BT-Drucksache 17/133

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung -17/39, 17/111(neu)- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 2. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/133
17. Wahlperiode 02. 12. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Kerstin Müller (Köln),
Ute Koczy, Tom Koenigs, Katja Keul, Agnes Malczak, Viola von Cramon-Taubadel,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Ulrike Höfken,
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Manuel
Sarrazin, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 17/39, 17/111 (neu) –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt
Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung erbittet die Zustimmung zu einem 12-monatigen Mandat
von dem sie schon heute weiß, dass es in wenigen Wochen überholt sein wird.
Die Bundesregierung hat – entgegen eigenen Ankündigungen – dem Deutschen
Bundestag kein verbindliches zivil-militärisches Mandat und Gesamtkonzept
vorgelegt, das erkennen lässt, wie der Afghanistan-Einsatz in absehbarer Zeit
erfolgreich beendet werden kann. Nach wie vor hat keine Evaluierung und Bi-
lanzierung des bisherigen Afghanistan-Engagements stattgefunden.

Begründet wird der Einsatz von der Bundesregierung in erster Linie damit,
deutsche Interessen zu verfolgen. Eine „Übergabe in Verantwortung“ wird nur
gelingen, wenn nicht die deutschen Interessen im Vordergrund stehen, sondern
die der afghanischen Bevölkerung. Der Einsatz in Afghanistan dient primär
dazu, das Land zu stabilisieren, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern
und grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten.
Deutschland hat im Rahmen der International Security Assistance Force
(ISAF) unter Mandat der Vereinten Nationen, auf Wunsch der afghanischen
Regierung und unter Beteiligung zahlreicher Bündnispartner Verantwortung in
Afghanistan übernommen. Dieser Verantwortung darf man sich nicht einfach
entziehen. Wir dürfen weder die friedensbereiten und demokratischen Afgha-
nen noch die ISAF-Partner oder die vielen zivilen Helferinnen und Helfer im

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Stich lassen. Die Beteiligung der Bundeswehr an der Stabilisierungsmission
ISAF bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein notwendiger Beitrag zur Stabili-
sierung und Friedenssicherung in Afghanistan. Ohne militärische Absicherung
kann der zivile Aufbau nicht funktionieren.

Umgekehrt wird aber die militärische Mission ohne eine Behebung der
massiven Defizite beim zivilen Aufbau in letzter Konsequenz zum Scheitern
verurteilt sein. Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch, sondern nur
durch die Stärkung der staatlichen Institutionen sowie der Menschenrechte und
durch wirtschaftliche Perspektiven für die afghanische Bevölkerung nachhaltig
gelöst werden. Ohne eine stärkere Eigenverantwortung der Afghaninnen und
Afghanen für ihr Gemeinwesen, ohne ein umsichtiges militärisches Auftreten,
das den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt stellt, und nicht zuletzt ohne
eine unverzügliche radikale zivile Aufbauoffensive wird der Einsatz aussichts-
und damit verantwortungslos. Ein Einsatz ohne Erfolgs- und ohne Abzugs-
perspektive ist zudem für die Soldatinnen und Soldaten und deren Familien
nicht zumutbar. Nötig sind Kriterien für einen schrittweisen Abzug der inter-
nationalen Truppen.

Der Stabilisierungseinsatz in Afghanistan befindet sich in einer kritischen
Phase mit offenem Ausgang. Während es im Aufbauprozess, etwa im
Bildungsbereich oder beim Ausbau der Infrastruktur, weiterhin Fortschritte und
Erfolge zu verzeichnen gibt, hat sich die Sicherheitslage in Teilen Afghanis-
tans, nicht nur im Süden und Osten, sondern auch im Norden, sowie in Pakis-
tan weiter verschlechtert. Schädlich bleiben die Parallelaktivitäten von
OEF- Einheiten (OEF: Operation Enduring Freedom) in Afghanistan, deren
Einsätze weiterhin von einer klassischen Kriegslogik dominiert sind. Die von
massiver Manipulation gekennzeichnete afghanische Präsidentschaftswahl war
zudem für den politischen Prozess in Afghanistan und die Akzeptanz des Ein-
satzes ein herber Rückschlag.

