BT-Drucksache 17/13492

Für eine kohärente Politikstrategie zur Überwindung des Hungers

Vom 15. Mai 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13492
17. Wahlperiode 15. 05. 2013

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Harald Ebner, Uwe Kekeritz, Ute Koczy,
Dr. Hermann E. Ott, Cornelia Behm, Dr. Gerhard Schick, Markus Tressel, Tom
Koenigs, Susanne Kieckbusch, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel, Katja Keul, Stephan Kühn, Kerstin
Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel
Sarrazin, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Frithjof Schmidt und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine kohärente Politikstrategie zur Überwindung des Hungers

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Noch immer ist Hunger eine der größten Geißeln der Menschheit. Im Oktober
2012 korrigierte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen (FAO) die Zahl der chronisch Unterernährten auf 870 Millionen. Diese
Schätzungen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da die FAO selbst diese als
konservativ bezeichnet: Unberücksichtigt bleiben die Auswirkungen kurzfris-
tiger Preisschocks. Zudem beruhen die Daten auf der nationalen Verfügbarkeit
von Nahrungsmitteln, nicht aber auf dem tatsächlichen Erwerb und Konsum.
Dabei ist Armut eine der häufigsten Ursachen für Hunger, d. h. viele können sich
schlicht nicht genügend Lebensmittel leisten, auch wenn diese in ihrem Land
oder der Region ausreichend vorhanden sind. Des Weiteren wurden die FAO-
Daten vor der jüngsten Ernährungskrise im Sahel, die sich Ende 2011 anbahnte,
erhoben. Die Zahl der Hungernden dürfte also eher über der Marke von einer
Milliarde liegen. Hinzu kommen mehr als eine Milliarde Menschen, die zwar
satt werden aber unter „verborgenem Hunger“ leiden, der chronischen Unterver-
sorgung mit lebenswichtigen Mikronährstoffen. Mangelernährung in der Kind-
heit führt zu lebenslangen geistigen und körperlichen Einschränkungen und hat
damit direkte Auswirkungen auf die Entwicklungschancen von Individuen und
Gesellschaften. Während der deutlich größere Anteil der Unterernährten in Ent-
wicklungs- und Schwellenländern lebt, stellen Mangel- und Fehlernährung auch
in den Industrienationen ein gravierendes Problem dar, dem vor allem mit so-
zial-, gesundheits- und bildungspolitischen Maßnahmen begegnet werden muss.

Hunger und Mangelernährung sind weltweit die häufigsten nicht altersbeding-
ten Todesursachen. Jedes Jahr sterben an ihren Folgen mehr Menschen als an

AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen. Unter- und Mangelernährung sind
dabei häufig die versteckte Todesursache. Das Kinderhilfswerk der Vereinten
Nationen (UNICEF) geht davon aus, dass jedes Jahr 2,5 Millionen Kinder unter
fünf Jahren an Unter- und Mangelernährung sterben. Das Welternährungspro-
gramm (WFP) ermittelte 2009, dass täglich 25 000 Menschen dem Hunger zum
Opfer fallen. Alle sechs Sekunden verhungert somit ein Kind oder stirbt an hun-
gerbedingten Krankheiten. Hunger in einer Welt des Überflusses ist ein riesiger

Drucksache 17/13492 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Skandal, der nicht länger ignoriert oder hingenommen werden darf. 57 Jahre,
nachdem das Recht auf angemessene Ernährung im Internationalen Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte explizit verankert wurde, muss
dieses fundamentale Menschenrecht endlich umgesetzt werden.

Die politische Geschichte der Hungerbekämpfung ist lang und wenig rühmlich.
Bereits 1974 ließ Henry Kissinger, damals US-Außenminister, auf der Welt-
ernährungskonferenz in Rom verlauten: „In zehn Jahren wird kein Mann, keine
Frau und kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen“. Beim nächsten Welter-
nährungsgipfel 1996 in Rom verabschiedeten die UN-Mitgliedstaaten ein
Aktionsprogramm, das die Halbierung der Zahl der Hungernden von damals
800 Millionen bis 2015 vorsah. Dieses Ziel wurde auf dem Millenniumsgipfel
2000 verwässert, indem nun nur noch der Anteil der Hungernden an der Welt-
bevölkerung halbiert werden sollte (Millenniumsentwicklungsziel 1 – MDG 1).

