BT-Drucksache 17/10938

Sanktionen bei Hartz IV und Leistungsvergabe nach § 31a Absatz 3 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Sachleistungen und geldwerte Leistungen

Vom 8. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10938
17. Wahlperiode 08. 10. 2012

der Abgeordneten Wolfgang Neškoviü, Katja Kipping, Diana Golze, Jan Korte,
Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Cornelia
Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Raju Sharma, Halina Wawzyniak, Harald
Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Kleine Anfrage

Sanktionen bei Hartz IV und Leistungsvergabe nach § 31a Absatz 3 Satz 1 des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Sachleistungen und geldwerte Leistungen

Im vergangenen Jahr wurden durch die Jobcenter mit über 912 000 Sanktionen
mehr als je zuvor verhängt (www.welt.de/wirtschaft/article106173958/So-viele-
Sanktionen-bei-Hartz-IV-wie-nie-zuvor.htm, zuletzt aufgerufen: 12. September
2012). Im Jahr 2010 kam es in 5 870 Fällen zu einer vollständigen Streichung
der ALG-II-Leistungen (ALG = Arbeitslosengeld), einschließlich der Kürzung
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung (Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion der SPD auf Bundestagsdrucksache 17/6833, S. 9
bis 11).

Kürzlich erst hat das Sozialgericht Karlsruhe einen Kürzungsbescheid um 100 Pro-
zent für rechtmäßig gehalten, weil es eine Arbeitsaufnahme, die bei einer Ar-
beitszeit von sechs Stunden mit einer Fahrtzeit von täglich annähernd zweiein-
halb Stunden verbunden war, für zumutbar gehalten hat (SG Karlsruhe, Beschluss
vom 4. Juni 2012 – S 4 AS 1956/12 ER).

An den Sanktionen besteht seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
9. Februar 2010 (BVerfG Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) heftige
Kritik. In der Rechtswissenschaft werden sie mit Blick auf das Grundrecht auf
Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ganz oder teilweise
für verfassungswidrig erachtet (Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997 bis 1004;
Davilla, SGb 2010, S. 557 bis 564; Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 134 bis 140).

A) Menschenrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums

In seiner Entscheidung zu den Regelleistungen hat das Bundesverfassungsge-
richt zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz-
minimums ausgeführt: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen-
würdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen dieje-
nigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für

ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Leben unerlässlich sind. […] Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als
Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem
absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde je-
des Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar
und muss eingelöst werden,“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar
2010 – 1 BvL 1/09, Leitsatz 1 und 2). Den Umfang des Grundrechts hat es wie

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folgt umschrieben: „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch
auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich
nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen
Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzmi-
nimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physi-
sche Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft,
Heizung, Hygiene und Gesundheit […], als auch die Sicherung der Möglichkeit
zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst,
denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen […].“
(BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, Absatz-
nummer 135).

In seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz (BVerfG, Urteil des
Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10) hat das Bundesverfassungsge-
richt noch einmal betont, dass es sich bei dem unmittelbar verfassungsrechtli-
chen Leistungsanspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum um ein
Menschenrecht handelt: „Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als
Menschenrecht.“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL
10/10, Leitsatz 2). Das Gericht hat – ohne die Verfassungsmäßigkeit der
Regelbedarfshöhe zu überprüfen – angenommen, dass der Gesetzgeber den
konkreten Umfang des Existenzminimums durch die Normen des Regelbe-
darfs-Ermittlungsgesetzes (RBEG) inhaltlich bestimmt hat: „Die Normen des
Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der
Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetz-
geber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende
Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwür-
digen Existenzminimums.“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli
2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 126).

Davon ausgehend hat das Gericht Leistungen, die etwa ein Drittel unterhalb des
danach vorgesehenen Regelsatzes liegen, für evident unzureichend erachtet und
ausgeführt:

● „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen
nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in
jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde (vgl.
Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP vom 26. Oktober 2010, BTDrucks. 17/3404, S. 1 unter A.), ein
Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“ (BVerfG, Urteil
des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 112).

Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht erneut auf die Bedarfsabhän-
gigkeit der (Sozial-)Leistungsvergabe hingewiesen:

● „Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten
Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet.“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats
vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 93).

