BT-Drucksache 17/1205

Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen

Vom 24. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1205
17. Wahlperiode 24. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, Markus
Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,
Birgitt Bender, Alexander Bonde, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Stephan Kühn,
Lisa Paus, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit einem verlässlichen
Sozialen Arbeitsmarkt schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II sahen sich in den ver-
gangenen Wochen immer wieder pauschalen und üblen Diffamierungen aus-
gesetzt. Unter dem Vorwand, eine Sozialstaatsdebatte führen zu wollen, wurde
ihnen die missbräuchliche Inanspruchnahme der Grundsicherung und Ar-
beitsunwilligkeit vorgeworfen. Die Kampagne gegen Arbeitslosengeld-II-Emp-
fängerinnen und -Empfänger gipfelte im Vorschlag des Vorsitzenden der FDP
und Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, diese sollten zu
Diensten wie Schneeschieben herangezogen werden.

Mit solchen Vorschlägen, die auf die Einführung von Zwangsdiensten hinaus-
laufen, wird der Gedanke der gesellschaftlichen Einbindung und Teilhabe der
Betroffenen diskreditiert. Dabei ist der Handlungsbedarf offensichtlich. Nach
Experteneinschätzung haben rund 400 000 Menschen in Deutschland auf abseh-
bare Zeit keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ihnen droht ein Leben am
Rand der Gesellschaft.

Für diese Gruppe kann mit einem Sozialen Arbeitsmarkt eine neue Perspektive
geschaffen werden. Dabei geht es nicht darum, vermeintlich faule Arbeit-
suchende auf Trab zu bringen, sondern um sinnstiftende und zusätzliche Be-
schäftigung, von der die gesamte Gesellschaft profitiert und bei der die Interes-
sen und Fähigkeiten der Arbeitsuchenden berücksichtigt werden. Um dieses Ziel
zu erreichen, brauchen wir eine ergänzende Arbeitsmarktstrategie, durch die
sich auf lange Sicht für Menschen mit besonders schweren Vermittlungshemm-
nissen neue Erwerbsperspektiven ergeben.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) langfristige, sozialversiche-

rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Sozialen Arbeitsmarkt und in
Integrationsfirmen als Förderleistung für Menschen ohne absehbare Chancen
auf dem ersten Arbeitmarkt zu verankern;

● zur Finanzierung dieser Beschäftigungsverhältnisse die Umwandlung passi-
ver Leistungen (Regelsatz Arbeitslosengeld II, Kosten der Unterkunft, So-

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zialversicherungsbeiträge, Maßnahmekosten) in ein Arbeitsentgelt zu er-
möglichen (Passiv-Aktiv-Transfer);

● die Identifizierung und Organisation zusätzlicher und gemeinwohlorientier-
ter Tätigkeiten der lokalen Ebene in die Hand zu geben. Damit effektiv über
Bedarf und Möglichkeiten für Beschäftigung entschieden werden kann, müs-
sen dabei das wirtschaftspolitische Know-how der örtlichen Arbeitgeber, der
Kammern und der Tarifparteien sowie der sozialpolitische Sachverstand von
Vereinen und Verbänden vertreten sein;

● dafür Sorge zu tragen, dass die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-
verhältnisse im Sozialen Arbeitsmarkt gerecht entlohnt und in ein sinnvolles
Konzept von Betreuung und Qualifizierung eingebunden werden, das auf
Integration in den ersten Arbeitsmarkt setzt. Der Soziale Arbeitsmarkt unter-
liegt dem Prinzip der Freiwilligkeit;

● taugliche Kriterien für die Auswahl der in Frage kommenden Arbeitsuchen-
den ab 25 Jahren zu entwickeln. Für Jugendliche und junge Erwachsene soll
die Integration in den ersten Arbeitsmarkt durch Ausbildung und Qualifika-
tion immer erste Priorität haben.

Berlin, den 23. März 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die Forderung nach einem Sozialen Arbeitsmarkt steht seit geraumer Zeit auf
der politischen Agenda. Damit soll rund 400 000 arbeitslosen Menschen in
Deutschland, die dauerhaft vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, eine
neue Perspektive und gesellschaftliche Teilhabe eröffnet werden, ohne damit das
Ziel ihrer Integration in den ersten Arbeitsmarkt aufzugeben. Im Sozialen Ar-
beitsmarkt geht es um sinnstiftende, zusätzliche Jobs, von denen alle profitieren.

Der Soziale Arbeitsmarkt ist nicht dafür da, Arbeitsuchende zu einer Beschäf-
tigung um der Beschäftigung willen zu zwingen. Wer diesen falschen Zungen-
schlag in die Debatte bringt, dem geht es nicht um die Betroffenen und deren
Teilhabe, sondern darum, Zwangsdienste zu etablieren, die möglichst viele
Menschen davon abhalten sollen, in Notlagen ihr Recht auf Hilfe in Anspruch
zu nehmen. Fakt ist aber, dass derzeit mehr als fünf Millionen Jobs in Deutsch-
land fehlen. Die meisten Arbeitsuchenden würden lieber heute als morgen eine
Arbeit annehmen, um aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug zu kommen. Aber
auch im Bereich öffentlich geförderter Beschäftigung gibt es nicht genügend
Angebote, um den Bedarf und die Nachfrage zufrieden zu stellen.

