BT-Drucksache 17/11071

Reformbedarf im europäischen Kartellrecht

Vom 17. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11071
17. Wahlperiode 17. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Manfred Nink, Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine),
Hans-Joachim Barchmann, Doris Barnett, Klaus Barthel, Martin Dörmann,
Sebastin Edathy, Ingo Egloff, Petra Ernstberger, Dr. Edgar Franke, Iris Gleicke,
Kerstin Griese, Rolf Hempelmann, Dr. Eva Högl, Ute Kumpf, Burkhard Lischka,
Dietmar Nietan, Thomas Oppermann, Stefan Rebmann, Marianne Schieder
(Schwandorf), Werner Schieder (Weiden), Dr. Martin Schwanholz, Rita
Schwarzelühr-Sutter, Peer Steinbrück, Sonja Steffen, Christoph Strässer, Andrea
Wicklein, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Reformbedarf im europäischen Kartellrecht

Ein gemeinsamer europäischer Markt braucht faire Regeln und Schutz vor
wettbewerbsverzerrenden Absprachen. Die Europäische Kommission über-
wacht als Wettbewerbsbehörde die Einhaltung der Regeln des europäischen
Kartellrechts. Sie kann selbstständig Ermittlungen aufnehmen und schließlich
auch die Geldbußen gegen Unternehmen aussprechen, wenn diese sich nach-
weislich zu einem Kartell zusammengeschlossen haben.

In den letzten Jahren sind das europäische Kartellrecht sowie die Europäische
Kommission aufgrund steigender Bußgeldforderungen Ziel der Kritik von
Unternehmen und Verbänden geworden, die die Rechtmäßigkeit und die Effek-
tivität des Bußgeldsystems in Europa in Frage stellen. Trotz sehr hoher Buß-
gelder verstoßen Unternehmen gegen die Regeln des europäischen Wettbe-
werbsrechts. Das Abschreckungs- bzw. Anreizkonzept des europäischen Kar-
tellrechts ist offensichtlich mangelhaft.

Ein Kernpunkt der Kritik ist, dass das europäische Kartellrecht keine Anreize
zur Verbesserung der Compliance in den Unternehmen setze. Organisatorische
Vorkehrungen, die dazu beitragen, unzulässige Wettbewerbspraktiken zu verei-
teln, blieben in der Praxis der Bußgeldverhängung der Europäischen Kommis-
sion unberücksichtigt. Das Kartellrecht würde nicht dazu beitragen, dass Unter-
nehmen sich gezwungen sehen, umfangreiche und effektive Compliance-Struk-
turen und -Maßnahmen zu etablieren. Ferner wird kritisiert, dass bei Verstößen
innerhalb von Tochtergesellschaften eines Konzerns die Muttergesellschaft re-
gelmäßig voll zur Verantwortung gezogen wird. Dabei sei es unerheblich, ob
die Muttergesellschaft alle ihr möglichen Compliance-Maßnahmen ergriffen
hat, um die wettbewerbsrechtlichen Verstöße innerhalb der Tochtergesellschaft

zu verhindern, und sie selbst in die wettbewerbsverzerrenden Handlungen nicht
eingebunden war. Durch den Einbezug der Muttergesellschaft kann die Geld-
buße statt maximal 10 Prozent des Umsatzes der Tochtergesellschaft, dann
maximal 10 Prozent des gesamten Konzernumsatzes betragen.

So sind in den vergangenen Jahren die von der Europäischen Kommission ver-
hängten Geldbußen enorm angestiegen. Wurden im Jahr 2005 durch die Kom-

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mission Kartellbußen in einer Gesamthöhe von 683 Mio. Euro verhängt, belie-
fen sich die Bußen im Jahr 2010 auf über 3 Mrd. Euro. Diese Zahlen zeigen
auch, dass das europäische Kartellrecht nicht entscheidend dazu beiträgt, auf
dem europäischen Markt tätige Unternehmen von Verstößen gegen das europä-
ische Wettbewerbsrecht abzuschrecken.

Kritik an der Effektivität der Vermeidung von Kartellrechtsverstößen und die
Forderung nach höheren rechtsstaatlichen Standards hat auch das Europäische
Parlament mehrfach geäußert. Es fordert eine wirksamere Kartellverfolgung in
Europa. So hat das Europäische Parlament die Kommission und die Mitglied-
staaten insbesondere aufgefordert, den Grundsatz der persönlichen Haftung
einzuführen. Zugleich hat es die Kommission mehrfach aufgefordert, die
rechtsstaatlichen Defizite des gegenwärtigen Kartellbußgeldrechts zu beseiti-
gen, zuletzt in einer Entschließung vom 2. Februar 2012 mit der nachdrückli-
chen Forderung, in die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 eine detaillierte Berech-
nungsgrundlage für Geldbußen und neue Grundsätze für die Bußgeldfestset-
zung aufzunehmen. Die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier haben
ferner eine Überprüfung der Grundsätze gefordert, nach denen die Kommission
Gesellschaften für Verstöße gegen das Kartellrecht haftbar macht, die von an-
deren Konzerngesellschaften begangen wurden.

