BT-Drucksache 17/11135

Umsetzung der Rechtsansprüche von Hartz-IV-Leistungsberechtigten

Vom 22. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11135
17. Wahlperiode 22. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia
Jochimsen, Cornelia Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung der Rechtsansprüche von Hartz-IV-Leistungsberechtigten

Die Fraktion DIE LINKE. bewertet die Einführung von Hartz IV (siehe Zweites
Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) als einen massiven Sozialabbau, der grund-
legend korrigiert werden muss. Grundlegende Kritik findet sich auch in der
Expertise der Diakonie „Rechtssicherheit und Fairness bei Grundsicherung
nötig“ (Diakonie Texte 05.2012, siehe www.diakonie.de/Texte-05-2012-SGB-
II-Rechtsansprueche. pdf).

Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V. fasst die
Ergebnisse seiner bundesweiten Umfrage mit Rückmeldungen aus 110 Bera-
tungsstellen wie folgt zusammen: „Beratende in den Jobcentern sind kaum er-
reichbar, die Bescheide über die Leistung sind unverständlich, junge Erwach-
sene unter 25 Jahren werden gegängelt und aus dem Leistungsbezug gedrängt,
Sanktionen erfolgen pauschal und ohne nachträgliche Änderungsmöglichkeiten,
das Bildungs- und Teilhabepaket erreicht die Leistungsberechtigten nicht und
bezahlbarer Wohnraum steht nicht ausreichend zur Verfügung. […] Es zeigt
sich, dass nicht nur die willkürlichen Abschläge bei der Ermittlung des Regel-
satzes 2010 zu einer dauerhaften Unterschreitung des Existenzminimums
führen. Auch der Regelsatz sowie die Ansprüche auf einmalige oder personen-
bezogene Leistungen sind für viele Leistungsberechtigte nicht gesichert. Das
gilt ebenso für eine gute Beratung in den Jobcentern oder die Einlösung persön-
licher Integrationsansprüche etwa durch Fördermaßnahmen oder zielgruppen-
spezifische Ansprache. Diese Situation hat sich durch viele Rechtsänderungen
in 2010/11 verschärft, die mit der Neubemessung der Regelsätze und dem Bil-
dungs- und Teilhabepaket am 30. März 2011 in Kraft traten.“ (ebd. S. 3).

Die Expertise wurde auf einem parlamentarischen Frühstück am 12. September
dieses Jahres allen Fraktionen vorgestellt. Vertreter aller Fraktionen sagten dort
eine nähere Prüfung der dargestellten Problematiken und Änderungsbedarfe zu.
Ein entsprechender Prozess ist gerade regierungsseitig dringend notwendig.

Offenbar wird das Recht auf Existenzsicherung nicht einmal im gesetzlich fest-
gelegten Umfang verwirklicht. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist ein soziales
Grundrecht. Die Institutionen der öffentlichen Hand sind verpflichtet, dieses
Grundrecht zu gewährleisten. Diese Gewährleistungspflicht wird nach der Ex-
pertise der Diakonie vielfach nicht oder nicht ausreichend beachtet. Die Bundes-

Drucksache 17/11135 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

regierung ist aufgefordert, Stellung zu beziehen und mögliche Reformabsichten
offenzulegen.

Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) schreibt in ihrem aktuellen Jahres-
bericht 2011, dass Ergebnisse von Prüfinstanzen „zum Teil gravierende Umset-
zungsmängel in der Grundsicherung“ festgestellt haben (Grundsicherung für
Arbeitsuchende. Aufschwung nutzen, Potenziale erschließen. Jahresbericht
2011, S. 35). Allerdings werden diese Mängel weder konkret ausgeführt, noch
werden die Maßnahmen zur Abstellung der Defizite nachvollziehbar dargelegt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die Bundesregierung Kenntnis von der Expertise „Rechtssicherheit und
Fairness bei Grundsicherung nötig“ der Diakonie, und welche Schlussfolge-
rungen zieht sie aus der Expertise?

Wurde ein gemeinsamer Prozess der Bundesregierung und der Koalitions-
fraktionen der CDU/CSU und FDP in die Wege geleitet, um die dargestellten
Probleme aufzuarbeiten und zu lösen?

2. Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen oder plant sie zu
unternehmen, um die einzelnen in der Expertise aufgezeigten Defizite zu
prüfen?