● „Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur, er
muss aber auch in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht.“
(BVerfG vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 98).

● „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Exis-
tenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (vgl.
BVerfGE 125, 175 <253>).“ (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli
2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 120).

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B) Aktuelle Gesetzeslage:

Zulässigkeit der Kürzung des existenznotwendigen Bedarfs

Auch nach der Neuregelung der Hartz-IV-Leistungsnormen werden „Pflicht-
verletzungen“ und Meldeversäumnisse der Betroffenen weiterhin gemäß § 31a
Absatz 1 und § 32 Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) mit
pauschalen Kürzungen von 10 Prozent des Regelbedarfs bis zu 100 Prozent der
gesamten ALG-II-Leistung sanktioniert. Diese Rechtsfolge ist nach dem Wort-
laut der Regelungen zwingend, ein Ermessen oder eine Abwägung nach
Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ist ebensowenig vorgesehen wie eine
Härtefallklausel.

Nach Auffassung der Bundesregierung tragen die Regelungen der § 31 ff. SGB II
den „Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum
Schutz des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hinrei-
chend Rechnung“ (Bundestagsdrucksache 17/6833, S. 3). Die unterschied-
lichen Kürzungsstufen werden mit dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ be-
gründet: „Dieser Selbsthilfegrundsatz ist ein gesellschaftlich anerkanntes
Prinzip. Wiederholte Verstöße gegen die Selbsthilfeverpflichtung führen daher
folgerichtig zu verstärkten Sanktionen.“ (Bundestagsdrucksache 17/6833, S. 7).
Bezüglich der Leistungsverminderung „auf null“ weist die Bundesregierung
darauf hin, dass es „der erwerbsfähige Leistungsberechtigte maßgeblich selbst
in der Hand“ habe, „durch seine Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit im Einglie-
derungsprozess seine finanzielle Situation zu verbessern und insbesondere
Wohnungslosigkeit zu vermeiden“ (Bundestagsdrucksache 17/6833, S. 8).

C) Ersatzweise Vergabe von Sachleistungen/geldwerten Leistungen

In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD
(Bundestagsdrucksache 17/6833) heißt es: „Bei den von einer Sanktion nach
§ 31 ff. SGB II Betroffenen bleibt das Existenzminimum gewahrt. Dem dienen
die differenzierten Regelungen, zu denen neben der gestuften Minderung des Ar-
beitslosengeldes II die Möglichkeit gehört, (ergänzende) Sachleistungen oder
geldwerte Leistungen – etwa durch Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen –, so-
wie Direktzahlungen an Vermieter und z. B. Versorgungsdienstleister zu erbrin-
gen (vgl. § 31a SGB II).“ (Bundestagsdrucksache 17/6833, S. 2).

Nach § 31a SGB II ist allerdings auch ein Absenken der Leistungen „auf null“
ohne (teilweise) Kompensation durch Sachleistungen/geldwerte Leistungen
möglich. Denn § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II ist als Ermessenregelung ausge-
staltet: „Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent
des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger auf Antrag in an-
gemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen
erbringen.“ Nach Satz 2 der Vorschrift besteht eine Pflicht zur (Sach-)Leis-
tungsvergabe nur, wenn minderjährige Kindern im selben Haushalt leben.

Diverse Stimmen in der Praxis und der Literatur halten diese Ermessensre-
gelung für ungenügend bzw. verfassungswidrig (Richers/Köpp, DÖV 2010,
S. 997, 1000; Davilla, SGb 2010, S. 557, 559; Lauterbach, ZFSH/SGB 2011,
S. 584, 585; Neskovic/Erdem, SGb 2012, S. 134, 139).