Die Faktion der SPD setzt sich für ein europäisches Kartellrecht ein, das effek-
tiv dazu beiträgt, Wettbewerbsverstöße zu verhindern und gleichzeitig hohen
rechtsstaatlichen Anforderungen genügt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher ergriffen und/oder wel-
che Initiativen hat sie bislang auf europäischer Ebene angestoßen, um das im
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP angekündigte Ziel, sich auf
EU-Ebene für ein unabhängiges europäisches Kartellamt einzusetzen, zu er-
reichen, und welche weiteren Initiativen sind geplant?

2. Ist die Forderung der Bundesregierung nach einem unabhängigen europäi-
schen Kartellamt so zu verstehen, dass die Bundesregierung die gegenwär-
tige Struktur der europäischen Kartellverfolgung kritisch beurteilt?

3. Welches sind nach Auffassung der Bundesregierung die Unzulänglichkeiten
in der gegenwärtigen Struktur der europäischen Kartellverfolgung?

4. Welche Verbesserungen bei der europäischen Kartellverfolgung sind aus
Sicht der Bundesregierung erstrebenswert sowie sekundärrechtlich umsetz-
bar, und wie ist die Bundesregierung initiativ geworden, um Verbesserungen
herbeizuführen?

5. Hält die Bundesregierung die Regelung in der europäischen Kartellverord-
nung, wonach die Europäische Kommission in einem weiten Ermessens-
spielraum Geldbußen für ein einzelnes Unternehmen auf bis zu 10 Prozent
des weltweiten Konzernumsatzes festlegen kann und somit für Kartellver-
stöße eine in der Praxis nach oben offene Bußgeldskala geschaffen ist, für
vereinbar mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass der Gesetzgeber nähere
Vorgaben für die Geldbußenbemessung machen muss, und beabsichtigt die
Bundesregierung, insoweit in Brüssel auf eine Gesetzgebung hinzuwirken,
die rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt?

6. Hält die Bundesregierung in Deutschland das Risiko für hinnehmbar, dass
die entsprechende deutsche Bußgeldnorm für verfassungswidrig erklärt und
damit die Kartellverfolgung massiv beeinträchtigt wird?

7. Hält die Bundesregierung die europäische Rechtslage für akzeptabel, dass es

keinerlei Kriterien dafür gibt, unter welchen Voraussetzungen Kartellver-
stöße in Unternehmen diesem Unternehmen oder anderen Konzerngesell-
schaften ohne Weiteres zuzurechnen sind?

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8. Unterstützt die Bundesregierung die in mehreren Entschließungen des Eu-
ropäischen Parlaments geäußerte Forderung nach Verbesserungen im euro-
päischen Bußgeldrecht, insbesondere hinsichtlich der Einführung des
Grundsatzes der persönlichen Haftung und der positiven Berücksichtigung
von Compliance-Programmen und anderen Maßnahmen der Unterneh-
mensführungen zur Verhinderung von Kartell- und sonstigen Rechtsverstö-
ßen?

9. Stimmt die Bundesregierung zu, dass die bestehenden Strafrechtsnormen
dahingehend Unzulänglichkeiten aufweisen, dass die Möglichkeit, straf-
rechtliche Ermittlungen und Sanktionen gegen schädigende Mitarbeiter
einzuleiten, nur in sehr speziellen Fällen und nicht überall dort, wo es im
Sinne einer effektiven Abschreckung angebracht wäre, gegeben ist, und
wie will die Bundesregierung diese Unzulänglichkeiten beseitigen?

10. Stimmt die Bundesregierung zu, dass – angesichts der strafrechtlichen Na-
tur von Kartellbußen – das Verschuldensprinzip stärker beachtet werden
sollte, und wenn ja, welche Maßnahmen will die Bundesregierung diesbe-
züglich ergreifen?

11. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass auch dann, wenn es
nicht zu einem unabhängigen europäischen Kartellamt kommen sollte,
nicht nur die Regeln über das Kartellverbot, sondern auch die Sanktionsre-
geln und das Verfahren, jedenfalls in den Mitgliedstaaten, der EU angegli-
chen werden sollten?

Berlin, den 17. Oktober 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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