Eine verfehlte Politik darf nicht dazu führen, dass die Messlatte zur Reduzie-
rung des Hungers ständig niedriger gehängt wird. Aber selbst das ab-
geschwächte Millenniumsentwicklungsziel 1 wird aller Voraussicht nach nicht
erfüllt werden: Während Südostasien, Ostasien und Lateinamerika Chancen
haben, das MDG 1 fristgerecht bis 2015 zu erreichen, sind Afrika und West-
asien weit davon entfernt.

Hunger ist vor allem ein ländliches Phänomen, etwa Dreiviertel der Hungernden
leben auf dem Lande. Der Förderung des ländlichen Raums muss daher Priorität
eingeräumt werden. Gleichzeitig trägt auch die einkommensschwache und ver-
wundbare städtische Bevölkerung ein hohes Risiko, Hunger zu leiden, vor allem
bei extremen Preisschwankungen und -schocks bei Nahrungsmitteln. Und
Hunger hat überwiegend ein weibliches Gesicht: Frauen und Mädchen machen
70 Prozent der Unter- und Mangelernährten aus. Dabei sind sie es, die in vielen
Entwicklungsländern die Hauptlast für die Ernährung der Familie tragen.

Obwohl aufgrund des Weltbevölkerungswachstums auch die Produktion von
Nahrungsmitteln gesteigert werden muss, ist Unter- und Mangelernährung
heute primär eine Frage von Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Hunger ist
zudem kein Schicksal sondern eine Folge von Politikversagen. Dazu gehören
die jahrzehntelange Vernachlässigung der Landwirtschaft in vielen der von
Hunger betroffen Staaten, ein zu geringer Stellenwert der Ernährungssicherung
in der Entwicklungszusammenarbeit, ungerechte Handels- und Fischereiab-
kommen, Zerstörung von Märkten in Entwicklungsländern durch den Import
hoch subventionierter Agrargüter (u. a. aus europäischer Überschussproduk-
tion), ungerechte Landverteilung und ausbleibende Bodenreformen, sich ver-
schärfende Flächenkonkurrenzen durch den stark zunehmenden Anbau von
Pflanzen für die Futtermittel- und Treibstoffproduktion – oft infolge von um-
strittener Landnahme (land grabbing), ausufernde Spekulation mit Nahrungs-
mitteln, Verschwendung und Verderb von Lebensmitteln (Nachernteverluste),
fehlende oder mangelhafte soziale Sicherungssysteme, fehlende Geschlechter-
gerechtigkeit, kriegerische Auseinandersetzungen sowie der Verlust wertvoller
Böden und der Bodenfruchtbarkeit durch Entwaldung, nicht nachhaltige An-
baumethoden und als Folge des von Menschen verstärkten Klimawandels.

Die vielen unterschiedlichen Ursachen der Welternährungskrise machen deut-
lich, dass nur mit einem ganzheitlichen Ansatz und einer kohärenten, ressort-
übergreifenden Politikstrategie der Hunger in der Welt überwunden werden
kann. Die Eindämmung des Klimawandels nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein.
Denn sollte es nicht gelingen, die Erderwärmung auf maximal zwei Grad im
Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, drohen gewaltige Ver-
luste von Böden und Ernten, die das Welthungerproblem dramatisch verschär-
fen würden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13492

Agroindustrielle Landwirtschaft, die auf kurzfristige Produktionssteigerung
fixiert ist, aber enorme Treibhausgase produziert und den Erhalt der Boden-
fruchtbarkeit missachtet, ist in diesem Zusammenhang eher Teil des Problems
als Teil der Lösung. Auch gentechnisch veränderte Pflanzen lösen keine Pro-
bleme, sondern schaffen neue wie beispielsweise das Auftreten neuer pestizid-
resistenter Megaunkräuter. Außerdem schafft die Nutzung von Gensaatgut
Abhängigkeiten und erhöht die Gefahr, dass vor allem Kleinbäuerinnen und
Kleinbauern in die Schuldenfalle getrieben werden.