In der Rechtsprechung erfolgt zum Teil eine „verfassungskonforme Ausle-
gung“, indem bei „Sanktionen auf Null“ eine Ermessensreduzierung angenom-
men oder die Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheids von der Gewähr erset-
zender Leistungen abhängig gemacht wird (vgl. Landessozialgericht (LSG)
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – L 10 B 2154/08
AS ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. September 2009,
L 7 B 211/09 AS ER; SG Berlin, Beschluss vom 30. Juli 2010 – S 185

AS 19695/10 ER). Mitunter wird die Belehrungspflicht der Jobcenter über die
Möglichkeit der Sachleistungsvergabe für nicht ausreichend erachtet und sogar

Drucksache 17/10938 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

das Erfordernis der Antragstellung ganz in Frage gestellt. So hat das LSG Ber-
lin-Brandenburg ausdrücklich ausgeführt: „Von der Pflicht, das physische Exis-
tenzminimum ersatzweise zu sichern, ist die Antragsgegnerin insbesondere
nicht deshalb frei, weil sie die Antragstellerin darauf hingewiesen hat, dass ihr
solche Leistungen auf Antrag gewährt werden könnten. Dies ist nach den auf-
gezeigten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die dahin gehen, eine Un-
terschreitung des physischen Existenzminimums sicher und auch nur vorüber-
gehend zu vermeiden, unzureichend und auch nicht etwa deshalb geboten, weil
eine Entscheidung […] nicht ohne Mitwirkung der Antragstellerin getroffen
werden könnte.“ (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember
2008 – L 10 B 2154/08 AS ER, juris Rn. 13).

Wir fragen die Bundesregierung:

Zu A) Menschenrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums

1. Hält die Bundesregierung an ihrer in der Anwort auf die Kleine Anfrage auf
Bundestagsdrucksache 17/6833 ausgeführten Auffassung fest, dass die Sank-
tionsnormen im SGB II (§§ 31a, 32 SGB II) verfassungsgemäß sind, insbe-
sondere mit dem Recht auf Zusicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums übereinstimmen (bitte mit Begründung)?

2. Sieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts gesetzgeberischen Handlungsbedarf zu einer
Streichung/Neufassung der §§ 31a, 32 SGB II (bitte mit Begründung)?

3. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dem Prinzip des „Förderns und For-
derns“ komme Verfassungsrang zu und dies erlaube es, Hilfebedürftigen auf-
grund mangelnder Mitwirkung/einer Obliegenheitsverletzung solche Leis-
tungen zu kürzen, die für eine menschenwürdige Existenz notwendig sind?

4. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit zu einer gesetzgeberischen
Klarstellung des § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II dahingehend, dass das Recht
auf Gewährleistung des Existenzminimums durch Sachleistungen/geldwerte
Leistungen in jedem Einzelfall und zu jeder Zeit zwingend zugesichert wer-
den muss?

Zu B) Aktuelle Gesetzeslage:

Zulässigkeit der Kürzung des existenznotwendigen Bedarfs

1. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die in diesen Normen vorgese-
henen rein prozentualen Kürzungen (10 bis 60 Prozent des Regelbedarfs), die
keine Konkretisierung der nach der Kürzung verbleibenden Leistungen er-
möglichen, im Widerspruch mit der Bestimmung der Regelbedarfshöhe nach
dem RBEG stehen (bitte mit Begründung)?

2. Kommt es bei einer Leistungskürzung nach §§ 31a, 32 SGB II zu einer Kür-
zung ganz bestimmter Bedarfe des RBEG?

Um welche Bedarfe handelt es sich im Falle

a) eines Meldeversäumnisses nach § 32 SGB II,

b) einer 30-Prozent-Kürzung des Regelbedarfs nach § 31a Absatz 1 Satz 1
SGB II,

c) einer 60-Prozent-Kürzung des Regelbedarfs nach § 31a Absatz 1 Satz 2
SGB II?

3. Sind nach Ansicht der Bundesregierung in § 5 ff. RBEG-Bedarfe enthalten,
die über das unbedingt Notwendige hinausgehende Leistungen zuerkennen?
Wenn ja, um welche Bedarfe handelt es sich?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10938

4. Gibt es nach Ansicht der Bundesregierung bestimmte Leistungspositionen,
die trotz einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II in keinem Fall gekürzt
werden können?

Wenn ja, wie wird in der Praxis sichergestellt, dass solche Leistungen trotz
einer prozentualen Kürzung in vollem Umfang erhalten bleiben?

5. Hält es die Bundesregierung für möglich, dass bereits durch eine 10-Prozent-
Kürzung (§ 32 SGB II) oder eine 30-Prozent-Kürzung (§ 31a Absatz 1 Satz 1
SGB II) des Regelbedarfs eine dauerhafte oder vorübergehende Unterschrei-
tung des Existenzminimums eintritt?

