BT-Drucksache 17/10685

Unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen durch Polizeibedienstete ermöglichen und unabhängiges Kontrollgremium schaffen

Vom 12. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10685
17. Wahlperiode 12. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Katrin Werner, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Dr. Rosemarie Hein, Andrej Hunko, Wolfgang Neskovic, Jens Petermann, Kathrin
Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen durch
Polizeibedienstete ermöglichen und unabhängiges Kontrollgremium schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Bundesregierung hat die zentralen Standards internationaler menschen-
rechtlicher Schutzmechanismen ratifiziert. Der Deutsche Bundestag weist in
diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Menschenrechtspolitik der Bun-
desrepublik Deutschland in dem Maße an internationaler Glaubwürdigkeit
gewinnt, wie sie internationale und nationale Verpflichtungen im eigenen
Land umsetzt.

2. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die Bundesregierung sich in verschie-
denen Abkommen verpflichtet hat, Menschenrechtsverletzungen wie die un-
rechtmäßige oder unverhältnismäßige Anwendung staatlicher Gewalt zu do-
kumentieren, so z. B. in Form einer Statistik über Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft gegen Polizeibeamte wegen Vorwürfen der vorsätzlichen
Tötung, Körperverletzung im Amt und Aussetzung gemäß den §§ 211, 212,
221 und 340 des Strafgesetzbuchs und weiterer Straftaten. Ein unverhältnis-
mäßiger Einsatz von staatlichen Zwangsmitteln kann gravierende Menschen-
rechtsverletzungen verursachen.

3. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Einrichtung einer Nationalen Stelle zur
Verhütung von Folter (Antifolterstelle). Der gesetzliche Auftrag dieser – ma-
teriell zudem völlig unzureichend ausgestatteten – Antifolterstelle beschränkt
sie allerdings darauf, Missstände in unterschiedlichen Orten der Freiheitsent-
ziehung festzustellen und vorbeugend zu verhindern. Sie erfasst damit das
Spektrum polizeilicher Menschenrechtsverletzungen nur ausschnittsweise.

4. Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass nur ein Teil der Menschenrechtsver-
letzungen strafrechtlich geahndet wird, da bei weitem nicht in allen Fällen
Anzeige erstattet, Ermittlungsverfahren eingeleitet werden und es selten zu

Verurteilungen kommt. Diese Fälle tauchen in amtlichen Statistiken nicht auf
und bleiben so meist der Öffentlichkeit verborgen. Derzeit ist es unmöglich
festzustellen, wie viele Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Bundes-
polizei wegen Straftaten im Amt eingeleitet wurden bzw. aus welchen Grün-
den es zu Verfahrensbeendigungen kam. Die Aufklärungsquote bei Polizei-
übergriffen ist sehr niedrig. Nur bei 3 Prozent der Vorwürfe kommt es zur
Anklage. Eine zentrale Ursache ist, dass Polizisten gegen ihre eigenen Kol-

Drucksache 17/10685 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

legen ermitteln (http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2012/polizeigewalt
103.html).

5. Internationale Verträge wie die UN-Anti-Folter-Konvention oder das Interna-
tionale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminie-
rung (Anti-Rassismus-Konvention) verpflichten Polizeibeamte, aktiv für den
Schutz der Menschenrechte einzutreten, diese in ihrer Arbeit jederzeit einzu-
halten und sie für alle Menschen zu gewährleisten, die sich in Deutschland
aufhalten bzw. mit der Polizei in Berührung kommen. Der Deutsche Bundes-
tag weist darauf hin, dass die Polizei als Teil der staatlichen Exekutive einer-
seits für den Schutz der Menschenrechte Verantwortung trägt, andererseits
von ihr aber auch Menschenrechtsverletzungen ausgehen können. Dies be-
deutet eine besondere Herausforderung für ein umfassendes menschenrechts-
sensibles Verantwortungsbewusstsein von Polizeiangehörigen und die Not-
wendigkeit, Menschenrechtsbildung und Menschenrechtstraining innerhalb
der Polizei zu gewährleisten.