Die bisherigen Angebote öffentlich geförderter Beschäftigung sind keine Alter-
native zu einem verlässlich ausgestalteten Sozialen Arbeitsmarkt. Ein-Euro-
Jobs sind von zu kurzer Dauer und begründen keine sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigung. Die Entgeltvariante fristet immer noch ein Schattendasein,
weil ihre Finanzierung die Etats der Jobcenter und Optionskommunen doppelt
belastet, indem durch sie nicht nur Mittel gebunden werden, sondern sich auch
in der Folge Zuweisungen verringern. Das Programm „Kommunal-Kombi“ ist
bereits zum Jahreswechsel 2010 eingestellt worden, weil die von hoher Arbeits-
losigkeit betroffenen Regionen nicht zur Mitfinanzierung des Programms in der
Lage waren. Das Programm „JobPerspektive“ für besonders schwer vermittel-

bare Langzeitarbeitslose wird von der Bundesregierung blockiert, so dass ak-

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tuell 93 Jobcenter, fast ein Fünftel aller Grundsicherungsstellen, keine weiteren
Stellen mehr schaffen können. Mit der „Bürgerarbeit“ hat die Koalition ein
neues Projekt angekündigt, bislang aber nichts Konkretes vorgelegt.

Die Menschen, die eine Perspektive jenseits des Arbeitslosengelds II brauchen,
leiden unter der programmatischen Diskontinuität und der immer wieder in
Frage gestellten Finanzierung. Um das zu ändern, muss endlich eine vernünftige
Basis geschaffen werden. Das geht, indem die passiven Leistungen wie das
Arbeitslosengeld II, die Kosten der Unterkunft und die Maßnahmekosten in ein
Arbeitsentgelt umgewandelt und als Lohn an die im Sozialen Arbeitsmarkt Be-
schäftigten ausbezahlt werden. Auf diese Weise kann ein Sozialer Arbeitsmarkt
dauerhaft etabliert werden; anstelle von Arbeitslosigkeit wird Arbeit finanziert.

Das Diakonische Werk hat bereits 2006 die Kosten eines Ein-Euro-Jobs mit de-
nen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, finanziert über die Aktivie-
rung passiver Leistungen, verglichen. Die Modellrechnungen belegen, dass von
der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung die Arbeitsuchenden profitie-
ren, weil sie ein höheres Entgelt als mit einem Ein-Euro-Job erzielen. Aber auch
die öffentliche Hand erzielt unter dem Strich ein positives Ergebnis bei diesem
Vergleich, weil durch Steuern und Sozialabgaben Gelder an sie zurückfließen.
Den Rechnungen zugrunde gelegt wurde ein Stundenlohn von 7,50 Euro.

Die Beschäftigungsfelder müssen zusätzlich, gemeinwohlorientiert und dürfen
nicht wettbewerbsverzerrend sein. Es muss sich um Tätigkeiten handeln, deren
Erledigung zwar sinnvoll ist, die aber aus wirtschaftlichen, finanziellen oder
gesellschaftlichen Gründen zurzeit nicht erfolgen. Dabei kann das Kriterium der
Zusätzlichkeit unter anderem darüber sichergestellt werden, dass geförderte
Arbeitsplätze immer ergänzend, jedoch nie anstelle regulärer Stelle eingesetzt
werden dürfen. Sie werden durch lokale Akteure identifiziert. Vorstellbar sind
zum Beispiel Einsatzbereiche der bisherigen Ein-Euro-Jobs, soweit sie zusätz-
lich und gemeinnützig sind. Es sind auch neue Tätigkeitsfelder vorstellbar wie
zum Beispiel Stadtteilarbeit, Quartiersmanagement und kommunale Kultur-
arbeit, Assistenzen und Unterstützung im Bereich Bildung (Kita, Schule, Hoch-
schule), aber auch im Bereich Naturschutz und sanftem Tourismus.

Die Erfüllung dieser Aufgaben ist von hohem Nutzen nicht nur für die poten-
tiellen Beschäftigten, sondern auch für die Gesellschaft, die von der Verbesserung
der sozialen Infrastruktur maßgeblich profitiert. Durch dieses Zusammenspiel
entsteht ein öffentlich geförderter und gesellschaftlich akzeptierter Beschäfti-
gungsbereich, der gemeinwohlorientiert und integrativ wirkt und aus dem heraus
die Beschäftigten auch immer eine Chance haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu
wechseln.

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