Eine kohärente Strategie zur Überwindung des Hungers folgt den Empfehlun-
gen des Weltagrarberichts (IAASTD) und orientiert sich am Leitbild einer stand-
ortangepassten nachhaltigen Landwirtschaft. Es muss darum gehen, vor allem
die Potenziale der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, Viehzucht und handwerk-
lichen Fischerei stärker zu nutzen, in den Entwicklungsländern mehr Wert-
schöpfung und Ernährungssouveränität anzustreben und soziale Sicherungssys-
teme auf- und auszubauen. Zur Überwindung des Hungers sind darüber hinaus
jedoch große Anstrengungen auf allen Ebenen und in nahezu allen Politikberei-
chen nötig. Nur wenn eine weltweite Agrarwende und Offensive zur Stärkung
der Ernährungssicherheit und -souveränität in den Entwicklungsländern von
ambitonierten Klimaschutzmaßnahmen und gerechteren Strukturen im Welt-
handel flankiert wird, kann das Recht auf Nahrung für alle Menschen dieser
Welt verwirklicht werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die ländliche Entwicklung, Landwirtschaft, Fischerei und Viehzucht im Rah-
men der Entwicklungspolitik stärker zu fördern:

1. die deutsche ODA-Quote (Official Development Assistance) bis spätestens
2017 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu steigern und mindes-
tens 10 Prozent der deutschen ODA-Mittel für die Förderung der ländlichen
Entwicklung im Sinne der Ernährungssicherung einzusetzen und die Emp-
fängerländer aufzufordern, gemäß der von der Afrikanischen Union verab-
schiedeten Maputo-Erklärung ebenfalls mindestens 10 Prozent ihrer Staats-
haushalte für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung bereitzustellen;

2. das Recht auf Nahrung und menschenrechtliche Grundprinzipien wie Parti-
zipation, Gleichberechtigung, Rechenschaftspflicht, Nichtdiskriminierung
und Justiziabilität zur Grundlage der strategischen Ausrichtung der länd-
lichen Entwicklung und Hungerbekämpfung in der Entwicklungszusam-
menarbeit zu machen;

3. im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich länd-
liche Entwicklung und Ernährungssicherung

a) verstärkt Programme umzusetzen, die den Zugang von Kleinbäuerinnen/
Kleinbauern, handwerklichen Fischerinnen/Fischern und Pastoralistinnen/
Pastoralisten zu Kleinkrediten und bedarfsorientierter Beratung für den
Aufbau lokaler Wertschöpfungsketten, Regenfeldbau und für nachhaltige
Bewässerungssysteme garantieren;

b) landwirtschaftliche Genossenschaften, Bauernverbände und andere For-
men der Selbstorganisation von Kleinproduzentinnen/Kleinproduzenten
sowie Genossenschaftsbanken in den Partnerländern zu stärken und die
Zielgruppen der ländlichen Entwicklung in die Planung von Strategien und
die Durchführung von Maßnahmen und Programmen mit einzubeziehen;

c) Kleinbäuerinnen/Kleinbauern bei der Zertifizierung für Biolandwirt-
schafts- und Fairtrade-Siegel zu unterstützen;

Drucksache 17/13492 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) der Förderung und Weiterentwicklung von überlieferten Praktiken und
Kenntnissen angepasster, bodenschonender, landwirtschaftlicher Nut-
zungssysteme und pastoraler Nutzungsformen in Zusammenarbeit mit der
lokalen Bevölkerung Vorrang einzuräumen;

e) keine landwirtschaftlichen Forschungs- oder Entwicklungsprogramme zu
fördern, die den Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen vor-
sehen;

f) verstärkt ganzheitliche agrarökologische Anbauverfahren – wie z. B.
Agroforstsysteme und den Stockwerkanbau – zu fördern und dadurch der
Degradation der Böden, Verwüstung, Versteppung und dem Verlust von
Biodiversität entgegenzuwirken sowie fruchtbare Böden und Landschaf-
ten wiederzugewinnen;

g) traditionelle, standortangepasste Nutzungsformen von Pastoralistinnen/
Pastoralisten als Bewirtschaftungsform zur Erhaltung bestehender Öko-
systeme, wie z. B. von Trockenheit betroffener Gebiete, anzuerkennen;