Fatal waren die vom deutschen Regionalkommando befohlenen Luftangriffe
auf zwei Tanklastzüge am 4. September 2009, denen eine bis heute unbekannte
Zahl von Zivilistinnen und Zivilisten zum Opfer fiel. Die Unterrichtung von
Parlament und Öffentlichkeit durch die Bundesregierung und den damals
verantwortlichen Bundesminister war skandalös. Die Bundesregierung hat im
Vorfeld der Bundestagswahlen dem Parlament zentrale Informationen vorent-
halten. Dies muss lückenlos aufgeklärt werden.

Die Rechtfertigung des Angriffs als militärisch „angemessen“ und „zwangsläu-
fig“ durch den amtierenden Bundesminister der Verteidigung bedeutet einen ra-
dikalen Kurswechsel. Damit wird eine offensive Kriegslogik begründet, die den
Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung konterkariert. Das zurückhaltende
militärische Auftreten, das lange Zeit das deutsche Engagement in Afghanistan
kennzeichnete und für das nicht zuletzt der Generalinspekteur lange gestritten
hat, darf nicht aufgekündigt werden. Die Bundesregierung und der Bundes-
minister der Verteidigung müssen vor einer Mandatsverlängerung klarstellen,
dass der Schutz von Zivilisten höchste Priorität hat und eine Bombardierung
von Menschenansammlungen weder angemessen noch zwangsläufig ist. Für
eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung möglichst vieler Gegner
zielt, darf in der Stabilisierungsmission der ISAF kein Platz sein.

Damit der Einsatz in Afghanistan überhaupt noch erfolgreich sein kann, muss
nun unverzüglich ein Strategiewechsel im Sinne einer engagierten zivilen Auf-
bauoffensive und eines klaren Abzugsplans implementiert werden. Alle Exper-
tinnen und Experten sind sich einig, dass für den Erfolg des Einsatzes vor allem
der Aufbau von staatlichen Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedin-
gungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. Bislang leidet der

Aufbau Afghanistans darunter, dass er sich zu wenig an den Bedürfnissen der
afghanischen Bevölkerung orientiert und die enorme Stadt-Land-Disparität

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unterschätzt. Armut und Arbeitslosigkeit werden laut Oxfam und afghanischen
Partnerorganisationen im Land selbst laut aktueller Umfrage von November
2009 als Hauptgründe für den andauernden Konflikt genannt. Ländliche Ent-
wicklung und Bildung (Capacity Building) sind daher zentrale Ausgangspunkte
für eine gender- und kulturgerechte Ausgestaltung der Aufbauinitiativen.

Eine Aufstockung des deutschen Bundeswehrkontingentes im Rahmen des bis-
herigen „Weiter-so“ ist nicht verantwortbar. Es wäre ein falsches Signal den
Fokus des deutschen Engagements noch stärker auf das Militärische zu legen.
Auch die afghanischen Partnerinnen und Partner fordern keine zusätzlichen
Bundeswehrsoldaten, sondern mehr Polizeiausbilder und mehr zivile Hilfe.

Bei den internationalen Bündnispartnern gibt es in den Fragen eines Strategie-
wechsels und der Erarbeitung einer konkreten Abzugsperspektive eine neue
Offenheit. Die US-Administration hat mit der klaren Weisung zur Vermeidung
ziviler Opfer, der Verstärkung ihrer Hilfen und der stärkeren Einbeziehung
Pakistans erste wichtige Korrekturen eingeleitet, die weiter in die Tat umgesetzt
werden müssen.