6. Der Deutsche Bundestag nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass es immer
wieder Beispiele dafür gibt, dass Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen bei
der Ausübung ihres Amtes Menschenrechte verletzen. Dies geschieht unter
anderem durch ungerechtfertigte Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit
oder die Freiheit festgenommener oder kontrollierter Personen sowie durch
hierbei an den Tag gelegtes rassistisches und diskriminierendes Verhalten.

7. Der Deutsche Bundestag zeigt sich besorgt, dass Menschen mit Migrations-
hintergrund überproportional häufig von solchen Menschenrechtsverletzun-
gen betroffen sind. Internationale und europäische Gremien wie der UN-
Menschenrechtsausschuss, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
und die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte haben wiederholt
darauf hingewiesen, dass Personenkontrollen und Identitätsfeststellungen,
die allein oder maßgeblich aufgrund der zugeschriebenen „ethnischen Zuge-
hörigkeit“ oder „Hautfarbe“ einer Person basieren, gegen das Verbot rassis-
tischer Diskriminierung verstoßen. In diesem Zusammenhang kritisiert der
Bundestag die Praxis des „racial profiling“, die diskriminierendes bzw.
rassistisches Verhalten zumindest begünstigen. Dass die Bundespolizei
Reisende an Bahnhöfen und in Zügen ohne vorliegende konkrete Verdachts-
momente aufgrund ihrer Hautfarbe bzw. ihres Aussehens kontrolliert, ver-
stößt gegen die Menschenrechte der Betroffenen und gegen verfassungs-
rechtliche und einfachgesetzliche Diskriminierungsverbote. Dass nach dem
Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 28. Februar 2012 (5 K 1026/
11.KO) die Hautfarbe zulässiges Kriterium für eine Personenkontrolle durch
die Bundespolizei sein soll, leistet rassistischen Denkmustern sowohl in der
Polizei als auch in der Gesellschaft Vorschub.

8. Der Deutsche Bundestag teilt die Sorge der Ombudsfrau für die Hinterblie-
benen der Opfer des Neonazi-Terrors des sogenannten Nationalsozialisti-
schen Untergrundes (NSU), Barbara John, dass viele Polizisten „Einwanderer
nur als Tatverdächtige“ kennen und bei den Morden des NSU zu lange ein-
seitig in Richtung „Ausländerkriminalität“ ermittelt wurde (www.taz.de/
!88223/). Hinweise auf einen rassistisch-neonazistischen Hintergrund der
Morde wurden von den Sicherheitsbehörden ignoriert bzw. wurde ihnen nicht
ernsthaft nachgegangen. Stattdessen wurden die Angehörigen der Opfer im-
mer wieder ins Zentrum der Ermittlungen gestellt und damit rassistisch stig-
matisiert. Der Bundestag kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die leiden-
den Angehörigen der Opfer zu Verdächtigen bzw. potentiellen Tätern
gemacht wurden.

9. Der Deutsche Bundestag sieht es als wichtige Aufgabe an, alle Voraussetzun-

gen zu schaffen, damit Hinweisen auf nicht gesetzeskonformen Einsatz staat-
licher Gewalt durch die Polizei von unabhängigen Stellen nachgegangen wer-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10685

