BT-Drucksache 17/10791

Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit machen für die Kooperation mit fragilen Staaten

Vom 26. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10791
17. Wahlperiode 26. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Ute Koczy, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, Kerstin Müller (Köln),
Hans-Christian Ströbele, Dr. Frithjof Schmidt, Uwe Kekeritz, Marieluise Beck
(Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel,
Katja Keul, Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwicklungspolitische Zusammenarbeit fit machen für die Kooperation
mit fragilen Staaten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In fragilen Staaten wird zukunftsfähige soziale und wirtschaftliche Entwicklung
erschwert, Menschenrechte häufig verletzt. Frauen und Kinder werden von die-
sen Missständen in besonderem Maß beeinträchtigt, ethnische, religiöse, sprach-
liche oder sexuelle Minderheiten häufig verfolgt. Auch der Raubbau an der Natur
und den ökologischen Grundlagen kann in fragilen Staaten nicht wirksam ver-
hindert werden. Besonders betroffen von fragiler Staatlichkeit sind die Armen
und Unterprivilegierten, da sie vor Repressionen und Willkür am wenigsten ge-
schützt sind.

International gibt es keine einheitliche Definition fragiler Staatlichkeit. Generell
werden jene Staaten als fragil angesehen, in denen der Staat nicht willens oder
in der Lage ist, staatliche Grundfunktionen im Bereich Sicherheit, Rechtsstaat-
lichkeit, soziale Grundversorgung und Legitimität zu erfüllen. Staatliche Insti-
tutionen in fragilen Staaten sind sehr schwach oder vom Zerfall bedroht; die Be-
völkerung leidet unter großer Armut, Gewalt und politischer Willkür.

Fragile Staaten stellen daher eine besondere Herausforderung für die interna-
tionale Gemeinschaft dar. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung (OECD) gerät ein Drittel aller Entwicklungsländer auf-
grund von Fragilität ins Hintertreffen, während andere Länder hinsichtlich der
Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) Fortschritte erzie-
len. Gerade in den fragilen Staaten droht sich in den kommenden Jahrzehnten
eine hartnäckige Armut festzusetzen. Nach dem Weltentwicklungsbericht der
Weltbank von 2011 hat keines der als fragil eingestuften oder von bewaffneten
Konflikten betroffenen Ländern bisher auch nur eines der MDGs erreicht oder

wird es in absehbarer Zeit erreichen. Rund 20 Prozent der Weltbevölkerung,
etwa 1,5 Milliarden Menschen, leben in Ländern mit fragiler Staatlichkeit.

Die internationale Gemeinschaft hat sich in der Entwicklungszusammenarbeit
(EZ) lange auf die „good performers“ konzentriert und die fragilen Staaten ver-
nachlässigt. Viele Geber schrecken vor einem Engagement in fragilen Staaten
zurück, da sie das damit verbundene Risiko schlecht einschätzen und zu ver-
folgende Interessen und Ziele in fragilen Kontexten nicht klar identifizieren

Drucksache 17/10791 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

können. Aus diesem Grund entwickeln sich mehr und mehr fragile Staaten zu
sogenannten Aid Orphans, also von der internationalen Entwicklungszusam-
menarbeit verwaiste Staaten. Eine Zusammenarbeit findet in diesen Kontexten
in der Regel auf einem zu niedrigen Niveau über humanitäre Hilfsleistungen und
regierungsferne Projekte statt. Zivilgesellschaftlichen Organisationen kommen
daher eine entscheidende Rolle zu. Entwicklungszusammenarbeit muss jedoch
gerade in Bereichen der fragilen Staatlichkeit aktiv werden und bleiben. Im Rah-
men der technischen und finanziellen Zusammenarbeit müssen Instrumente wie
die Unterstützung beim Aufbau von Guter Regierungsführung, Sicherheits-
sektorreform, Infrastrukturmaßnahmen oder Budgethilfe flexibel angepasst und
weiterentwickelt werden. Der Deutsche Bundestag unterstützt in diesem Zusam-
menhang die OECD-Leitlinie aus dem Jahr 2001 „stay engaged but differently“.