h) mehr Mittel für den Aufbau einer ökologisch und sozial nachhaltigen
handwerklichen Fischerei in Entwicklungsländern und insbesondere für
die Unterstützung der in der Fischverarbeitung tätigen und mit Fisch han-
delnden Frauen bereitzustellen;

i) den Aufbau nationaler Wertschöpfungsketten im Fischerei-, Agrar- und
Viehsektor der Partnerländer zu fördern;

j) urbane und periurbane Landwirtschaft (z. B. Hausgärten, Gewächshäuser,
Kleintierzucht) zu fördern, wodurch v. a. Frauen Einkommensmöglichkei-
ten geboten werden;

k) Investitionen in die Infrastruktur zur Vermeidung von Nachernteverlusten
zu unterstützen;

l) Entwicklungsländer sowohl technisch als auch finanziell dabei zu unter-
stützen, eine effektive Kontrolle über ihre Küstengebiete wahrnehmen zu
können;

4. der Benachteiligung von Frauen und Mädchen entgegenzuwirken, da diese
besonders schwer von der Verletzung des Rechts auf Nahrung betroffen
sind. Gender-Sensibilität und Empowerment müssen in allen Strategien zur
Ernährungssicherung verankert und Partnerländer dabei unterstützt werden,
dass sie

a) alle diskriminierenden Gesetze und Praktiken, die Frauen den Zugang zu
Land, landwirtschaftlichen Inputs und Krediten erschweren, abschaffen;

b) mehr Frauen als Beraterinnen in der ländlichen Entwicklung einzusetzen;

c) einen diskriminierungsfreien Zugang zu sauberem Wasser und zur Sanitär-
versorgung ermöglichen und die Einhaltung von sozialen Standards bei
der Wasserversorgung sicherstellen;

d) den Zugang zu Bildung für Frauen und Mädchen verbessern;

5. den freien Austausch traditionellen Saatguts zu unterstützen, zum Beispiel
durch lokale und gemeinschaftlich organisierte Saatgutbanken;

6. Kooperationen mit Großkonzernen der Agrar- und Ernährungsindustrie im
Bereich Ernährungssicherung – auch im Rahmen der New Alliance for Food
Security and Nutrition der G8-Staaten – kritisch auf deren Kongruenz mit den
entwicklungspolitischen Zielen und Grundsätzen im Rahmen der Armuts-
bekämpfung und Förderung der Ernährungssouveränität in den Partnerländern

zu überprüfen und bei deutlichen Zielkonflikten die Zusammenarbeit zu be-
enden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13492

den Klimawandel einzudämmen und die Anpassung an den Klimawandel zu
unterstützen sowie den Verlust der Biodiversität zu stoppen:

7. die derzeitige internationale Verhandlungsblockade in der Klimapolitik
durch eine Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufzu-
lösen. Vorreiterstaaten müssen sich zusammenschließen und mit einer am-
bitionierten Klimapolitik vorangehen. Eine erfolgreiche Vorreiterallianz
soll andere Staaten motivieren, sich anzuschließen, um die multilaterale
Klimapolitik der Vereinten Nationen aus der Sackgasse zu holen. In diesem
Zusammenhang muss sich die Bundesregierung innerhalb der EU für eine
Erhöhung des CO2-Reduktionsziels auf 30 Prozent bis 2020 einsetzen;

8. im Rahmen einer Klimadiplomatie auf mehr Klimagerechtigkeit hinzuwir-
ken und sich der Verantwortung gegenüber besonders vom Klimawandel
betroffenen Ländern zu stellen. Dazu gehört auch, im Rahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit eine langfristige und fokussierte Strategie der klima-
politischen Zusammenarbeit mit ausgewählten Staaten zu entwickeln und
dabei gezielte Anpassungsmaßnahmen in den vom Klimawandel betroffe-
nen Ländern zu unterstützen;