den kann. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Empfehlungen des ehema-
ligen Menschenrechtskommissars des Europarates, Thomas Hammarberg, die
er bereits in seinem Besuchsbericht nach Deutschland im Juli 2007 veröffent-
licht hat, zu diesem Zweck unabhängige Beobachtungs- und Beschwerdegre-
mien einzurichten (siehe auch Opinion of the Commissioner for Human
Rights concerning independent and effective determination of complaints
against the police, 12/03/2009, CommDH(2009)4.), die in einigen anderen
Mitgliedstaaten des Europarates bereits bestehen. Das Europäische Komitee
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behand-
lung unterstützt die Einrichtung einer vollkommen unabhängigen Ermitt-
lungsstelle (CPT/Inf/E (2002)1 – Rev. 2009) ebenso wie der UN-Ausschuss
gegen Folter (UN-CAT) in seinen am 25. November 2011 veröffentlichten ab-
schließenden Bemerkungen zum Staatenbericht Deutschlands. Zudem wurde
am 7. November 2011 auch bei einer Sachverständigenanhörung im Innen-
ausschuss des Deutschen Bundestages nachdrücklich auf die Notwendigkeit
von unabhängigen Untersuchungsmechanismen bei unverhältnismäßiger
Polizeigewalt hingewiesen (Wortprotokoll 17/56).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Menschenrechte als Schwerpunktthema in der Ausbildung namentlich der
Angehörigen der Bundespolizei und des Bundeskriminalamts und in der in-
nerpolizeilichen Fortbildung stärker zu verankern. Menschenrechtsbildung
und Menschenrechtstraining dürfen in der Aus- und Fortbildung der Polizei
nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen auf alle Verantwortungsebe-
nen von Bundespolizei und Bundeskriminalamt und auf die tägliche Arbeits-
praxis der Beamten und Beamtinnen Einfluss nehmen. Die Menschenrechts-
bildung für die Polizei darf sich nicht nur auf Lehrkräfte beschränken, die
rechtstheoretischen Unterricht erteilen. Vielmehr muss von den Dienststel-
len- und Einsatzleiterinnen und -leitern bis hin zu allen anderen Angehörigen
des Polizeivollzugsdienstes ein breiter Personenkreis einbezogen werden.
Das betrifft insbesondere auch „Einsatz-Ausbilder“ der Polizei, die Ausbil-
der/Ausbilderinnen geschlossener Einheiten, Ausbilder/Ausbilderinnen für
Einsatz- und Schießtraining und Ausbilder/Ausbilderinnen für Mobile und
Spezial-Einsatzkommandos;

2. in Dienststellen des Bundes eingesetzte Polizeibeamtinnen und Polizeibeam-
ten für die spezielle Problemsituation von Migrantinnen und Migranten,
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Flüchtlingen in der Gesellschaft
zu sensibilisieren und im Rahmen menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit
die interkulturellen Kompetenzen des Polizeipersonals zu erhöhen. Hierfür
sollten regelmäßig menschenrechtsbezogene Fortbildungs- und Trainings-
programme angeboten und diese zum Gegenstand regelmäßiger obligatori-
scher Fortbildung der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten erhoben wer-
den;

3. auf Bundesebene einen polizeiunabhängigen Beschwerde- und Untersu-
chungsmechanismus z. B. in Form einer/eines unabhängigen Beauftragten
zur Untersuchung von ungesetzlicher und unverhältnismäßiger Polizeigewalt
einzurichten und vorab dem Deutschen Bundestag bis zum Jahresende 2012
eine Konzeption für die Einrichtung der/des Beauftragten vorzulegen. Bei
der Konzeption sollen die Forderungen von Amnesty International (www.
amnestypolizei.de/presse/hintergrund/node/148) und Humanistischer Union
(www.humanistische-union.de/wiki/hu/projekte/polizeikontrolle/
gesetzentwurf) als Grundlage dienen, wie sie bereits in Bundestagsdruck-
sache 16/12683 aufgegriffen worden sind;

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4. mit den Bundesländern Kontakt mit dem Ziel aufzunehmen, dass in allen
Bundesländern polizeiunabhängige Beschwerde- und Untersuchungsmecha-
nismen eingerichtet werden, die ungesetzliche und unverhältnismäßige Poli-
zeigewalt untersuchen sollen.