Der Deutsche Bundestag unterstreicht die Verpflichtungen aus der Pariser Erklä-
rung der OECD von 2005 und der darauf aufbauenden zehn „Prinzipien für ein
internationales Engagement in fragilen Staaten und Situationen“ von 2007, in
der sich die Geberländer verpflichtet haben, dem Aufbau legitimer, gut funktio-
nierender und solider staatlicher Institutionen in fragilen Staaten erhöhte Auf-
merksamkeit zu widmen, Kontextanalysen durchzuführen und die Hilfe an loka-
len Prioritäten auszurichten. Der OECD-Bericht aus dem Jahr 2010 zeigt
Fortschritte und Erkenntnisse aus der bisherigen Umsetzung der Prinzipien in
mehreren fragilen Staaten auf, die in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen
Ländern selbst erstellt wurden. Diese müssen als Grundlage für eine effektivere
Umsetzung der OECD-Prinzipien herangezogen werden. Auch der Weltent-
wicklungsbericht 2011 „Conflict, Security, and Development“ der Weltbank so-
wie der „New Deal for Engagement in Fragile States“, der in Busan im Jahr 2011
von den Teilnehmern des vierten High Level Forum on Aid Effectiveness unter-
stützt wurde, bieten konkrete Ansatzpunkte zur dringend benötigten Verbesse-
rung des internationalen Engagements in den von Gewaltkreisläufen geprägten
fragilen Staaten.

Um fragiler Staatlichkeit frühzeitig vorzubeugen, sind demnach Gerechtigkeit,
die Zurechnungsfähigkeit staatlichen Handelns und die Einhaltung der Men-
schenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie die Förderung von sozialem und ökono-
mischem Fortschritt, die faire Verteilung von Ressourcen sowie Transparenz im
Regierungshandeln elementar. Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Struk-
turen sowie institutionalisierter Beteiligungsprozesse, vor allem für Frauen,
spielen für die Überwindung von Fragilität und die Förderung von Demokratie
eine entscheidende Rolle. Bilaterale und besonders multilaterale Entwicklungs-
zusammenarbeit verfügen über die technischen und finanziellen Instrumente vor
allem in den Bereichen Good Governance und der Armutsbekämpfung, um die
strukturellen Ursachen von fragiler Staatlichkeit wirksam und frühzeitig zu
bekämpfen und somit präventionsorientiert vorzugehen. Eine dauerhafte Sta-
bilisierung muss jedoch von den fragilen Staaten getragen werden und von der
eigenen Bevölkerung ausgehen.

Entwicklungspolitische Ziele in fragilen Staaten

Ziel der Entwicklungspolitik in fragilen Staaten muss es sein, zu einer entschei-
denden Verbesserung der Situation der Menschen, zu einem nachhaltigen Auf-
bau von Institutionen sowie zu einer Entwicklung von Vertrauen zwischen der
Bevölkerung und den öffentlichen Institutionen beizutragen. Dies wird zuneh-
mend zu einer der wichtigsten, aber auch schwierigsten Entwicklungsaufgaben
des 21. Jahrhunderts. Die Erfahrungen der letzten Jahre in Ländern wie Afgha-
nistan oder der Demokratischen Republik Kongo zeigen, dass die Versuche der
Geber, Entwicklung in fragilen Staaten anzustoßen, zu wenig Erfolge gebracht
haben. Der Bundestag kritisiert, dass die von der Bundesregierung am 19. Sep-

tember 2012 vorgelegten ressortübergreifenden Leitlinien „Für eine kohärente
Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten“ keine Strategie im

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10791

Umgang mit Ressourcenknappheit und Rohstofffluch, Drogen- und Waffenhan-
del, Korruption und internationalen Steueroasen sowie zur Abkehr von Rüs-
tungsexporten in Krisenregionen enthalten. Auch die Frage wie die zivil-militä-
rische Zusammenarbeit in Zukunft gestaltet werden soll, beantwortet die
Bundesregierung nicht. In der tatsächlichen Politik und der Zusammenarbeit mit
fragilen Staaten werden diese Leitlinien keine Wirkung entfalten. Ein Konzept,
wie die Bundesregierung sich dieser drängenden Zukunftsfrage stellen will, liegt
weiterhin nicht vor. Es braucht eine regierungsweite, auch die Wirtschaftspolitik
einbeziehende und mit den internationalen Partnern abgestimmte Strategie für
die Zusammenarbeit mit fragilen Staaten. Zusätzlich müssen Strategien für die
Arbeit mit jedem fragilen Staat individuell entwickelt werden, der ein Partner-
land der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist. Die Bundesregierung ver-
säumt nach wie vor, eine solche Strategie dem Bundestag vorzulegen.

