BT-Drucksache 17/11163

Zusammen lernen - Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen

Vom 24. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11163
17. Wahlperiode 24. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Markus Kurth, Katja Dörner, Ekin Deligöz,
Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Krista Sager, Ulrich Schneider,
Arfst Wagner (Schleswig), Birgitt Bender, Katrin Göring-Eckardt, Beate
Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, Maria Klein-Schmeink, Dr. Tobias Lindner,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Harald Terpe, Beate Walter-Rosenheimer und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zusammen lernen – Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Inklusion ist ein Menschenrecht. Sie beruht auf der Wertschätzung menschlicher
Vielfalt und der Unterschiedlichkeit von Menschen als das, was sie ist: Norma-
lität. In einer inklusiven Gesellschaft leben alle Menschen als einzigartig, beson-
ders und gleichberechtigt miteinander, unabhängig von ihrer Herkunft, Welt-
anschauung oder sexuellen Identität, ihren Fähigkeiten oder Bedürfnissen.

Inklusion bedeutet lebenslange volle, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe
aller Menschen. Unter dem alten Leitgedanken der Integration stand noch im
Vordergrund, Menschen mit Behinderung in die bestehenden Strukturen, die an
den Bedürfnissen von Menschen ohne Behinderung ausgerichtet sind, zu inte-
grieren. Inklusion erfordert dagegen, die gesellschaftlichen Strukturen so zu ver-
ändern und auszugestalten, dass sie der Vielfalt der menschlichen Lebenslagen
von Anfang an Rechnung tragen und so allen Menschen gleichermaßen zugäng-
lich sind. Dies gilt für das gesamte gesellschaftliche Leben: vom Besuch der ge-
meinsamen Kindertagesstätte, Schule, Berufs- oder Hochschule, der Information
und Kommunikation bis hin zum Wohnen, Arbeiten, der Freizeitgestaltung und
Selbstbestimmung bis ins hohe Alter.

Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes
Leben und gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen
Leben. Trotzdem leiden sie noch heute unter mangelnder Inklusion. Der Leit-
spruch der Bewegung hat damals wie heute Gültigkeit: „Der Mensch ist nicht
behindert, er wird behindert!“

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Umsetzung des Menschen-
rechts auf Inklusion. Mit ihrer Ratifizierung sind die Staaten und ihre Institutio-

nen sowie die gesellschaftlichen Akteure und Kräfte in der Pflicht, den Gestal-
tungs- und Handlungsraum für Menschen mit und ohne Behinderung zu
eröffnen. Bundestag und Bundesrat haben Ende 2008 der Ratifikation des Über-
einkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten
Nationen zugestimmt. Damit haben sich alle Beteiligten verpflichtet, den
Rechtsanspruch auf ein inklusives Bildungssystem anzuerkennen und die dafür
notwendigen Bedingungen zu schaffen. Gerade für den Bildungsbereich ist dies

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aufgrund der zersplitterten Zuständigkeiten eine ambitionierte Aufgabe, die
Bund, Länder und Gemeinden nur gemeinsam bewältigen können.

Als im Jahr 2006 der UN-Sonderbotschafter für Bildung, Vernor Munoz
Villalobos, Bildungseinrichtungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland
besuchte, kritisierte er sehr deutlich die ungleichen Teilhabechancen von Kin-
dern mit und ohne Behinderung. Seitdem hat sich einiges, aber noch nicht genug
getan. Im Schuljahr 2010/2011 wurden noch immer 79 Prozent der Schülerinnen
und Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf an För-
derschulen unterrichtet. Damit ist ihr Anteil innerhalb von zehn Jahren zwar um
fast 10 Prozentpunkte gesunken, eine umfassende Inklusion im Bildungsbereich
steht aber noch aus. Mit Blick auf einen erfolgreichen Schulabschluss erweisen
sich Förderschulen vielfach als Sackgassen, da drei Viertel der Abgängerinnen
und Abgänger keinen Abschluss erwerben.

