BT-Drucksache 17/12154

Säumniszuschläge, Beitragsschulden und Unversicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung

Vom 22. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12154
17. Wahlperiode 22. 01. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Weinberg, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer,
Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Säumniszuschläge, Beitragsschulden und Unversicherte in der gesetzlichen
Krankenversicherung

„Ganz Deutschland wird krankenversichert“ stand auf großen Werbeplakaten,
die die Bundesregierung im Jahr 2007 in Auftrag gegeben hatte. Hintergrund
war die Versicherungspflicht, die zum 1. April 2007 in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung (GKV) und zum 1. Januar 2009 in der privaten Krankenversi-
cherung (PKV) geschaffen wurde.

Die Fragestellerinnen und Fragesteller teilen ausdrücklich die Zielstellung die-
ser Regelungen, wonach alle in Deutschland lebenden Menschen krankenver-
sichert sein und einen Zugang zu benötigten medizinischen Leistungen haben
sollen. Umstritten waren aber schon immer die Möglichkeiten, wie diese
Pflicht zur Versicherung in diesem Sinne durchgesetzt werden kann. Die Bun-
desregierung und die sie damals tragende Koalition setzten neben der Aufklä-
rung durch Plakate insbesondere auf die abschreckende Wirkung von Sanktio-
nen. Diejenigen, die sich entweder in keiner Krankenversicherung anmelden
oder aber keine Beiträge zahlen, bekommen einerseits keine bzw. nur eine Not-
fallversorgung, andererseits häufen sich auch bei Nichtmitgliedschaft Beitrags-
schulden an, die mit hohen Säumniszuschlägen von rund 60 Prozent p. a. verse-
hen sind.

Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Sanktionen gerechtfertigt und zielfüh-
rend sind. Denn wer sich von den drohenden Minderleistungen und Strafzah-
lungen nicht abschrecken ließ, und jahrelang nicht zahlte, der hat nun Beitrags-
schulden, die mehrere 10 000 Euro betragen können. Angesichts dessen, dass
das Nichtzahlen seinen Grund oft in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen
hat, wird klar, dass die betroffenen Versicherten mit derartigen Summen völlig
überfordert sind.

Deshalb wurde auch eine gesetzliche Regelung geschaffen, um mit dieser
Überforderung umzugehen. § 186 Absatz 11 des Fünften Buches Sozialgesetz-
buch (SGB V) schreibt vor, dass die Kassen in ihren Satzungen eine Regelung
einfügen müssen, womit Beiträge gestundet, ermäßigt oder erlassen werden

können. Das gilt jedoch nur für Personen, die sich erst nach dem Stichtag bei
ihrer Kasse gemeldet haben, diese Verzögerung jedoch nicht zu vertreten ha-
ben. Ob die Verzögerung von den Versicherten zu vertreten ist, ist ein unbe-
stimmter Rechtsbegriff. Es gibt zwar erste Urteile dazu, wie dieser Begriff zu
interpretieren ist, aber dennoch bleibt bislang unklar, ob eine schlichte Nicht-
kenntnisnahme der veränderten gesetzlichen Regelungen, der Versicherungs-
pflicht, darunter zu subsummieren ist oder nicht. Außerdem gibt diese Kann-

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regelung den betroffenen Versicherten keinerlei notwendige Rechtssicherheit.
Schließlich regelt § 186 Absatz 11 SGB V nicht, ob säumige Beitragszahler,
die Beiträge etwa aufgrund der Mindestbeitragsbemessungsgrenze nicht zahlen
konnten, auch Beitragsermäßigungen, -stundungen oder -erlasse erhalten kön-
nen.

Unstreitig ist, dass durch die Versicherungspflicht und die weggefallene Mög-
lichkeit der Kassen, Versicherten wegen Zahlungsrückständen die Mitglied-
schaft zu kündigen, andere Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Ver-
sichertengemeinschaft vor Nichtzahlern zu schützen. Ob allerdings, insbeson-
dere bei gleichzeitig hohen Mindestbeitragsbemessungsgrenzen für freiwillig
versicherte Selbständige, sehr hohe Säumniszuschläge nach der geltenden
Rechtslage und die Beschränkung der Versorgung auf Notfallversorgung dafür
geeignete Mittel sind, wird immer stärker infrage gestellt.