In fragilen Staaten müssen die Voraussetzungen für Entwicklung erst geschaffen
werden. Daher muss für sie ein anderes Zielsystem als für andere Entwicklungs-
länder angelegt werden. Dahingehend muss auch die bi- und multilaterale
Entwicklungszusammenarbeit (EZ) entsprechend der Peacebuilding und State-
building Goals (PSG) des International Dialogue on Peacebuilding and State-
building ausgerichtet werden, die gemeinsam mit 19 fragilen Staaten erarbeitet
und im Rahmen der Busan-Erklärung 2011 verabschiedet wurden.

Kontextanalyse, Monitoring und Evaluierung verbessern

Bis heute fehlen in Deutschland und international Ex-ante-Riskioanalysen sowie
eine regelmäßige unabhängige Evaluierung des deutschen Gesamtengagements
in fragilen Staaten, das alle Instrumente der deutschen Außenpolitik in einem
Zielstaat mit einbezieht. Ein einfacher Fortschrittsbericht, wie ihn die Bundes-
regierung regelmäßig für Afghanistan vorlegt, reicht nicht aus. Um hohe Erwar-
tungen an internationales Engagement in Zukunft nicht zu enttäuschen, ist eine
unabhängige Evaluierung und entsprechende flexible Anpassung der Strategie
unabdingbar. Es gilt das neu gegründete Institut für deutsche Entwicklungseva-
luierung gGmbH für diese Anforderungen entsprechend aufzustellen. Dabei gilt
es auch, gemeinsame Evaluierungen internationalen Engagements künftig stär-
ker zu fördern. Um möglichst detailliertes Wissen der Situation vor Ort, der
Strukturen und Akteure sicherzustellen, sind optimierte deutsche und internatio-
nale Strukturen sowie eine intensivere Zusammenarbeit mit den Zielgruppen vor
Ort essentiell.

Deutsche EZ für fragile Staaten befähigen

Die komplizierte Situation in fragilen Staaten erfordert eine genaue Abwägung
wann, wo und wie die bilaterale EZ aktiv wird. Die deutsche EZ muss hier ihren
gesamten Instrumentenmix besser verzahnen und sowohl national wie interna-
tional eine intensivere Abstimmung und Koordination vornehmen. Die Ent-
wicklungszusammenarbeit mit fragilen Staaten braucht strategische Geduld, um
sich zum einen in einem langfristigen Aufbauprozess zu engagieren. Laut der
Weltbank dauert es im Durchschnitt mehrere Jahrzehnte bis staatliche Institu-
tionen nach einem Zusammenbruch wieder voll funktionstüchtig sind. Zum an-
deren muss die EZ aber auch kurzfristige Erfolge für die Bevölkerung bringen.
Insbesondere in Post-Konfliktkontexten ist solch eine Friedensdividende häufig
elementar für den Erhalt des Friedens. Der Wiederaufbau von Infrastruktur
durch arbeitsintensive Maßnahmen, wie Cash-for-work-Programme oder die
Wiederankurbelung der Landwirtschaft können dazu beitragen, dass die Bürger
und Bürgerinnen ihr Vertrauen in den Staat sukzessive zurückgewinnen. Auch
die Instrumente der Entwicklungsorientierten Struktur- und Übergangshilfe
müssen in diesen Bereichen ausgebaut und verstärkt werden. Die Aufteilung der

Entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe (ENÜH) auf das Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und

Drucksache 17/10791 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

das Auswärtige Amt (AA) war in diesem Sinne ein Rückschritt. Der Deutsche
Bundestag sieht eine besondere Rolle und Stärke der deutschen EZ darin, Part-
nerschaftsnetzwerke vor Ort, vor allem auch mit zivilgesellschaftlichen Organi-
sationen, aufzubauen und zu pflegen.