9. sicherzustellen, dass bei Anpassungsmaßnahmen die Zusammenarbeit mit
der lokalen Bevölkerung, beispielsweise Organisationen von Kleinbauern,
sozialen Bewegungen oder Frauenorganisationen, ins Zentrum gestellt
wird. Fachwissen und tradiertes Wissen der lokalen Bevölkerung sollte
gebündelt, regionale Foren für den Austausch über Best Practices und eine
Datenbank für Anpassungsstrategien sollten aufgebaut werden;

10. die Erhöhung der Agrobiodiversität als zentrale Anpassungsstrategie anzu-
erkennen. Die Stärkung der Nutzpflanzenvielfalt und die Verbesserung der
Bodenfruchtbarkeit sind wichtige Bestandteile der Anpassung an den
Klimawandel. Die Wiederbelebung der Vielfalt von Sorten, integrierte An-
bausysteme und der freie Austausch sowie die Züchtung von traditionellem
Saatgut, etwa durch lokale Saatgutbanken, müssen daher als zentrale An-
passungsmaßnahmen viel stärker als bisher unterstützt werden;

11. sicherzustellen, dass international bis zum Jahr 2020 100 Mrd. US-Dollar
für Maßnahmen gegen den Klimawandel bereitstehen und Deutschland
einen angemessenen Anteil davon trägt;

12. der Prozentsatz der Mittel, die für Anpassungsmaßnahmen bereitgestellt wer-
den, muss auf mindestens 50 Prozent erhöht werden. Die international getä-
tigten Zusagen unter der Rahmenkonvention über die biologische Vielfalt
(CBD) müssen eingehalten und umgesetzt und die von Deutschland auf der
Vertragsstaatenkonferenz (CBD COP 9) in Bonn 2008 zugesagten jährlichen
500 Mio. Euro für den internationalen Biodiversitäts- und Waldschutz dauer-
haft haushaltsmäßig abgesichert werden;

13. Emissionsminderungsmaßnahmen der Klimapolitik auf ihre Kohärenz mit
Zielen von Anpassungsstrategien hin zu überprüfen. Sie dürfen die Ernäh-
rungssicherheit nicht gefährden. Die Reduzierung von Wald und Boden auf
ihre Eigenschaft als CO2-Speicher darf nicht zu Lasten der lokalen Bevöl-
kerung und der Biodiversität gehen;

soziale Sicherungssysteme in Entwicklungsländern aufzubauen:

14. Länder mit mangelnder Ernährungssicherheit darin zu unterstützen, durch
soziale Sicherungssysteme den Zugang zu Nahrung einkommensschwacher
Bevölkerungsgruppen zu stärken und Sicherungssysteme zu entwickeln, die
bei Ernteausfällen und Viehverlusten infolge von Naturkatastrophen oder
Epidemien greifen. Zudem müssen alle Forderungen des Antrags „Aktions-

plan Soziale Sicherung – Ein Beitrag zur weltweiten sozialen Wende“
(Bundestagsdrucksache 17/11665) umgesetzt werden;

Drucksache 17/13492 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

dem land grabbing und water grabbing entgegenzutreten und den Zugang zu
Land zu verbessern:

15. sich national und international für die Umsetzung der „Freiwillige Leitlinien
für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrech-
ten, Fischgründen und Wäldern“ im Rahmen der nationalen Ernährungs-
sicherheit sowie der „Grundprinzipien und Leitlinien zu Zwangsräumungen
und Zwangsvertreibungen“ einzusetzen. Dies bedeutet konkret,

a) die Förderung durch internationale Entwicklungsbanken, in denen
Deutschland bedeutendes Mitspracherecht besitzt (wie z. B. der Welt-
bank), von der Umsetzung der Leitlinien abhängig zu machen;

b) deutsche oder in Deutschland registrierte Investoren durch Gesetze zur
Umsetzung der Leitlinien zu verpflichten;

c) die Förderung durch deutsche Durchführungsorganisationen der Ent-
wicklungszusammenarbeit oder deutsche Entwicklungsbanken daran zu
binden, dass die Leitlinien als Maßstab dienen und in den Projekten und
Programmen umgesetzt werden;

16. sich dafür einzusetzen, dass der Zugang der lokalen Bevölkerung zu
Wasser bei der Verwaltung von Landnutzungsrechten ebenfalls berücksich-
tigt und den in Forderung 27 genannten Maßnahmen entsprechend gewähr-
leistet wird;