Unklar ist seit jeher die Anzahl der Menschen ohne Krankenversicherungs-
schutz. Es gibt Zahlen des Mikrozensus, die im 4-Jahres-Rhythmus aktualisiert
werden. Danach gab es im Jahr 2011 etwa 137 000 Unversicherte und damit
etwa 74 000 weniger als im Jahr 2007, aber immer noch 32 000 mehr als im
Jahr 1995, als dieser Wert seinen bisherigen Tiefststand erreichte. Es gibt aber
auch andere Schätzungen, z. B. von Flüchtlingsorganisationen, die von einem
Mehrfachen an unversicherten Menschen in Deutschland ausgehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Schätzungen sind der Bundesregierung zu der Zahl der Nichtver-
sicherten derzeit und zu der Entwicklung in den letzten zehn Jahren be-
kannt?

Was ist die Datengrundlage dieser Schätzungen, und sind hier gesellschaft-
liche Randgruppen, wie zum Beispiel Obdachlose oder Menschen ohne
Aufenthaltsstatus oder mit unklarem Aufenthaltsstatus, berücksichtigt?

2. Wie viele zuvor unversicherte Personen sind seit April 2007 in der GKV
versichert worden?

Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anteil, der ohne Einführung der
Versicherungspflicht noch immer nicht versichert wäre?

3. Wie viele zuvor unversicherte Personen sind nach Kenntnis der Bundes-
regierung seit April 2007 in der PKV versichert worden?

Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anteil, der ohne Einführung der
Versicherungspflicht noch immer nicht versichert wäre?

4. Wie viele Versicherte sind nach Kenntnis der Bundesregierung mit den Bei-
trägen in Höhe von jeweils mehr als 3, 6, 9,12, 15, 18, 21, 24, 30, 36 und
48 Monatsbeiträgen im Rückstand?

5. Wie hoch war nach Kenntnis der Bundesregierung die Summe der Rück-
stände aller Kassen vor der Einführung der Versicherungspflicht, und wie
hat sie sich seitdem bis heute entwickelt?

6. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Rückstände pro Mit-
glied (nicht nur säumige Mitglieder) bezogen auf die einzelnen Kassenarten
und insgesamt?

7. Ist die Einschätzung der Fragesteller richtig, dass für die betroffenen Ver-
sicherten durch Säumniszuschläge relativ rasch eine Überschuldungssituation
entstehen kann?

8. Wie hoch ist der Anteil der freiwillig Versicherten unter den mit mindestens

zwei Monatsbeiträgen säumigen Mitgliedern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12154

9. Wie hoch ist der Anteil der freiwillig versicherten Selbständigen unter den
mit mindestens zwei Monatsbeiträgen säumigen Mitgliedern?

Wie hoch ist der Anteil anderer freiwillig versicherter Gruppen (z. B. Stu-
dierende, Rentnerinnen und Rentner)?

10. Welche Beitragsschulden hat ein versicherter Selbständiger mit konstant
1 000 Euro beitragspflichtigem Monatseinkommen, wenn er im Januar
2013 erstmals einen Mitgliedsantrag stellt, aber seit April 2007 bereits die
Pflicht zu einer freiwilligen Versicherung bestand?

Welcher Anteil an dieser Beitragsschuld ist durch Säumniszuschläge ent-
standen?

11. Ist es richtig, dass im Falle einer selbst zu vertretenden Zeit ohne Kranken-
versicherung und daraus resultierenden Beitragsforderungen oder im Falle
von während einer Mitgliedschaft nicht geleisteten Beiträgen § 25 Absatz 1
Satz 1 SGB IV zum Tragen kommt, also Beitragsansprüche nach vier Jah-
ren verjähren, oder kommt Satz 2 zur Anwendung, wonach Ansprüche auf
vorsätzlich vorenthaltene Beiträge erst nach 30 Jahren verjähren (falls es
nach Ansicht der Bundesregierung auf den Einzelfall ankommt, bitte den
Unterschied an geeigneten fiktiven Beispielen deutlich machen)?

12. Gilt die Verjährungsregelung auch für Säumniszuschläge?

13. Tritt die Verjährungsregelung außer Kraft, wenn Kasse und Versicherter
Vereinbarungen nach § 186 Absatz 11 SGB V getroffen haben?

14. Ist die Interpretation der Regelungen zu Beitragszahlungen und Säumnis-
zuschlägen in Kombination mit der Verjährungsregelung richtig, dass nach
Ablauf von vier Jahren die Beitragsschuld oder die Gesamtschuld bei ange-
nommen gleichbleibenden Randbedingungen (z. B. gleiches Einkommen,
gleicher Beitragssatz) nicht weiter steigt, sondern konstant bleibt?