In fragilen Staaten können lokale und regionale Strukturen bestehen, die über
größere innere Stabilität verfügen als staatlichen Einrichtungen. In bestimmten
Kontexten können traditionelle Gemeinschaften und zivilgesellschaftliche Or-
ganisationen das staatliche Vakuum zeitweise ausfüllen, eine Reihe staatlicher
Funktionen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, übernehmen und ein Min-
destmaß an Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit garantieren. Zivilgesellschaft-
liche Strukturen können funktionierende Regelungen zur Ressourcenverteilung
und zur Konfliktlösung etabliert haben, an die es unter Einbeziehung der lokalen
Behörden anzuknüpfen gilt. Somit kann auch das Vertrauen zwischen Bevölke-
rung und Staat verbessert bzw. neu aufgebaut werden. Eine lebendige und starke
Zivilgesellschaft ist darum eine zentrale Voraussetzung für die Staatsbildung.
Bestehende lokale und regionale Zivilgesellschaftsstrukturen sollten noch grö-
ßere Beachtung in der Zusammenarbeit finden. Erfahrungen im Aufbau dezent-
raler und zivilgesellschaftlicher Strukturen, sollten gesondert evaluiert und ent-
sprechende Forschung ausgebaut werden.

Dabei müssen auch die Vor-Ort-Strukturen der Durchführungsorganisationen
Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und der
KfW Bankengruppe sowie der politischen Stiftungen gestärkt werden. Gleich-
zeitig muss auch das BMZ in fragilen Staaten personell präsenter sein, um den
komplexen Situationen gerecht werden zu können.

Die Weltbank sieht Sicherheit, Gerechtigkeit und Arbeitsplätze als prioritäre
Handlungsfelder für die EZ in fragilen Staaten. In diesen Bereichen sollte die
deutsche EZ ihre Kompetenzen ausbauen und anbieten. Darüber hinaus dürfen
der Zugang zu Bildung und Basisgesundheitsdiensten, Ernährung, Wasser und
sanitärer Grundversorgung, der Menschenrechtsschutz und besonders die An-
passung an den Klimawandel nicht vernachlässigt werden. Weiterhin gilt es,
Frauen in ihrer für Entwicklung zentralen Rolle zu unterstützen sowie entspre-
chend der Resolution 1325 in der Friedensentwicklung eine besondere Auf-
merksamkeit zukommen zu lassen. Dazu gehört besonders die Förderung von
Trauma-Verarbeitung. Der Umgang mit Traumata ist gerade bei Frauen, die in
fragilen Staaten meist die zentrale Bezugsperson von Kindern und anderen
Familienmitgliedern sind, von großer Bedeutung. Unbehandelte Erfahrungen
mit Gewaltsituationen wirken sich unmittelbar auf die familiäre Umgebung aus
und können somit die Friedensentwicklung einer Region und eines Landes maß-
geblich beeinflussen. Frauen sind gerade in Konfliktgebieten häufig die alleini-
gen Versorgerinnen der Familie und haben im Wiederaufbau und für die Aus-
söhnung eine entscheidende Rolle inne. Die Einbindung und Verbesserung der
Situation von Mädchen und Frauen muss auch mit Blick auf die positiven
Effekte weiblicher Partizipation in Entwicklungsfragen stärker als strategisches
Ziel der Zusammenarbeit mit fragilen Staaten in den Blick genommen werden.

Der Bundestag kritisiert, dass die Bundesregierung ihre international gegebenen
Versprechen bricht und an der Regelung festhält, zwei Drittel der EZ-Mittel
bilateral und nur ein Drittel multilateral zu vergeben. Anhand der aktuellen
Haushaltsplanung ist nicht erkennbar, wie das 0,7-Prozent-Ziel bis 2015 erreicht
werden soll. Der 2010 veröffentlichte DAC-Prüfbericht (Development Assis-
tance Committee) zur deutschen EZ kritisiert u. a., dass die Bundesregierung die
deutsche EZ nur unzureichend auf die ärmsten Länder ausrichtet und zudem
nicht genug Aufmerksamkeit auf das Thema Konflikte und fragile Staatlichkeit
lenkt und damit in vielen Teilen Subsahara-Afrikas die großen Hindernisse für

die Verwirklichung der MDGs nicht angemessen angeht. Der Deutsche Bundes-
tag teilt die Empfehlung des Prüfberichts, die Konzentration der bilateralen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10791

Quote für die offiziellen Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit (Official
Development Assistance – ODA) vor allem auf die Partnerländer in Subsahara-
Afrika sowie auf von Konflikten und fragiler Staatlichkeit betroffene Länder
weiter voranzutreiben. Nach Auffassung des Deutschen Bundestages muss die
Unterstützung von fragilen Staaten eine zentrale Säule der deutschen Entwick-
lungspolitik werden.