Wenn nein, wie ist diese Ansicht mit der Bedarfsberechnung des RBEG ver-
einbar, das die Bedarfe detailliert berechnet?

Wenn ja, wie wird derzeit in der Praxis sichergestellt, dass das Existenzmi-
nimum „in jedem Fall und zu jeder Zeit“ garantiert ist?

6. Hält es die Bundesregierung für möglich, dass durch eine 60-Prozent-Kür-
zung des Regelbedarfs (§ 31a Absatz 1 Satz 2 SGB II) eine dauerhafte oder
vorübergehende Unterschreitung des Existenzminimums eintritt?

7. Hält es die Bundesregierung für angemessen, dass bei wiederholter Pflicht-
verletzung, die einen Fortfall der ALG-II-Gesamtleistung (100-Prozent-Kür-
zung) zur Folge hat, der Krankenversicherungsschutz nach § 5 Absatz 1
Nummer 2a SGB V entfällt?

Wird durch die Bundesregierung eine Gesetzesänderung angestrebt, durch
die Sanktionsfälle analog den Sperrzeiten im Sinne von § 159 SGB III nach
§ 5 Absatz 1 Nummer 2 SGB V behandelt werden?

8. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Betroffene durch eine voll-
ständige Kürzung der ALG-II-Leistung ihren Krankenversicherungsschutz
nach § 5 Absatz 1 Nummer 2a SGB V verloren haben?

Wenn ja, in wie vielen Fällen und für welche Zeiträume geschah dies?

Hatte dies für die Betroffenen konkrete gesundheitliche Nachteile zur Folge,
z. B. durch versäumte ärztliche Untersuchungen oder verzögerte notwendige
Behandlungen?

9. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Sanktionen der Jobcenter
die Obdachlosigkeit von Betroffenen zur Folge hatten (sei es, dass ein Antrag
auf direkte Mietzahlung nicht gestellt oder abgelehnt wurde)?

Sofern der Bundesregierung keine der in den Fragen 8 und 9 genannten Fälle
nach bekannt sind, wie rechtfertigt es die Bundesregierung, angesichts der of-
fensichtlichen Unterschreitung des Existenzminimums in solchen Fällen,
keine Daten hierüber zu erheben?

10. Beabsichtigt die Bundesregierung, unter dem Gesichtspunkt des Verlustes
von Wohnung und Krankenversicherungsschutz eine Studie über die Aus-
wirkungen von Totalsanktionen in Auftrag zu geben?

Wenn nein, warum nicht?

Zu C) Ersatzweise Vergabe von Sachleistungen/geldwerten Leistungen

1. Hält die Bundesregierung Kürzungen um 100 Prozent der laufenden SGB-II-
Leistungen ohne die gleichzeitige Gewähr von Sachleistungen für verfas-
sungskonform?

Wenn ja, in welchen Fällen?

Wie verträgt sich diese Auffassung mit der Unbedingtheit des verfassungs-

rechtlichen Leistungsanspruchs auf Zusicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums?

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Wenn nein, wie werden solche 100-Prozent-Sanktionen in der Praxis ausge-
schlossen, bzw. wie gedenkt die Bundesregierung solche Sanktionen künftig
auszuschließen?

2. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Ermessensregelung zur Sach-
leistungsvergabe in § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II

a) verfassungskonform ist bzw.

b) verfassungskonform auslegbar ist?

Im Falle von a):

Gibt es nach Ansicht der Bundesregierung Fälle, in denen eine Ermessensre-
duzierung „auf null“ vorliegt, und Sachleistungen also immer gewährt werden
müssen?

Wenn ja, um welche Art von Fällen handelt es sich?

Im Falle von b):

Welche Auswirkungen hat die verfassungskonforme Auslegung auf die Sach-
leistungsvergabepraxis der Jobcenter, und auf welche Weise wird sie in jedem
Einzelfall sichergestellt (z. B. Verwaltungsanweisungen)?

3. Welche Gesichtspunkte sind nach Ansicht der Bundesregierung für die Er-
messensausübung nach § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II von Bedeutung?