17. im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Verhandlungen
mit Partnerländern, die keine Ernährungssicherheit in ihren Ländern ge-
währleisten (können), land grabbing zu thematisieren und mit den Regierun-
gen dieser Partnerländer im Sinne der Ziele der bilateralen und nationalen
Strategien zur ländlichen Entwicklung auf die Ausarbeitung umfassender
Bodenpolitiken und Landnutzungspläne sowie redistributiver Landreformen
hinzuarbeiten. Hierbei müssen die Erkenntnisse und Beschlüsse der
ICARRD (International Conference on Agrarian Reform and Rural Deve-
lopment) als Richtlinie dienen;

Spekulation mit Nahrungsmitteln einzudämmen:

18. strenge Berichtspflichten für alle Händler und konsequente Preis- und Posi-
tionslimits an allen europäischen Börsen einzurichten sowie alle weiteren
Forderungen aus dem Antrag „Mit Essen spielt man nicht – Spekulation
mit Agrarrohstoffen eindämmen“ (Bundestagsdrucksache 17/5934) umzu-
setzen;

der Verwendung von Nahrungsmitteln zur direkten menschlichen Ernährung
gegenüber der Energiegewinnung und Fleischproduktion deutlichen Vorrang
gewähren (food first):

19. den Anbau von Agrarprodukten in Entwicklungs- und Schwellenländern
nur dann zu fördern (sei es durch deutsche Entwicklungszusammenarbeit
oder durch internationale Entwicklungsbanken), wenn er ökologisch nach-
haltig gestaltet wird, die Lebensbedingungen der Bevölkerung vor Ort ver-
bessert werden und im Falle von Energiepflanzen Mischkultur mit Nah-
rungsmitteln stattfindet und primär zur lokalen Energienutzung eingesetzt
wird;

20. Maßnahmen zu ergreifen, um den Kraftstoff- und Energieverbrauch zu sen-
ken und u. a. die Verbrauchsgrenzwerte für Pkw deutlich zu verschärfen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/13492

21. sich auf europäischer Ebene für die Festlegung verbindlicher Nachhaltig-
keitskriterien für die Erzeugung von energetisch genutzter Biomasse einzu-
setzen, die sicherstellen, dass der Biomasseanbau ökologische, soziale und
menschenrechtliche Belange ausreichend berücksichtigt sowie Ernäh-
rungssicherheit und eine gentechnikfreie Produktion gewährleistet;

22. Forschungsergebnissen Rechnung zu tragen, nach denen das Potenzial von
Biokraftstoffen eingeschränkt ist und sie fossile Energieträger nicht voll-
ständig ersetzen können und daher die Erforschung erneuerbarer Kraft-
stoffe zu fördern, die nicht Biomasse-basiert sind;

23. sich in der EU dafür einzusetzen, dass der Import von Biomasse und land-
wirtschaftlichen Produkten an die Einhaltung strenger Umwelt- und Sozial-
standards sowie die Beachtung von Menschenrechtskriterien gebunden
wird. Dies bedeutet u. a., dass die Erzeugerländer nachweisen müssen, dass
der Anbau von Pflanzen für den Export weder zur Zerstörung wichtiger
Ökosysteme noch zu Vertreibungen führt und auch das Recht auf angemes-
sene Nahrung der eigenen Bevölkerung nicht untergraben wird. Hierzu be-
darf es einer ausdifferenzierten Landnutzungsplanung, für deren Um-
setzung die Bundesregierung DAC-gelisteten (Development Assistance
Committee) Entwicklungsländern ihre Unterstützung anbieten sollte;

24. Aufklärungskampagnen in Deutschland über die negativen Auswirkungen
exzessiven Fleischkonsums sowie Angebote zur Reduktion des Fleischkon-
sums in Deutschland (z. B. Veggie Days in Gemeinschaftsverpflegungsein-
richtungen wie Kantinen und Mensen) zu unterstützen;