Der Umgang mit fragilen Staaten verlangt mehr kooperativen Multilateralismus

Von zentraler Bedeutung ist für den Bundestag neben einer erhöhten Kohärenz
der eigenen Politik, eine gemeinsame Strategieentwicklung der internationalen
Geber. In der Vergangenheit wurden Bemühungen in fragilen Staaten zu oft
nicht untereinander abgestimmt oder sogar gegeneinander gearbeitet. Zu oft
wurden Partner durch eine Überflutung von Einzelprojekten verschiedener Ge-
ber in ihrer Kapazität überfordert. Eine konsequentere, enge Koordination und
Abstimmung von strategischen Maßnahmen und der Abbau von Doppelstruktu-
ren sind dringend erforderlich. Auch können Risiken effizienter auf mehrere
Schultern verteilt werden.

Multilateralen Organisationen, wie den Vereinten Nationen (VN), der Weltbank
und den regionalen Entwicklungsbanken, sollte in der Zusammenarbeit mit fra-
gilen Staaten, besonders gegenüber den „Waisen“ der Entwicklungszusammen-
arbeit, wie vernachlässigten Länder, Regionen innerhalb eines Landes oder be-
stimmter Sektoren und Gruppen, eine Schlüsselrolle zukommen. Sie können
Risiken für alle Geber poolen und erhebliche Finanzmittel für einen fragilen
Staat mobilisieren. Außerdem sollen sie stärker als Plattform für Geberaktivitä-
ten agieren und Maßnahmen der Zusammenarbeit koordinieren, um die Partner
zu entlasten. Sie haben dahingehend einen komparativen Vorteil im Vergleich
mit nationalen Gebern. Anzustreben sind die Stärkung der Zusammenarbeit bei
Voranalysen, Auswertungen, Strategieentwicklungen, Berichtsanforderungen
und Finanzierungsbedingungen, Arbeitsteilungen und Treuhandfonds mehrerer
Geber, bis hin zum Aufbau gemeinsamer Länderbüros. Eine besondere Rolle aus
deutscher Sicht kommt hierbei den VN und der Europäischen Union (EU) zu.
Diese sollten ihre Unterstützung für fragile Staaten verstärkt gemeinsam mit und
über Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union und regionale Ent-
wicklungsbanken einsetzen und diese gezielt stärken.

Kohärent und Glaubwürdig

In der Zusammenarbeit mit fragilen Staaten dürfen positive Entwicklungen
nicht durch Entscheidungen oder Unterlassungen bzw. falsche oder wider-
sprüchliche Prioritätensetzungen in den Industrieländern zunichte gemacht wer-
den. Ein erhöhtes entwicklungspolitisches Engagement in fragilen Staaten muss
mit einer insgesamt kohärenteren Politik der Geberländer einhergehen. Die Pro-
bleme der fragilen Staaten haben auch globale Ursachen, für die die Geberländer
eine Mitverantwortung tragen, seien es Klimawandel, Agrarsubventionen, Waf-
fen-, Rohstoff- oder Drogenhandel. Der Korruptionsbekämpfung im eigenen
Land kommt hier eine tragende Rolle zu – etwa in Bezug auf Maßnahmen gegen
Geldwäsche, Wiedererlangung von Vermögenswerten, Transparenz im Banken-
wesen und Transaktionen zwischen Partnerregierungen und Unternehmen der
Rohstoffindustrie, die häufig ihren Sitz in OECD-Ländern haben. Für eine
kohärente und glaubwürdige Politik müssen zudem internationale Standards
etabliert und forciert werden.

Der Deutsche Bundestag sieht die Entwicklungszusammenarbeit nicht als Er-
pressungsinstrument, sondern als Möglichkeit, positive Anreize zu setzen. Aus
diesem Grund ist es sinnvoll, gegenüber fragilen Staaten Budgethilfen auszu-

zahlen, die mit einer Stärkung staatlicher Institutionen vor allem im Bereich des
Finanzmanagements einhergehen. Kürzungen von Geldern der Entwicklungs-

Drucksache 17/10791 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

zusammenarbeit im laufenden Haushaltsjahr bzw. Bewilligungszyklus dürfen
nur als letztes Mittel und nach ernsthafter Betrachtung ihrer Wirkung auf Refor-
men, Konflikte, Armut und Unsicherheit im Land erwogen werden. Reaktionen
der internationalen Gebergemeinschaft sollten dabei abgestimmt und nach zuvor
vereinbarten Abstufungen erfolgen. Gleichzeitig sollten sich lediglich die
Modalitäten der Zusammenarbeit, nicht jedoch die Höhe ändern. In diesen Fäl-
len sollten die Mittel zunehmend regierungsfern über dezentrale und vor allem
zivilgesellschaftliche Organisationen umgesetzt werden.