Um die 2009 in Deutschland in Kraft gesetzte Konvention tatsächlich umsetzen
zu können, müssen Staat und Gesellschaft grundlegend umdenken: Es ist nor-
mal, verschieden zu sein. Der Respekt gegenüber der Vielfalt und die Wertschät-
zung aller Potenziale sind das Fundament eines inklusiven Bildungssystems. Es
geht um eine neue Kultur des Förderns, des Miteinander Lebens und Lernens,
des Behaltens anstelle des Aussortierens in allen Bildungseinrichtungen. Die
fälschliche Annahme, dass nur hochgradig spezialisierte Einrichtungen für un-
terschiedliche „Förderbedarfe“ oder „Behinderungsarten“ eine Teilhabechance
bieten, muss überwunden werden. Ebenso kritisch muss hinterfragt werden, wie
sich das derzeitige System der Gewährung von Unterstützung, insbesondere die
Zuständigkeit der Jugend- und Sozialhilfe hierfür, auf die Teilhabechancen aus-
wirkt, wenn derzeit der Besuch einer Regelschule zwar prinzipiell möglich ist,
die notwendige individuelle Unterstützung aber nur auf Antrag und in teilweise
langwieriger Einzelfallprüfung gewährt wird.

Im Juni 2011 hat die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgestellt. Mit diesem Aktionsplan
stößt die Bundesregierung nach ihren eigenen Worten einen Prozess an, „der in
den kommenden zehn Jahren nicht nur das Leben von Menschen mit Behin-
derungen maßgeblich beeinflussen wird, sondern das aller Menschen in
Deutschland. Denn die Idee der Inklusion, zentraler Leitgedanke der UN-Behin-
dertenrechtskonvention, wird unsere Alltagskultur verändern. Deutschland will
inklusiv werden.“ Über diese Absichtserklärung hinaus enthält der Aktionsplan
aber keine konkreten Aussagen.

Gleiche Teilhabe und Chancen für alle Menschen müssen über inklusive und
qualitativ hochwertige Betreuungs- und Bildungseinrichtungen eröffnet werden.
In allen Bildungsstufen von der frühkindlichen über die schulische, berufliche
bis zur akademischen sowie Aus- und Weiterbildung muss Inklusion Leitbild
und gelebte pädagogische Praxis werden. Die Selbstbestimmung und Auto-
nomie der Betroffenen ist in allen Bildungsbereichen zu erhöhen. Außerdem
muss der Zugang zu höheren Qualifikationen und größeren Bildungserfolgen
geschaffen werden. Es ist dringend notwendig, die Bildungseinrichtungen und
die Lehrkräfte in die Lage zu versetzen und darin zu unterstützen, inklusive Bil-
dung für alle schrittweise und zielstrebig zu verwirklichen.

Ein inklusives Bildungssystem strebt „eine Kita, Schule, Berufsschule und
Hochschule für alle“ an. Um ein behindertes Kind an einer Regelschule einzu-
schulen, mussten bisher die Eltern begründen, warum das möglich ist. Zukünftig
muss die Institution bzw. die zuständige Verwaltung begründen, warum sie das
nicht für möglich hält. Um den Weg zum inklusiven Bildungssystem erfolgreich
zu gehen, müssen zentrale Voraussetzungen erfüllt werden: die umfassenden
Kompetenzen des gesamten Personals, die gelingende Beratung von Eltern und

Jugendlichen, eine ausreichende Versorgung der Institutionen mit dem notwen-
digen Lehr- und Lernmaterial und ausreichend barrierefreie Räumlichkeiten.

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Diese Voraussetzungen müssen von allen staatlichen Ebenen gemeinsam ge-
schaffen werden. Dazu braucht es mehr Ressourcen, Ermutigung und Unterstüt-
zung.

Im Frühkindlichen Bereich ist durch § 22a Absatz 4 Satz 1 des Achten Buches
Sozialgesetzbuch schon seit Inkrafttreten des Tagesbetreuungsausbaugesetzes
2005 die gemeinsame frühe Förderung von Kindern ohne und mit Behinderung
möglich und wird vielerorts gelebt. Sie entspricht dennoch nicht dem Gedanken
der Inklusion, da die gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behin-
derung vom Grad der Behinderung und von der Ausstattung der Einrichtungen
abhängig gemacht werden kann. Insgesamt werden 76 Prozent der Kinder mit
Behinderung in Regeleinrichtungen betreut, das ist ein gutes Signal und Kinder-
tageseinrichtungen sind Vorreiter für inklusive Betreuung. Doch inklusive An-
gebote konzentrieren sich lediglich auf einen geringen Teil der Einrichtungen.
So kann nur bei einem Viertel der regulären Kindertageseinrichtungen derzeit
davon gesprochen werden, dass sie weitgehend alle Kinder aufnehmen. In dieses
Viertel aller Kindertagesstätten geht heute die Hälfte aller behinderten Kinder.
Daher muss es künftig darum gehen, Kindertageseinrichtungen flächendeckend
inklusiv auszurichten.

