, die es nicht gibt. Die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Urteile zur Rasterfahndung
(2005) und zur Onlinedurchsuchung (2008), ist nach Ansicht der Abgeordneten
bei der Neufassung des BKA-Gesetzes nicht vollständig berücksichtigt worden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird noch im Jahr 2013 erwartet.

Ebenfalls unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts enthält der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die
17. Wahlperiode auf S. 98 f. eine lange Passage zum BKA-Gesetz, in der unter
anderem eine Verbesserung des Kernbereichsschutzes und des Grundrechts-
schutzes durch Verfahren zwischen den Koalitionsfraktionen vereinbart wer-
den. Diese Vereinbarung wurde aber bisher nicht umgesetzt.

Soweit ersichtlich, hat die Bundesregierung bisher auch nicht die gemäß Artikel 6
des BKA-Gesetzes 2008 erforderliche Evaluation des BKA-Gesetzes vorberei-
tet, obwohl die Evaluierung nach dieser Vorschrift nach fünf Jahren, also bis De-
zember 2013, zu erfolgen hat.

Insbesondere mit seinem Urteil zur Vorratsspeicherung von Telekommunika-
tionsverbindungsdaten vom 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht
unter anderem festgestellt, dass es zur verfassungsrechtlichen Identität
Deutschlands gehört, „dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total
erfasst und registriert werden darf“ (Urteil 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR
586/08, Rn. 218). Damit hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber
erneut aufgegeben, in der Sicherheitsgesetzgebung stets auch die durch die Ku-
mulation verschiedener Eingriffsbefugnisse entstehende Intensität der Grund-
rechtseingriffe für den Einzelnen vorab und laufend sorgsam zu prüfen.

Das Bundeskabinett hat im August 2011 die Errichtung einer Regierungskom-
mission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland be-
schlossen. Diese Regierungskommission wurde am 28. Januar 2013 eingesetzt.
Nach Auskunft der Bundesregierung wird die Regierungskommission vom
BMI und dem BMJ in gemeinsamer Federführung geleitet. Ihr gehören weiter-
hin Generalbundesanwältin a. D. Professorin Monika Harms, der Vizepräsident
des Deutschen Bundestages a. D., Dr. Burkhard Hirsch, Professor Dr. Heinrich
Amadeus Wolff und Professor Dr. Matthias Bäcker, LL.M. als wissenschaft-
liche Sachverständige sowie je ein fachlicher Vertreter des BMJ und des BMI
an. Zur Teilnahme an den Sitzungen sind auch das Bundesministerium der
Verteidigung (BMVg), das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das
Bundeskanzleramt eingeladen. Ebenfalls nach Auskunft der Bundesregierung
beabsichtigt die Kommission, ihren Abschlussbericht mit entsprechenden Emp-
fehlungen bis zum Ende der Legislaturperiode im Sommer 2013 zu erstellen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13703

(Bericht der Bundesregierung, Ausschussdrucksache 463 des 2. Untersu-
chungsausschusses der 17. Wahlperiode).

Der Deutsche Bundestag wird voraussichtlich Ende Juni 2013 zur letzten Sit-
zungswoche in dieser Legislaturperiode zusammentreten. Am 22. September
2013 finden die Wahlen zum 18. Deutschen Bundestag statt. Aus diesem Grund
ist nicht zu erwarten, dass es in dieser Legislaturperiode noch zu der notwen-
digen verfassungs- und grundrechtsorientierten Reform der deutschen Sicher-
heitsgesetzgebung kommen wird.

Wir fragen die Bundesregierung:

Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April
2013 zum Antiterrordateigesetz

1. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts zur Antiterrordatei (1 BvR 1215/07 vom 24. April
2013)?

Ist ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung des Urteils im
Hinblick auf das ATDG noch in dieser Legislaturperiode zu erwarten?

2. Aus welchem Grund wurden die bekannten verfassungsrechtlichen Pro-
bleme der Antiterrordatei nicht von vornherein in das Evaluierungsdesign
der Evaluierung der Antiterrordatei einbezogen, obwohl aus Sicht der Frage-
steller aus wissenschaftlich-methodischer Sicht die Trennung von empi-
risch-sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Aspekten dem
Zweck einer grundrechtsorientierten Evaluierung entgegensteht?

3. Worin bestand der Dissens zwischen dem BMI und dem BMJ im Hinblick
auf Evaluierungsgegenstand und Evaluierungskriterien bei der Evaluierung
des ATDG (taz, 5. Juni 2011).

4. Von wem wird das angekündigte Rechtsgutachten erstellt, und wann wird
das Einvernehmen des Deutschen Bundestages zur Bestellung dieses Sach-
verständigen eingeholt?