Fragile Staaten werden vielfach von autoritären Regimen regiert. Gerade im
Umgang mit autoritären Regimen, müssen Maßnahmen und Instrumente der EZ
im Bereich der Staatsbildung durch Stärkung bzw. Aufbau von zentralen Institu-
tionen wie der Polizei oder dem Militär sensibel geprüft und abgewogen werden.
Das wichtige Handlungsprinzip des andauernden Engagements (stay engaged)
und die unmittelbare Bedrohung, die fragile Staaten für die Sicherheit der in
ihrem Umfeld lebenden Menschen bedeuten, darf dadurch jedoch nicht in Frage
gestellt werden.

Entwicklungszusammenarbeit in und mit fragilen Staaten kann im Umfeld von
Einsätzen der Bundeswehr oder im Rahmen von internationalen Friedensmissi-
onen stattfinden. Erfahrungen in der Demokratischen Republik Kongo oder im
Sudan haben jedoch gezeigt, dass das Potential der militärischen Krisenbewälti-
gung überschätzt und viel zu oft Ersatz für intensives diplomatisches Engage-
ments sowie für tragfähige politische Lösungen wird. Es bedarf vorrangig
zivilen Engagements, um zu einer nachhaltigen Befriedung von Konflikten bei-
zutragen und um eine Friedensentwicklung zu begleiten. Der Bundesregierung
fehlt bisher eine ganzheitliche Friedens- und Sicherheitspolitik (vgl. Antrag
„Ressortübergreifende Friedens- und Sicherheitsstrategie entwickeln“ auf Bun-
destagsdrucksache 17/6351). Eine solche Strategie für das Gesamtregierungs-
handeln in fragilen Staaten muss kohärent im Interesse von Entwicklung und der
Menschenrechte sein. Auch die Umsetzung des Aktionsplans Zivile Krisenprä-
vention stagniert, weil der politische Wille zum Aufbau krisenpräventiver Struk-
turen in Deutschland fehlt (vgl. Antrag „Zivile Krisenprävention ins Zentrum
deutscher Außenpolitik rücken“ auf Bundestagsdrucksache 17/5910). Eine Ab-
stimmung bezüglich der Ziele zwischen den zivilen und militärischen Akteuren
im Umfeld von Konflikten ist dabei unerlässlich. Die zivile Zusammenarbeit
muss in ihren Instrumenten und in der Wahrnehmung aber eigenständig bleiben
und in Konfliktkontexten vor allem dem Primat der Politik folgen, nicht etwa
militärischen Prioritäten. Die Neutralität der humanitären Hilfe darf in keinem
Fall angetastet werden. Das Konzept der vernetzten Sicherheit hat jedoch von
Beginn an die falschen Prioritäten gesetzt und ist in der jetzigen Form geschei-
tert. Das deutsche Engagement in fragilen Staaten braucht ein neues Konzept,
das dem Primat des Zivilen Rechnung trägt. Es muss darum gehen, Ressourcen
der Diplomatie, der Entwicklungszusammenarbeit, der zivilen Friedenskräfte,
der Polizei und des Militärs auf nationaler, internationaler und lokaler Ebene,
ressort- und institutionenübergreifend abzustimmen und durch Bündelung oder
Arbeitsteilung zu optimieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

im multilateralen Bereich

– sich für eine einheitliche Definition fragiler Staatlichkeit stark zu machen;

– über die PSG hinaus eine Strategieentwicklung im multilateralen Rahmen
und unter Einbeziehung der Partner und Partnerinnen in fragilen Staaten eine
internationale Strategie voranzutreiben, wie die Zusammenarbeit und Unter-
stützung von fragilen Staaten verbessert werden kann;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/10791

– auf eine Stärkung des multilateralen Rahmens, vor allem der VN und der EU,
hinzuwirken und sich für ein stärker multilaterales Engagement, verstärkt in
Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union,
in Ländern und Regionen, oder auch bestimmten Sektoren, einzusetzen;