Im Schulbereich sind alle Bundesländer derzeit noch in einem intensiven Pro-
zess, das Recht auf inklusive Bildung umzusetzen. Ihre Bemühungen unter-
scheiden sich in Verfahrensweisen, im Zeitplan und bei der Ressourcenausstat-
tung. Alle Länder zielen jedoch auf Änderungen ihrer jeweiligen Schulgesetze
ab, um Inklusion zu ermöglichen. Derzeit laufen fast überall Erprobungsphasen
oder Versuche auf der Basis regionaler Öffnungsklauseln. Dabei muss auch die
Zukunft der Förderschulen überdacht werden. Es geht nicht darum, dass sie alle
bedingungslos und unverzüglich aufgelöst werden. Selbst wenn ab sofort kein
Kind mehr in einer Förderschule eingeschult würde, würden bis ins Jahr 2020
Förderschulen oder Förderklassen bestehen bleiben. Um die Chancengleichheit
für Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf schnellstmöglich entsprechend
den Vereinbarungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu erhöhen, müssen
also alle Beteiligten ihre Schritte jetzt abstimmen und verbindliche Vereinbarun-
gen treffen, damit sich sowohl die Eltern als auch die Fachkräfte in den Institu-
tionen auf die tiefgreifenden Veränderungen einstellen und sie vertrauensvoll
mittragen können.

Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich müs-
sen nun bundesweite Anstrengungen erfolgen, um die notwendigen Bedingungen
zu schaffen, damit das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf inklusive
Beschulung umgesetzt werden kann. Um das dazu notwendige bedarfsgerechte
Angebot zu schaffen, müssen im Grund- wie im Sekundarschulbereich sowie bei
der Lehreraus- und - fortbildung die Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen
besser berücksichtigt werden. Damit der Umgang mit heterogenen Lerngruppen
besser gelingt, müssen im Zentrum der Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen
und Erziehern, Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrerinnen und Lehrer die
Vermittlung und Stärkung von Kompetenzen für einen differenzierenden und in-
dividualisierenden Unterricht stehen. Lehrerinnen und Lehrer brauchen in ihren
Aus- und Fortbildungen mehr diagnostische Fähigkeiten und Kompetenzen für
das Arbeiten in multiprofessionellen Teams, da sie stärker als bisher kooperieren
werden. Gleichzeitig brauchen die Institutionen eine bedarfsgerechte Ausstattung
mit Fachkräften aller Art wie Integrationshelferinnen und -helfer, Sozialarbeite-
rinnen und -arbeiter, Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Sonderpäda-
goginnen und -pädagogen für den gemeinsamen Unterricht und den inklusiven
Ganztag.

Auch nach dem Schulabschluss bestehen für Jugendliche mit Behinderung noch

zu viele Probleme beim Weg an die Hochschule oder in die Arbeitswelt. Der
Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Ausbildung ist für sie noch

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immer viel zu oft eine unüberwindliche Hürde. Hier besteht noch großer Hand-
lungsbedarf. Die deutsche Wirtschaft erkennt an, dass die Integration von
Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt „nicht nur eine sozialpolitische
Aufgabe, sondern betriebswirtschaftlich sinnvoll und volkswirtschaftlich not-
wendig“ (Ausschussdrucksache 17(11)823) ist. Darüber hinaus kann die In-
klusion von Auszubildenden mit Behinderung positive Effekte auf das soziale
Miteinander im Betrieb haben und somit als Gewinn wahrgenommen werden.
Beim Übergang von der Schule in den Beruf spielen die Unternehmen eine zen-
trale Rolle, der sie im Lichte dieser Erkenntnis noch viel stärker als bisher
gerecht werden müssen. Dies gilt vor allem in der Kooperation mit den Schulen
und der gezielten Berufsvorbereitung für Jugendliche mit Behinderung. Dabei
kann auf die Erfahrungen erfolgreicher Berufseinstiegsprogramme wie „STAR:
Schule trifft Arbeitswelt – Integration (schwer-)behinderter Jugendlicher“ zu-
rückgegriffen werden.