3. Hat die Bundesregierung von der BA und/oder anderen für die fachliche und
rechtliche Aufsicht zuständigen Instanzen einen Bericht/eine Bewertung zu
den in der Expertise aufgezeigten Defiziten erbeten, plant sie dies zu tun, und
welchen Inhalt haben ggf. diese Stellungnahmen, bzw. welche Themenfelder
sollen sie behandeln?

4. Welche der dargestellten Probleme sollen im Sozialmonitoring der Verbände
mit der Bundesregierung einer Lösung zugeführt werden?

Welche weiteren Änderungsbedarfe kommen im Sozialmonitoring zur
Sprache?

Wann sollen die entsprechenden Änderungen ausgearbeitet und umgesetzt
werden?

5. Falls eine genauere Prüfung der in der Diakonie-Expertise dargestellten Pro-
blemlagen und Lösungsvorschläge bislang unterblieben ist, wann wird diese
eingeleitet, und falls dies nicht geplant ist, mit welcher Begründung wird den
aufgezeigten Defiziten nicht systematisch nachgegangen?

6. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem in der Aus-
wertung der Umfrage festgestellten Befund, dass immer mehr Leistungs-
berechtigte trotz Rechtsanspruch nicht den vollen Regelsatz ausgezahlt be-
kommen, und welche Maßnahmen will sie ergreifen, damit der rechtlich
bestehende und der ausgezahlte Regelsatz wieder deckungsgleich werden?

7. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von der anscheinend zuweilen
anzutreffenden Praxis, dass Jobcenter Anträge (Jahresbericht 2011, S. 10 f.)
– etwa von jungen Erwachsenen (ebd. S. 13), Schwangeren (ebd. S. 14) oder
ausländischen Antragstellerinnen (ebd. S. 11) – nicht entgegennehmen, son-
dern stattdessen beispielsweise auf die Eltern verweisen, und wie bewertet sie
diese Fälle?

8. Wie bewertet die Bundesregierung den aufgezeigten Sachverhalt, dass bei
Leistungsberechtigten eine Unterdeckung des Regelbedarfs entsteht, weil
aufgrund zu niedriger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung
Teile der Regelleistung für diesen Zweck verwendet werden müssen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11135

9. Bei wie vielen

a) Bedarfsgemeinschaften und

b) Personen

unterschreiten die anerkannten Kosten der Unterkunft und Heizung die tat-
sächlichen Kosten?

Wie hoch ist im Durchschnitt der betroffenen Fälle die Differenz (Daten für
den Bund, bitte jeweils die Jahressumme für 2011 angeben)?

10. a) Ist der Bundesregierung bekannt, dass in zahlreichen Fällen nicht die ge-
samten Heizkosten für Wohnungen übernommen werden, die nach der
Produkttheorie aufgrund ihres niedrigeren Quadratmeterpreises oder
aufgrund des Schutzes von selbstgenutztem Wohneigentum trotz höherer
Quadratmeterzahl für die Leistungsbeziehenden als zulässig erachtet
werden?

b) Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, und wie bewertet sie
diese?

c) In wie vielen Fällen kommt es aufgrund der Bedarfsunterdeckung in die-
sen Fallkonstellationen zu Strom- und Gassperren?

d) Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Beheizung die-
ser Wohnungen zukünftig zu sichern?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Praxis, dass bei Überschreiten der
Mietrichtwerte weder Kautions- noch Renovierungs- oder Umzugskosten
erstattet werden (ebd. S. 25)?

12. Wie viele Bedarfsgemeinschaften/Personen haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung im Jahr 2011 ein Darlehen

a) beantragt und

b) bewilligt

bekommen?

13. Bei wie vielen Bedarfsgemeinschaften/Personen wurde infolgedessen die
Regelleistung für welche Dauer um 10 Prozent gekürzt?

14. Wie viele Bedarfsgemeinschaften/Personen haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung im Jahr 2011 ein Kautionsdarlehen in durchschnittlich welcher
Höhe erhalten?

15. Bei wie vielen Bedarfsgemeinschaften wurde nach Kenntnis der Bundes-
regierung im Jahr 2011 alternativ zu einem Kautionsdarlehen eine kommu-
nale Garantie/Bürgschaft ausgesprochen?

16. Unterstützt die Bundesregierung den Vorschlag, Mietkautionen regelmäßig
nicht in der Form eines Darlehens, sondern in der Form einer Garantie/
Bürgschaft durch das Jobcenter zu geben und dieses Vorgehen gesetzlich zu
verankern?