Berlin, den 12. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Legalität und gesellschaftliche Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols
beruht ganz wesentlich darauf, dass die Ausübung staatlicher Gewalt streng den
Regeln des Gesetzes unterworfen ist. Jedweder Verstoß ist zu ahnden. Jedweder
Verdacht eines solchen Verstoßes ist umgehend, ernsthaft und unabhängig zu
prüfen und Transparenz herzustellen. Zuletzt griff das ARD-Magazin „Panorama“
vom 5. Juni 2012 Beispiele von Polizeiübergriffen auf (http://daserste.ndr.de/
panorama/archiv/2012/polizeigewalt103.html). In Berichten des UN-Men-
schenrechtsausschusses, des UN-Ausschusses und der Europaratskommission
zur Verhinderung von Folter und erniedrigender Behandlung oder Strafe wird
regelmäßig die Anwendung ungesetzlicher und unverhältnismäßiger Polizeige-
walt in Deutschland kritisiert und auf rassistische Formen von Polizeigewalt
hingewiesen (Bericht des Europaratskomitees gegen Rassismus und Intoleranz
von 2009, S. 50 f). Allerdings ist die Einstellung von Verfahren gegen tat-
verdächtige Polizeibeamte in Deutschland die Regel (www.taz.de/!45770/).
Während etwa in Großbritannien, Frankreich oder Portugal unabhängige Kom-
missionen für Ermittlungen nach polizeilichen Übergriffen verantwortlich sind,
ist in Deutschland die Polizei auch bei Strafverfahren in eigener Sache zustän-
dig.

Internationale Menschenrechtsorgane haben immer wieder gefordert, in der
Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten in Deutschland ein größeres
Gewicht auf Menschenrechtsbildung, Rassismusbekämpfung und die Identifi-
zierung rassistisch motivierter Straftaten zu legen. Die Morde der nazistischen
Terror-Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und die damit
zusammenhängenden Ermittlungen der Sicherheitsbehörden belegen die Not-
wendigkeit von Forderungen nach einer Weiterentwicklung und Ausweitung der
Menschenrechtsbildung als Baustein antirassistischer Bildungsarbeit und als
Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Polizei, wie sie das Deutsche Institut für
Menschenrechte e. V. erhebt (www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/aktuell/
news/meldung/archive/2011/november/article/pressemitteilung-
rechtsextremistischer-terror-menschenrechtsinstitut-fordert-oeffentliche-
anerken.html?tx_ttnews[day]=18&cHash=eb5dcd4307be72338739905ca90be
8af). Die Vorgänge um die Ermittlungen zu den NSU-Morden legen aber auch
erneut die Notwendigkeit eines Gremiums nahe, das polizeiunabhängig Vor-
würfe gegen die Ermittlungsbehörden untersuchen kann. Vorwürfe gegen die
Polizei, einseitig und in damit diskriminierender Weise zu ermitteln, könnten so
unabhängig geprüft werden.

Auch der bundesweit und darüber hinaus für Aufsehen sorgende Fall von Oury
Jalloh, der im Jahr 2005 in Polizeigewahrsam unter ungeklärten Umständen zu
Tode kam, bekräftigt die Forderung nach einem unabhängigen Untersuchungs-
und Kontrollgremium nachdrücklich. Nach wie vor ist ungeklärt, wie Oury

Jalloh den Brand selbst gelegt haben soll, obwohl er an Händen und Füßen ge-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10685

fesselt war, und wie das Feuerzeug letztlich in die Zelle gelangt sei. „Das, was
hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat und Polizeibeamte, die in einem
besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung
verunmöglicht. All diese Beamten, die uns hier belogen haben[,] sind Beamte,
die als Polizisten in diesem Land nichts zu suchen haben.“ (http://ouryjalloh.
wordpress.com/). Mit diesen Worten machte der Richter Manfred Steinhoff
seinem Unmut über das Aussageverhalten der beteiligten Polizisten Luft, wie er
es auch schon früher im Prozess getan hatte.

Hierbei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. In Bremen behaupteten Poli-
zisten, Laya Alama Condé sei ein Drogendealer und habe Kokain-Kügelchen
verschluckt – mit tödlicher Folge, denn Laya Alama Condé starb im Januar 2005
infolge der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln. Auf nicht eindeutig
geklärte Weise kamen desweiteren N’deye Mareame Sarr, Halim Dener,
Michael Paul Nwabuisi genannt John Achidi, Laye Konde, Zdravko Nikolov
Dimitrov, Aamir Ageeb, Arumugasamy Subramaniam, Dominique Koumadio
in staatlicher bzw. polizeilicher Obhut ums Leben.