15. Welche Beitragsschulden hat ein freiwillig versicherter Selbständiger mit
einem nach § 240 SGB V (der vierzigste Teil der Beitragsbemessungs-
grenze; Mindestbeitrag ohne Vermögensprüfung) festgesetzten Monatsbei-
trag nach jeweils 3, 6, 9, 12, 18, 21, 24, 30, 36 und 48 Monaten, in denen er
keine Beiträge gezahlt hat?

16. Welche Beitragsschulden hat ein freiwillig versicherter Selbständiger mit
einem nach § 240 SGB V (der sechzigste Teil der Bezugsgröße; Mindest-
beitrag mit Vermögensprüfung) festgesetzten Monatsbeitrag, wenn er je-
weils in den letzten 3, 6, 9, 12, 18, 21, 24, 30, 36 und 48 Monaten keine
Beiträge gezahlt hat?

17. Welche Beitragsschulden hat ein freiwillig versicherter Nichtselbständiger
mit einem nach § 240 SGB V (der neunzigste Teil der Bezugsgröße; Min-
destbeitrag bei freiwillig Versicherten) festgesetzten Monatsbeitrag, wenn
er jeweils in den letzten 3, 6, 9, 12, 18, 21, 24, 30, 36 und 48 Monaten
keine Beiträge gezahlt hat?

18. Wie viele Anträge nach § 186 Absatz 11 SGB V wurden bislang gestellt?

19. Wie vielen Anträgen wurde mit Stundung entsprochen?

20. Wie vielen Anträgen wurde mit Ermäßigung entsprochen?

21. Wie vielen Anträgen wurde mit Niederschlagung der Ansprüche entspro-
chen?

22. Ist die Regelung nach § 186 Absatz 11 SGB V nach Ansicht der Bundes-
regierung hinreichend wirksam, und wie gelangt die Bundesregierung zu

dieser Ansicht?

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23. Auf Beitragsansprüche welcher Höhe haben die Krankenkassen im Rah-
men des § 186 Absatz 11 SGB V in den Jahren seit 2007 jeweils verzich-
tet?

Wie viel davon machten Säumniszuschläge aus?

24. Ist die Regelung zum Ruhen der Leistungen bei säumigen Beitragszahlern
nach § 16 Absatz 3a SGB V sinnvoll, wonach nicht akute Krankheiten da-
nach nicht mehr versorgt werden, zumal sich chronische Krankheiten damit
verschlimmern können?

25. Welche Krankheiten zählen zu den nach § 16 Absatz 3a SGB V versor-
gungsfähigen Krankheiten und welche nicht (ggf. bitte exemplarisch den
Unterschied klarmachen), wo kann sich der/die Versicherte darüber infor-
mieren, und in welchen Fällen ist eine Genehmigung der Krankenkasse zur
Behandlung/Kostenübernahme erforderlich?

26. Bei welchen chronischen Krankheiten ist es nach Ansicht der Bundesregie-
rung sinnvoll, entgegen der Regelung nach § 16 Absatz 3a SGB V die Ver-
sorgung sicherzustellen (z. B. Diabetes, arterielle Hypertonie, HIV/AIDS,
virale Hepatitis)?

27. Gibt es Möglichkeiten, zum Beispiel über Einwohnermeldeämter, alle Per-
sonen, die nicht oder nicht mehr versichert sind, über die geltende für sie
äußerst relevante Rechtslage zu informieren, und weshalb ist dies bislang
nicht erfolgt?

28. Wäre eine Mittlerfunktion etwa der Sozialämter, die in dem Management
von Schulden Erfahrung haben, zwischen Kassen und säumigen Beitrags-
zahlern sinnvoll, um einerseits die berechtigten Forderungen der Kassen zu
bedienen und andererseits der Unmöglichkeit der Zahlung durch viele
Betroffene zu entsprechen?

29. Plant die Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag Änderungen zu den
angesprochenen Regelungen einschließlich der Regelungen nach § 240
SGB V vorzulegen, zumal auch der gesundheitspolitische Sprecher der
Fraktion der CDU/CSU Änderungswünsche geäußert und die derzeit von
den Kassen zu erhebenden Zinsen in einer „dpa“-Meldung vom 12. Okto-
ber 2012 als „Wucher“ bezeichnet hat?

30. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass durch die Leistungsaus-
schlüsse bei säumigen Beitragszahlern Infektionskrankheiten verschleppt
werden und Betroffene auch andere Personen anstecken?

31. Gilt das Verfahren für säumige Beitragszahler auch für säumig gebliebene
Zusatzbeiträge, und wenn nein, wie ist hier das Verfahren?

Berlin, den 22. Januar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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