17. Wie viele Bedarfsgemeinschaften im SGB II waren nach Kenntnis der Bun-
desregierung im Jahr 2011 von Strom- und/oder Gassperren betroffen?

18. In welcher Form und in welchem Umfang werden Energienachzahlungen als
Teil der Kosten der Unterkunft und Heizung von den örtlichen Jobcentern
übernommen?

Drucksache 17/11135 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

19. Wie bewertet die Bundesregierung die aufgezeigte Praxis, dass (insbeson-
dere Erwerbs-)Einkommen oder familienpolitische Leistungen angerechnet
werden, bevor sie tatsächlich zufließen, und welche Maßnahmen ergreift sie
zur Korrektur dieser offenbar nicht unüblichen Praxis?

20. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der umfäng-
lichen Liste der laut der Diakonie regelmäßig und einmalig nicht gedeckten
besonderen Bedarfe (ebd. S. 15 ff.)?

21. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Aussage
(ebd. S. 16), dass bei Schwangeren die gesetzlich vorgesehenen einmaligen
und sonderen Bedarfe „oft“ nicht erstattet wurden bzw. auf entsprechende
Rechtsansprüche nicht hingewiesen werde?

22. Welche verfahrensmäßigen Vorkehrungen hat die Bundesregierung gesetz-
lich verankert, damit bei akuten Problemfällen eine unmittelbare Erreich-
barkeit und Hilfeleistung durch die Jobcenter-Mitarbeiter/-innen gewähr-
leistet ist?

23. Welchen Status hat der Schwerpunkt „Rechtmäßigkeit der operativen Um-
setzung sicherstellen“ in der Geschäftspolitik der BA?

24. Wie verhält sich das Ziel „Verringerung der Hilfebedürftigkeit“ – operatio-
nalisiert über den Indikator „Senkung passiver Leistungen“ – zu der Ver-
pflichtung einer umfassenden Sicherstellung der Leistungsansprüche der
Hilfebedürftigen?

25. Welche quantitativen Ziele zur „Verringerung der Hilfebedürftigkeit“ wur-
den in den letzten Jahren gesetzt, und welche Annahmen unterliegen der
Haushaltsplanung im Einzelplan 11 für die Ausgaben für Arbeitslosengeld II
im Haushaltsjahr 2013?

Welches Ziel ergibt sich daraus für die „Senkung passiver Leistungen“ im
Jahr 2013?

26. Auf welche Art und Weise wird das Ziel „Verringerung der Hilfebedürftig-
keit“ verfolgt, und mit welcher Begründung besteht dieses Ziel eigenstän-
dig neben dem Ziel der Verbesserung der Integration in Erwerbstätigkeit?

27. Auf welche Instrumente und Möglichkeiten verweist die BA örtliche Job-
center in der Zielnachhaltung hinsichtlich der „Verringerung der Hilfe-
bedürftigkeit“?

28. Wie stellen die Bundesregierung und die BA sicher, dass die Summe passi-
ver Leistungen nicht reduziert wird durch die Vorenthaltung zustehender
Leistungsansprüche?

29. Welche gravierenden Umsetzungsmängel sind der Bundesregierung und
der BA bekannt bei der operativen Umsetzung des SGB II?

30. Welche Berichte der Internen Revision der BA und des Bundesrechnungs-
hofs dokumentieren nach Kenntnis der Bundesregierung welche Umset-
zungsmängel beim SGB II (bitte mit Auskunft über den Ort der Veröffent-
lichung auflisten)?

31. Gibt es konkrete Änderungsvorschläge der BA am SGB II, und liegen diese
dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor?

Wenn ja, zu welchen Bereichen und mit welchen Inhalten?

Plant die Bundesregierung aufgrund der Hinweise der BA weitere Rechts-
änderungen, und wenn ja, mit welchem Inhalt?

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32. Wie bewertet die BA die Folgen und die Wirksamkeit von Sanktionen?

Liegen hierzu konkrete Änderungsvorschläge seitens der BA vor, und wie
ist ihr Inhalt?

Plant die Bundesregierung, hierzu weitere Expertisen anzufordern und ent-
sprechende Änderungen vorzubereiten?

Wenn ja, mit welchem Inhalt?

33. Welche Maßnahmen haben die Bundesregierung und die BA zur Qualitäts-
sicherung der Umsetzung des SGB II ergriffen?

34. Plant die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode noch gesetzgeberi-
sche Korrekturen am SGB II?

Berlin, den 22. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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