25. Maßnahmen zu ergreifen, um die steigenden Futtermittelimporte zu redu-
zieren und dazu den Ausbau der heimischen Eiweißfuttermittelerzeugung
zu fördern sowie die Tierhaltung an die heimische Futtermittelerzeugung
stärker anzupassen;

die Nahrungsmittelhilfe, dort wo Bedarf ist, auszubauen und zu verbessern:

26. das im Januar 2013 in Kraft getretene Nahrungsmittelhilfe-Übereinkom-
men (Food Assistance Convention) zu unterzeichnen und bei zukünftigen
Neuverhandlungen darauf zu drängen, dass

a) die positiven Aspekte der letzten Neuverhandlung beibehalten werden
(Anerkennung von Vouchers, Cash Transfers, Anreicherung von Nah-
rungsmitteln etc.; Hilfe in Form reiner Zuschüsse, ungebunden und mög-
lichst lokal oder regional aufgekauft; Einschränkung der Monetarisierung
von Hilfe);

b) der Verhandlungsprozess transparenter gestaltet wird, etwa indem rele-
vante Dokumente wie Zero Draft und Draft One unter Einbeziehung
von Parlamenten und Zivilgesellschaft entwickelt werden;

c) erneut mehrjährige Minimalverpflichtungen eingeführt und diese deut-
lich erhöht werden;

d) sich die Verpflichtungen am weltweiten Bedarf orientieren;

e) das Abkommen an das Committee on World Food Security angeschlos-
sen wird;

27. die Mittel für Nahrungsmittelhilfe, Not- und humanitäre Hilfe sowie ent-
wicklungsfördernde und strukturbildende Übergangshilfe deutlich zu er-
höhen und flexibler zu gestalten, um frühzeitig auf die zunehmende Anzahl
von Hunger- und Naturkatastrophen sowie bewaffneten Konflikten reagie-
ren zu können;

Drucksache 17/13492 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

28. in Programmen der Nahrungsmittelhilfe und Ernährungssicherung einen
stärkeren Fokus auf Mikronährstoffe zur Reduktion von Mangelernährung
(verborgener Hunger) zu legen und dabei eine klare Priorität auf Konzepte
der Diversifizierung durch gesunde, regional bezogene Nahrungsmittel zu
legen;

29. Not- und Nahrungsmittelhilfe mit der Prävention von Hungerkatastrophen
und Resilienz verbinden und hierzu Frühwarnsysteme für extreme Wetter-
ereignisse und Ernährungsunsicherheit, Wasserrückhaltesysteme und Vete-
rinärdienstleistungen in größerem Umfang zu unterstützen;

30. die Errichtung lokaler und regionaler Nahrungsmittelreserven in von Dürre
und Hunger betroffenen Gebieten, die sowohl für humanitäre Notlagen als
auch zur Stabilisierung stark schwankender Preise dienen, zu unterstützen.
Diese Reserven müssen transparent und partizipativ verwaltet werden und
ihre Einrichtung mit regionalen Netzwerken und Initiativen für Nahrungs-
mittellagerung wie z. B. RESOGEST in Westafrika koordiniert werden;

Politikkohärenz im Sinne des Rechts auf Nahrung voranzutreiben:

31. den Weltagrarbericht von 2008 zu unterzeichnen und finanzielle Mittel für
seine Umsetzung und Fortentwicklung bereitzustellen;

32. sich dafür einzusetzen, dass bei Handels-, Assoziierungs- und Investitions-
schutzabkommen der EU mit Drittländern menschenrechtliche Folgenab-
schätzungen ex ante und ex post obligatorisch eingeführt werden. Hierbei
müssen explizit auch die Auswirkungen auf das Menschenrecht auf Nahrung
untersucht werden. Ergibt die Folgenabschätzung, dass es zu systematischen
Verletzungen von Menschenrechten bzw. zu gravierenden ökologischen und
sozialen Verwerfungen kommen kann, muss das Abkommen entweder ent-
sprechend angepasst oder davon abgelassen (bzw. ausgesetzt) werden;