Die Hochschulrektorenkonferenz hat 2009 in ihrer Empfehlung „Eine Hoch-
schule für Alle“ zentrale Probleme angesprochen, die im Zuge des Ausbaus
einer inklusiven Hochschullandschaft gelöst werden müssen: Die Spannbreite
reicht von der Studienorientierung, -beratung und -zulassung über die Gestal-
tung der Lehre und Prüfungen bis zu Fragen der Barrierefreiheit und Studien-
finanzierung. Laut Erhebung des Deutschen Studentenwerks e. V. zur Situation
von Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit („beeinträchtigt
studieren“) aus diesem Jahr erleben noch immer 60 Prozent der Befragten starke
bzw. sehr starke beeinträchtigungsbedingte Studienerschwernisse. Auch wenn
es an vielen Hochschulen bereits gute individuelle Lösungen für einzelne Stu-
dierende mit Behinderung gibt, ist es noch ein weiter Weg zur flächendeckenden
inklusiven Hochschule. Die Verantwortung für die Finanzierung von Maßnah-
men, die behinderten Menschen ein Studium ermöglichen, ist zwischen Hoch-
schule und Sozialhilfeträger nicht klar genug geregelt. In den Programmen, mit
denen Hochschulen der Vielfalt in der Studierendenschaft gerecht werden und
sie fördern wollen, spielen Menschen mit Behinderung noch zu oft eine Neben-
rolle. Es gibt bisher kaum Lehrende, die Kenntnisse barrierefreier Hochschuldi-
daktik haben, obwohl davon mit Sicherheit nicht nur behinderte Studierende
profitieren würden.

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention braucht Zeit, Vertrauen,
Sorgfalt und Beharrlichkeit. Ihre Verwirklichung im Alltag unserer Bildungsein-
richtungen wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Nur wenn alle Akteu-
rinnen und Akteure konstruktiv zusammen wirken, kann der Ausbau eines inklu-
siven Bildungssystems gelingen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dazu beizutragen, das Bildungssystem in Deutschland inklusiv zu gestalten.
Dazu gehört auch, mit den Ländern ein neues Ganztagsschulprogramm aus-
zuhandeln, dessen Mittel auch dafür genutzt werden können, an den Schulen
die Voraussetzungen und Bedingungen für das Recht auf inklusive Bildung
zu schaffen. Deswegen muss die Bundesregierung endlich initiativ werden,
um das Kooperationsverbot in der Bildung im Grundgesetz aufzuheben;

2. ein geeignetes Forum einzuberufen, um gemeinsam mit den Ländern einen
realistischen Zeitplan zu erarbeiten, wie der Rechtsanspruch auf inklusive
Bildung schnellstmöglich, aber auch mit hoher Qualität und Akzeptanz bei
Kindern, Jugendlichen, Eltern, Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, Be-
trieben und Gesellschaft umgesetzt werden kann. Dabei müssen alle Betei-
ligten einbezogen werden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11163

3. mit den Ländern zu vereinbaren, wie die Kosten der Inklusionsreform
zwischen den Ebenen, Kommunen, Ländern und Bund, aufgeteilt werden.
Dafür muss in verschiedenen Szenarien gemeinsam ermittelt werden, welche
Ressourcen sowohl für die Qualität der Bildungsangebote als auch für die
barrierefreie Infrastruktur notwendig sind;

4. die eigene Kompetenz in der Bildungsforschung besser zu nutzen und aus-
stehende Forschungsergebnisse schnellstmöglich zur Verfügung zu stellen,
um Inklusion im Bildungsbereich schneller voranzubringen. Dazu gehört
auch, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, um die Ergebnisse der
einzelnen Forschungsschwerpunkte etwa zur „Diagnostik und Intervention
bei Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ und „Qualifizierung
des pädagogischen Personals in Bildungseinrichtungen“, die 2013 vorlie-
gen sollen, schnellstmöglich auszuwerten und gegebenenfalls deutlich wer-
dende rechtliche oder politische Konsequenzen allein oder in Kooperation
mit den Ländern umzusetzen;

5. eine Überprüfung des Kinder- und Jugendhilferechts vorzunehmen mit dem
Ziel, eine durchgehende gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne
Behinderung zu ermöglichen, die gesetzlichen Grundlagen insbesondere
für Kindertageseinrichtungen zu überarbeiten, um eine generelle inklusive
Förderung aller Kinder zu erreichen, sowie die Bildung trägerübergreifen-
der Arbeitskreise der Fachkräfte zum Austausch der aktuellen Erfahrungen
bei der Umsetzung der inklusiven Erziehung, Bildung und Betreuung anzu-
regen;