– auf eine deutliche Stärkung der VN in der Koordination, der Auswertung von
Informationen und der Verbreitung von Frühwarnmechanismen, Voranaly-
sen, Auswertungen und Strategieentwicklungen hinzuwirken;

– sich für ein gemeinsames Monitoring sowie für gemeinsame Auswertungen
des Engagements in fragilen Staaten einzusetzen;

– multilaterale Fonds wie die International Development Association (IDA)
der Weltbank und den African Development Fund (AfDF) der Afrikanischen
Entwicklungsbank aufzustocken, um Mittel verschiedener Geber für fragilen
Staaten zu poolen, um Planungssicherheit und Langfristigkeit des Engage-
ments zu garantieren und die Überforderung der ohnehin schwachen staat-
lichen Strukturen zu reduzieren;

– sich dafür einzusetzen, dass die internationale Unterstützung fragiler Staaten
stärker an lokalen Prioritäten ausgerichtet wird;

– sich dafür einzusetzen, dass Budgethilfen an fragile Staaten durch verschie-
dene Geber gepoolt und durch flankierende Maßnahmen in einem eng aufein-
ander abgestimmten Instrumentenmix bereitgestellt werden. Die Auszahlung
von Budgethilfen muss in ein Gesamtentwicklungskonzept des fragilen Staa-
tes eingebettet sein, das unter Einbeziehung von Parlament und Zivilgesell-
schaft erstellt werden muss;

– international gemeinsame Ex-ante-Analysen der Situation vor Ort anzusto-
ßen, die vor Beginn eines entwicklungspolitischen Engagements in fragilen
Staaten erstellt werden müssen. Solche politischen Analysen müssen über
quantitative Indikatoren der Konfliktintensität, Governance oder institutionel-
len Stärke hinausgehen. Dabei gilt es, die örtlichen Machtarrangements und
landesspezifischen regionalen Netzwerke sowie politische und wirtschaft-
liche Interessen verschiedener Gruppen einzubeziehen. Die Analysen müssen
landesspezifische Prioritäten, Zwischenziele und Zielvorstellungen entspre-
chend der PSG herausarbeiten. Wo immer möglich, sollten die Herausforde-
rungen und Prioritäten gemeinsam mit nationalen Reformkräften in Regie-
rung und Zivilgesellschaft analysiert werden;

– den Aufbau gemeinsamer Länderbüros („Joined Development Partner Offi-
ces“), Berichtsanforderungen und Finanzierungsbedingungen; Arbeitsteilun-
gen und Treuhandfonds der in einem Staat aktiven Geber voranzutreiben;

– das Joint Programming im Rahmen der EU vor allem mit Blick auf die fragi-
len Staaten entschieden voranzutreiben, da diese in besonderer Weise durch
die Abstimmung mit vielen Gebern überfordert sind;

– die PSG für fragile Staaten unter Berücksichtigung der Erkenntnisse mit Pea-
cebuilding-Missionen wie etwa in Sierra Leone mit Nachdruck zu operatio-
nalisieren, unter Einbeziehung der Partner in fragilen Staaten, und diese Ziele
auch in die Diskussion um eine Post-2015-MDG-Debatte einzuspeisen;

in der bilateralen Zusammenarbeit

– die im Jahr 2007 vorgelegten zehn Prinzipien für ein zweckmäßiges interna-
tionales Engagement in fragilen Staaten und Situationen und den darauf auf-
bauenden OECD-Bericht von 2010 sowie die PSG als Grundlage zu nehmen,
um in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen im Bereich Ent-
wicklung, Menschenrechte und Krisenprävention eine ressortübergreifende

Drucksache 17/10791 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Strategie für den Umgang mit fragilen Staaten zu entwickeln, die kohärent im
Interesse von Entwicklung und der Menschenrechte ist;

– entsprechend dem Prüfbericht der OECD, die zunehmende Steigerung der
Mittel der bilateralen ODA für die Partnerländer in Subsahara-Afrika sowie
auf von Konflikten und fragiler Staatlichkeit betroffene Länder, international
in der Gebergemeinschaft abgestimmt weiter voranzutreiben;