Dürfen weitere Gesichtspunkte außer der Frage der gegenwärtigen Bedürftig-
keit in die Entscheidung einbezogen werden oder würde dies einen Ermes-
sensfehlgebrauch begründen?

4. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung bei der Ermessensausübung des
§ 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II zulässig, das der Sanktion nachfolgende Ver-
halten der Betroffenen (z. B. nunmehr hohe Eigenbemühungen/Koopera-
tionsbereitschaft oder aber anhaltende oder neue Pflichtverletzung nach § 31
SGB II) mit einzubeziehen?

5. Kann bzw. muss nach Auffassung der Bundesregierung ein Jobcenter im Falle
von 60-Prozent-Sanktionen oder bei vollständigem Wegfall des ALG II auch
ohne Antrag der Betroffenen Leistungen gemäß § 31a Absatz 3 Satz 1 oder
§ 31a Absatz 3 Satz 2 SGB II gewähren?

Wenn ja, wie wird in der Praxis sichergestellt, dass es auch ohne Antrag zu ei-
ner unverzüglichen Leistungsgewährung kommt?

6. Ist das Jobcenter im Falle eines Antrags auf Leistungsgewährung nach § 31a
Absatz 3 Satz 1 oder § 31a Absatz 3 Satz 2 SGB II zur sofortigen Bearbeitung
sowie Entrichtung der Leistungen bereits ab dem Moment der Leistungskür-
zung verpflichtet?

7. Kann es nach Einschätzung der Bundesregierung – durch verspätete Antrag-
stellung oder verzögerte Bearbeitung des Antrags – zu einer zeitlich versetzten
Sachleistungsvergabe kommen?

Wie wird in der Zwischenzeit das Existenzminimum der Betroffenen sicher-
gestellt?

8. Welche Sachleistungen können auf Antrag gewährt werden?

9. Ist die Art der konkreten Leistungen, die nach § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II
gewährt werden können, von der Art der Leistungskürzung (60 Prozent des
Regelbedarfs oder 100 Prozent der ALG-II-Gesamtleistung) abhängig?

Wenn ja, inwiefern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/10938

10. Ist die direkte Zahlung der Miete für Wohnraum an den Vermieter eine geld-
werte Leistung im Sinne des § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II?

11. In wie vielen Fällen ist es seit der Neuformulierung der SGB-II-Normen zu
Kürzungen von mehr als 60 Prozent des Regelbedarfs gekommen (bitte nach
Jahren, Zeitdauer der Sanktion und Kürzungsstufen auflisten)?

12. In wie vielen dieser Fälle ist durch die Betroffenen ein Antrag auf Erbringung
von Sachleistungen/geldwerten Leistungen gestellt worden?

In wie vielen Fällen ist der Antrag durch das Jobcenter abgelehnt worden
(bitte nach Kürzungsstufen auflisten)?

13. In wie vielen dieser Fälle kam es zu

a) Widersprüchen oder

b) Klagen

gegen die Entscheidung?

In wie vielen Fällen haben die Betroffenen die begehrte Leistung

a) im Widerspruchsverfahren oder

b) im gerichtlichen Verfahren

doch noch erhalten?

14. In wie vielen Fällen wurden Sachleistungen oder geldwerte Leistungen durch
die Jobcenter ohne Antrag der Betroffenen gewährt?

15. Sind solche Leistungen unmittelbar mit Kürzung bzw. Wegfall der laufenden
Leistungen entrichtet worden oder kam es zu zeitlichen Verzögerungen?

Sofern der Bundesregierung zu den Fragen 12 bis 15 keine Daten vorliegen,
unter dem Gesichtspunkt, dass diese Ersatzleistungen unmittelbar dazu die-
nen, das Recht der Betroffenen auf Zusicherung ihres Existenzminimums zu
garantieren, wie rechtfertigt es die Bundesregierung, über die Vergabe von
Sachleistungen/geldwerten Leistungen keine Daten zu erheben?

Wird vonseiten der Bundesregierung eine Datenerhebung bzw. Studie zu der
Frage der Bewilligung von Ersatzleistungen nach § 31a Absatz 3 Satz 1
SGB II beabsichtigt?

Berlin, den 8. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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