5. Wie will die Bundesregierung angesichts des nahenden Endes der Wahlperi-
ode gewährleisten, dass dem zu bestellenden rechtswissenschaftlichen Sach-
verständigen ein angemessener Zeitraum für die Erstellung des Gutachtens
zur Verfügung steht?

6. Wann wird das Rechtsgutachten dem Deutschen Bundestag vorgelegt wer-
den?

7. Hat die Bundesregierung in Reaktion auf die anhaltende Kritik von Daten-
schützern in den letzten Jahren ein Konzept für eine bessere Datenschutz-
kontrolle der Antiterrordatei entwickelt?

8. Hat die Bundesregierung angesichts anhaltender verfassungsrechtlicher Kritik
und kritischer Nachfragen des Bundesverfassungsgerichts in der mündlichen
Verhandlung vom 6. November 2012 bereits alternative Regelungsvorschläge
zu § 1 Absatz 2 ATDG (beteiligte Behörden), § 2 ATDG (gespeicherte Perso-
nen), § 5 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1a ATDG (Inverssuche) oder zum besseren
Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses und der Unverletzlichkeit der
Wohnung erarbeitet?

9. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom 24. April 2013 für Recht und Praxis der Rechts-
extremismusdatei und des neuen Gemeinamen Extremismus- und Terrorab-
wehrzentrums – GETZ?

Ist diesbezüglich in dieser Legislaturperiode ein Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zu erwarten, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um-
setzt?

Drucksache 17/13703 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

10. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom 24. April 2013 für die Datenübermittlungsvor-
schriften der Sicherheitsgesetzgebung insgesamt?

Hat die Bundesregierung diesbezüglich einen strukturierten Prozess zur
verfassungsrechtlichen Überprüfung dieser Übermittlungsvorschriften ein-
geleitet?

a) Falls nein, warum nicht?

b) Falls ja, wie ist dieser Prozess strukturiert (überprüfte Vorschriften, Fra-
gestellung, Zeitplan, Beteiligte)?

c) Falls ja, sind die Länder in diesen Prozess eingebunden?

Reform des BKA-Gesetzes zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes

11. Wird die Bundesregierung noch bis zum Ende der Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf zur Änderung des BKA-Gesetzes vorlegen, der – wie im
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vorgesehen – der Ver-
besserung des Grundrechtsschutzes durch Stärkung des Schutzes des Kern-
bereichs privater Lebensgestaltung und durch grundrechtsschützende Ver-
fahrensvorschriften dient?

12. Wird die Bundesregierung bis zum Ende der Legislaturperiode ihrer Ver-
pflichtung aus Artikel 6 des BKA-Gesetzes 2008 nachkommen, das Ein-
vernehmen des Deutschen Bundestages im Hinblick auf die Bestellung des
in die Evaluation einzubeziehenden wissenschaftlichen Sachverständigen
herzustellen?

Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung

13. Aus welchem Grund wurde die vom Bundeskabinett bereits im August
2011 beschlossene Regierungskommission erst im Januar 2013 eingesetzt?

14. Wie lautet der Auftrag der Regierungskommission genau, und welche Si-
cherheitsgesetze wird sie überprüfen?

15. Worin bestand der Dissens zwischen dem BMI und dem BMJ im Hinblick
auf die Einsetzung der Regierungskommission, von der in der Presse be-
richtet wird (FAZ, 24. Januar 2013).

16. Welche Konzeption liegt der Arbeit der Regierungskommission zugrunde?

17. Welchen Zeitplan hat die Regierungskommission?

18. Wie wird angesichts der Leitung der Kommission durch zwei Bundes-
ministerien die erforderliche Unabhängigkeit der Arbeit der wissenschaft-
lichen Sachverständigen sichergestellt?

19. In welcher Weise werden die Arbeit der Regierungskommission und die
Stellungnahmen der bestellten wissenschaftlichen Sachverständigen für die
Öffentlichkeit transparent gemacht?

a) Wo sind präzise Informationen über das Mandat der Kommission für die
Öffentlichkeit zugänglich?

b) Wo sind Informationen über die Sitzungen der Kommission und ihre
Tagesordnungen zu finden?

c) Wann und wo wird der Abschlussbericht der Kommission veröffent-
licht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13703

d) Wird es zeitlich möglich sein, den Abschlussbericht noch in dieser Le-
gislaturperiode im Plenum des Deutschen Bundestages zu debattieren?

e) Wie und wann gedenkt die Bundesregierung angesichts des nahenden
Endes der Legislaturperiode, die angekündigten Empfehlungen der
Kommission umzusetzen?

Berlin, den 29. Mai 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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