6. sich kurzfristig dafür einzusetzen, dass es in allen Ländern für Schülerinnen
und Schüler von Förderschulen möglich wird, einen Hauptschulabschluss
zu erreichen, und auch sonst die Durchlässigkeit des Bildungswesens für
Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf schnellstmöglich hergestellt
und deutlich erhöht wird. Nur so können Schülerinnen und Schüler, für die
der Übergang in eine Regelschule so schnell nicht möglich ist, noch Bil-
dungsperspektiven erhalten, die dem geltenden Rechtsanspruch zumindest
im Ansatz nahekommen;

7. das Recht umzusetzen, in der beruflichen Bildung zusammen zu lernen. Be-
hinderten jungen Menschen müssen die regulären Wege zu anerkannten Be-
rufsabschlüssen genauso offen stehen wie Wege über zertifizierte Aus-
bildungsbausteine. Zudem sind die Betriebe besser über bestehende
Unterstützungsmöglichkeiten bei der Bundesagentur für Arbeit und den
Integrationsämtern zu informieren, zusätzliche sonderpädagogische Quali-
fikationswege für Ausbilderinnen und Ausbilder müssen geschaffen und
deren Erwerb durch die beruflichen Ausbilderinnen und Ausbilder unter-
stützt werden. Bei der Förderung und Umsetzung von Diversity-Konzepten
in Ausbildungsbetrieben müssen verstärkt auch behinderte Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter einbezogen werden;

8. innerhalb der Bundesregierung den im Nationalen Aktionsplan zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention entworfenen Gesamtplan zur
Inklusion regelmäßig durch eine externe Evaluation überprüfen zu lassen
und ihn entsprechend der Ergebnisse weiterzuentwickeln und zu ergänzen;

9. die im Sozialrecht und dessen Anwendung bestehenden Hürden, die der In-
klusion auf allen Bildungsstufen entgegenstehen, zu beseitigen;

10. gemeinsam mit den Ländern für umfassende und flächendeckende Bera-
tungsangebote sowohl für behinderte Kinder, Jugendliche und junge Er-
wachsene und ihre Eltern als auch für das pädagogische Personal zu sorgen.
Gleichzeitig sollte eine bundesweite Vernetzung dieser Beratungsinfra-

struktur ermöglicht werden, um durch den Erfahrungsaustausch zu lernen

Drucksache 17/11163 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

und auch für den Bereich der Dimension die Verbesserung der Bildungsmo-
bilität in Deutschland von vorneherein mitzudenken;

11. gemeinsam mit den Ländern die Qualifizierung des pädagogischen Per-
sonals gerade auch mit Blick auf die Inklusion voranzutreiben. Darauf sollte
nicht nur die Qualitätsoffensive Lehrerbildung verbindlich ausgerichtet
werden. In der gesamten Palette der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller
Lehrkräfte muss die Anwendung von diagnostischen Fähigkeiten, die
Fähigkeit zur individuellen Förderung innerhalb von heterogenen Lern-
gruppen und das Arbeiten in multiprofessionellen Teams zum didaktischen
Schwerpunkt werden;

12. die Hochschulen bei der Schaffung der zur Inklusion notwendigen Bedin-
gungen zu unterstützen. Dazu sollten im Hochschulpakt, anders als bisher,
Maßnahmen zur Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung gesondert
honoriert werden. Um dies möglichst unbürokratisch umsetzen zu können,
müssen Bund und Länder sich im Rahmen der Verhandlungen über die not-
wendigen Aufstockungen des Hochschulpakts II auf ein sinnvolles Verfah-
ren einigen;

13. im Rahmen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) zusammen
mit den Ländern Wege zu finden, um das Angebot an Studienplätzen im
Bereich der Sonderpädagogik entsprechend dem neu ermittelten Bedarf
sowohl in der Erstausbildung als auch in Fort- und Weiterbildungsstudien-
angeboten sicherzustellen und weiterzuentwickeln;

14. im Rahmen der Mitarbeit in der „European Agency for Development in
Special Needs Education“ gemeinsam mit den Ländern die Ergebnisse vor
allem aus dem Projekt „Raising Achievement for All Learners – Quality in
Inclusive Education (RA4AL)“ schnell zu verbreiten und über die Um-
setzung von Erkenntnissen in Gespräche mit den Ländern, Gemeinden,
Institutionenverbänden, Betroffenen und Wirtschaft einzusteigen.

Berlin, den 24. Oktober 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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