33. die Schutzinteressen und Asymmetrien anderer Länder, auch im Sinne der
Ernährungssouveränität, anzuerkennen. Dies bedeutet konkret, in Handels-
abkommen mit Ländern mit großer Armut keine festen Prozentzahlen der
Marktöffnung festzuschreiben, bilaterale Schutzklauseln und eine Revisions-
klausel zur späteren Anhebung von Schutzzöllen festzuschreiben sowie einen
angemessenen Zollschutz für Grundnahrungsmittel und mengenmäßige
Handelsbeschränkungen zuzulassen;

34. EU-Freihandels- und Investitionsschutzabkommen sollten keine Verpflich-
tungen zum geistigen Eigentum enthalten, die über das jetzige TRIPS-Ab-
kommen hinausgehen und für die am wenigsten entwickelten Länder ver-
längerte Übergangsfristen zur Implementierung des TRIPS-Abkommens
über 2013 hinaus gewähren. Insbesondere ein verschärftes Patentrecht
kann sich negativ auf den Zugang zu Saatgut auswirken. Des Weiteren
muss sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Staaten nicht zur Im-
plementierung der Standards des Internationalen Verbands zum Schutz von
Pflanzenzüchtungen (UPOV) gezwungen werden;

35. sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik
(GAP) der EU

a) das Menschenrecht auf Nahrung explizit aufgenommen wird;

b) eine Beschwerdestelle eingerichtet wird, bei der Betroffene Verstöße der
EU gegen das Recht auf Nahrung anzeigen können;

c) ein Monitoring der Auswirkungen europäischer Agrarexporte und -im-
porte auf das Recht auf Nahrung in den Ziel- bzw. Herkunftsländern ein-
geführt wird;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/13492

d) die verbleibenden EU-Exporterstattungen abgeschafft werden, unab-
hängig von weiteren WTO-Verhandlungen (Welthandelsorganisation)
oder Vorleistungen anderer Staaten;

e) alle Förderinstrumente der europäischen Agrarpolitik auf ihre möglichen
negativen Wirkungen auf die Weltmärkte und besonders auf die Klein-
produzenten in den Importländern geprüft und gegebenenfalls umgestal-
tet werden;

36. sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen der Reform der Gemeinsamen
Fischereipolitik (GFP) der EU

a) alle EU-Fischereiaktivitäten in Drittländern und in internationalen
Gewässern hin zu einer ökologisch, sozial und menschenrechtlich ver-
träglichen Fischerei reformiert werden und im Einklang mit den ent-
wicklungspolitischen Zielen der EU stehen;

b) neben der Reform der offiziellen EU-Fischereiabkommen auch die viel-
fältigen Fischereiaktivitäten von EU-Fangschiffen, die außerhalb der be-
stehenden Fischereiabkommen in den Gewässern von Entwicklungs-
ländern agieren, auf eine nachhaltige Grundlage gestellt werden;

c) alle Änderungsvorschläge aus der Entschließung des Europäischen Parla-
ments vom 6. Februar 2013 bezüglich der externen Dimension der GFP
in die neue Grundverordnung aufgenommen werden;

37. Maßnahmen zur Eindämmung der Verschwendung und des vermeidbaren
Verderbs von Lebensmitteln in Deutschland verstärkt zu unterstützen;

38. die Position des Committee on World Food Security (CFS) im Gefüge der
Global Governance zu Ernährungssicherheit, insbesondere den Civil Society
Mechanism, zu stärken und höher zu finanzieren;

39. sich dafür einzusetzen, dass die international ausgerichtete Agrarforschung
und Beratung an Hochschulen, in Forschungseinrichtungen, bei internatio-
nalen Organisationen und bei Durchführungsorganisationen weltweit konse-
quent und mit verstärkten Finanzmitteln zur Umstellung der Landwirtschaft
auf agrarökologische Methoden, wie z. B. Agroforstwirtschaft, eingesetzt
wird und an den Bedürfnissen von Kleinbäuerinnen/Kleinbauern und Pasto-
ralistinnen/Pastoralisten ausgerichtet wird;

40. einen ressortübergreifenden Koordinierungskreis ins Leben zu rufen, der
sich regelmäßig trifft und die Umsetzung der Politikkohärenz im Sinne des
Rechts auf Nahrung begleitet, überwacht und Bundesregierung sowie
Parlament auf Fehlsteuerungen hinweist.

Berlin, den 14. Mai 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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