– anhand der PSG und der jeweiligen Friedensstrategien, das Engagement in
fragilen Staaten jährlich unabhängig evaluieren zu lassen und gegebenenfalls
die durchgeführten Programme und Projekte umgehend und angemessen an-
zupassen;

– ein Konzept zu entwickeln, um dezentrale Lösungen zu stärken, die insbe-
sondere bestehende zivilgesellschaftliche Strukturen und ihre Verbindung
zum Staat mit einbeziehen. Dieses Konzept sollte vor allem die besondere
Rolle der Zivilgesellschaft für die Staatsbildung ins Zentrum stellen. Flankie-
rend sollte die Forschung in diesem Bereich ausgebaut werden;

– stabile lokale und regionale Strukturen zu fördern und zu vernetzen sowie
zivilgesellschaftliche Organisationen, traditionelle und religiöse Führer in
die Friedens- und Entwicklungsprozesse mit einzubeziehen;

– alle Instrumente der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit fragilen
Staaten einer Prüfung zu unterziehen, mit dem Ziel, diese Instrumente ins-
gesamt zu flexibilisieren und an die Anforderungen in fragilen Staaten von
schneller Verfügbarkeit und hoher Flexibilität bei gleichzeitig langfristiger
Planungssicherheit anzupassen;

– im Kontext von fragilen Staaten bei Nothilfemaßnahmen sehr frühzeitig mit
strukturbildenden Maßnahmen einzusetzen und hierfür die erforderlichen
Rahmenbedingungen in der Struktur der Haushaltstitel zu schaffen. Der Titel
„Entwicklungsorientierte Struktur- und Übergangshilfe“ sollte dafür um
80 Mio. Euro erhöht werden;

– Maßnahmen zur Förderung der Partizipation von Mädchen und Frauen bei
allen Planungen zur EZ mit fragilen Staaten stärker zu berücksichtigen;

– den Ressortkreis zivile Krisenprävention politisch durch Leitung eines/einer
Staatsministers/in aufzuwerten, mit operativer Steuerungskompetenz, einem
Stab und mit eigenen finanziellen Ressourcen auszustatten, auf die in Form
eines Krisenpräventionspools gemeinsamer Zugriff besteht. Der Pool soll
mindestens 100 Mio. Euro jährlich umfassen und muss zu jeweils gleichen
Teilen in den Einzelplänen der Ressorts des AA, des BMZ, des Bundesminis-
teriums des Innern und des Bundesministeriums der Verteidigung eingestellt
werden;

– den zivilgesellschaftlichen Beirat „Zivile Krisenprävention“ als wichtige
Schnittstelle für die Abstimmung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen
Akteuren zu stärken und das Mandat des Beirates aufzuwerten;

– in enger Konsultation mit Parlament und Zivilgesellschaft einen wirklich
kohärenten Ansatz für das Engagement gegenüber fragilen Staaten und im
Kontext von Konflikten zu entwickeln, der ein einseitiges Konzept der ver-
netzten Sicherheit ablöst und dem Primat des Zivilen gerecht wird;

– einen maßnahmen- und instrumentenübergreifenden Ansatz zu entwickeln,
der eine konfliktsensible Förderung lokaler Wirtschaft bei allen Lieferungen
und Leistungen der deutschen EZ, wie etwa bei Infrastrukturmaßnahmen,
zum Ziel hat;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/10791

– das Konzept des beschäftigungsintensiven Wirtschaftsaufbaus durch die
deutsche EZ und Nothilfe weiter auszubauen und stärker mit Fortbildungen
zu verbinden und vor allem Frauen stärker durch dieses Instrument zu
fördern. Gleichzeitig sollten diese Maßnahmen mit einem langfristigen Zeit-
horizont von bis zu zehn Jahren geplant werden;

– vor allem in konfliktsensiblen Bereichen das Engagement der GIZ und der
KfW Bankengruppe gemeinsam zu konzipieren und einzusetzen;

– Budgethilfen in einer flexiblen Form als eine Möglichkeit der Unterstützung
vorzusehen, falls es positive Trends in den Bereichen Guter Regierungsfüh-
rung, Menschenrechte oder Korruptionsabbau zu verzeichnen gibt;

– die Anzahl der Referenten/Referentinnen für Wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung vor allem an den deutschen Botschaften in jenen fragi-
len Staaten zu erhöhen, die Partnerländer der deutschen EZ sind.

Berlin, den 25. September 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.