Die internationale Afghanistan-Konferenz und die Parlamentswahlen 2010
müssen nun genutzt werden, um eine zivile Aufbauoffensive mit einem realisti-
schen Ziel- und Maßnahmenkatalog und einem klaren Abzugsplan zu verein-
baren und damit bis 2013 die wesentlichen Voraussetzungen für eine selbst-
tragende Entwicklung in Afghanistan zu schaffen. Hierzu aber wäre es
notwendig, dass die Bundesregierung ihre Ziele und ihre Zusagen gegenüber
dem Deutschen Bundestag offenlegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem Deutschen Bundestag ein neues Mandat vorzulegen, das auf sechs Mo-
nate befristet ist und eine klare Ausrichtung auf den zivilen Aufbau hat und
zeitnah nach der Afghanistan-Konferenz dem Deutschen Bundestag ein neues
Mandat vorzulegen, das die genannte zivile Aufbauoffensive und militärische
Abzugsperspektive beinhaltet und glaubhaft gewährleistet, dass der Einsatz
der Bundeswehr erfolgreich fortgeführt und beendet werden kann;

2. unverzüglich klarzustellen, dass der Schutz von Zivilisten höchste Priorität
hat und eine Bombardierung von Menschenansammlungen weder angemes-
sen noch zwangsläufig ist;

3. dem Deutschen Bundestag bis zur Afghanistan-Konferenz eine unabhängige
Evaluierung des bisherigen deutschen Engagements in Afghanistan sowie
eine Übersicht über die konkreten deutschen Beiträge zur Afghanistan-Kon-
ferenz und einer aussichtsreichen Strategie der „Übergabe in Verantwortung“
vorzulegen;

4. gemeinsam mit den afghanischen und internationalen Partnerinnen und Part-
nern eine Abzugsperspektive zu entwickeln und auf der Afghanistan-Konfe-
renz zu vereinbaren, die alle Beteiligten konkret und überprüfbar in die Pflicht
nimmt und es erlaubt, in den nächsten vier Jahren den Abzug der internatio-
nalen Truppen einzuleiten;

5. sich für eine Beendigung der Operation Enduring Freedom in Afghanistan
einzusetzen und klarzustellen, im Rahmen welcher Leitlinien die Bundeswehr
operiert, damit in der Praxis die Einhaltung und der Schutz der Menschen-
rechte und der Schutz der Zivilbevölkerung als oberste Priorität gewährleistet
sind;

6. keine Aufstockung des Bundeswehrkontingentes vorzubereiten oder vorzu-
nehmen und so das Übergewicht des militärischen gegenüber dem zivilen
Engagement zu verstärken, sondern stattdessen, wie es auch von den afgha-

nischen Partnern gewünscht ist, Deutschlands finanzielle und materielle Bei-

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träge für den zivilen Wiederaufbau im Sinne einer engagierten zivilen Auf-
bauoffensive auch qualitativ stark zu erhöhen;

7. für Schlüsselbereiche wie Polizei, Justiz, Bildung, Infrastruktur, Landwirt-
schaft und wirtschaftliche Entwicklung eine engagierte zivile Aufbauoffen-
sive mit realistischen und verbindlichen Zwischenzielen zu vereinbaren, die
bei den friedensbereiten Kräften in allen Regionen ankommt;

8. unverzüglich mindestens 500 deutsche Polizeikräfte für den Aufbau afgha-
nischer Polizei zur Verfügung zu stellen, sich gemeinsam mit internationalen
und afghanischen Partnerinnen und Partner für konkrete Schritte und sicht-
bare Erfolge bei der Beseitigung von Korruption, Drogen- und Vetternwirt-
schaft einzusetzen und 2010 freie und faire Parlamentswahlen durchzusetzen;

9. sich dafür einzusetzen, dass in Afghanistan die Menschenrechte gewahrt
werden, Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen sofort
Zugang zu Gefangenen haben und Geheimgefängnisse wie in Baghram
schnellstens geschlossen werden.

Berlin, den 2. Dezember 2009

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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