Auch im Zusammenhang mit Demonstrationen kam es in den letzten Jahren
mehrfach zu schwerwiegenden/erheblichen Körperverletzungen gegenüber De-
monstranten und Demonstrantinnen durch Polizisten, ohne dass die dafür ver-
antwortlichen Polizisten zur Rechenschaft gezogen wurden (vgl. Amnesty-In-
ternational-Bericht „Täter unbekannt“ 2010). Beispielhaft dafür ist der Fall
eines Teilnehmers einer Demonstration gegen die NPD im Jahr 2006, der von
Polizisten gewaltsam festgenommen und zusammengeschlagen wurde. Der Be-
troffene hatte Anzeige erstattet, das Verfahren gegen die Beamten wurde jedoch
eingestellt. Stattdessen erhoben diese ihrerseits den Vorwurf eines versuchten
Steinwurfs. Aufgrund der Aussagen der Polizisten wurde das Opfer verurteilt.
Im Juli 2010 aufgetauchtes Videomaterial zeigt aber, dass der Verurteilte weder
Widerstand geleistet noch versucht hat, einen Stein zu werfen. Demnach hätten
die Polizeibeamten vor Gericht nicht wahrheitsgemäß ausgesagt (www.taz.de/
!55577/).

Zwar hat Deutschland das UN-Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen
Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung
oder Strafe vom 18. Dezember 2002 (OP-CAT) ratifiziert und ist der darauf
fußenden Verpflichtung zur Einrichtung eines unabhängigen Nationalen Präven-
tionsmechanismus gegen Folter inzwischen nachgekommen. Es ist allerdings
nicht die Aufgabe dieser sog. Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter (Anti-
folterstelle), als Ansprechpartnerin für Betroffene zu fungieren oder Menschen-
rechtsverletzungen außerhalb von Gewahrsamseinrichtungen des Bundes und
der Länder zu untersuchen. Rassistische Diskriminierungen außerhalb des Ge-
wahrsamsbereichs von Polizeistationen, also z. B. im Kontext von Personenkon-
trollen und Identitätsfeststellungen, fallen ebensowenig in den Zuständigkeits-
bereich der Antifolterstelle wie einseitig bestimmte Bevölkerungsgruppen in
den Blick nehmende strafrechtliche Ermittlungen oder gewalttätige Übergriffe
von Polizeibediensteten bei bzw. am Rande von Demonstrationen. Zudem macht
die Untersuchung von Missständen im Gewahrsamsbereich von Polizeistationen
nur einen Teilaspekt des Auftrags der Antifolterstelle aus: Sie ist nicht nur für
die Inspektion von Dienststellen der Länderpolizeien und der Bundespolizei zu-
ständig, sondern auch für (sonstige) Orte der Freiheitsentziehung im Bund und
in den Ländern, also Abschiebehafteinrichtungen, Altenpflegeeinrichtungen,
Einrichtungen der Jugendfürsorge, Justizvollzugsanstalten, Vollzugskliniken des
Maßregelvollzugs, psychiatrische Einrichtungen und Arresteinrichtungen der
Bundeswehr – insgesamt über 2.300 Einrichtungen. Für dieses Aufgabenspek-
trum ist die Antifolterstelle völlig unzureichend ausgestattet, worauf sie selbst in
jedem ihrer bislang zwei Jahresberichte explizit hingewiesen hat; in der Vor-

bemerkung zu ihrem Jahresbericht 2010/2011 findet sich sogar die Sequenz, sie
wolle sich „nicht als Feigenblatt betrachten“ (vgl. www.antifolterstelle.de/

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fileadmin/dateiablage/Dokumente/Berichte/Jahresberichte/Jahresbericht2010-
11.pdf). Im Zeitraum 1. Mai 2010 bis 31. Dezember 2011 hat die Antifolterstelle
gerade einmal 42 Inspektionsbesuche in unterschiedlichen Gewahrsamseinrich-
tungen durchgeführt. Ersichtlich ist die Antifolterstelle daher keine Instanz, die
in der Lage wäre, als Kontrollgremium effektiv und umfassend alle relevanten
Bereiche potentieller polizeilicher Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten.

Ein Beschwerde- und Untersuchungsgremium, das sich mit der Anwendung un-
gesetzlicher und unverhältnismäßiger sowie rassistischer Polizeigewalt beschäf-
tigen soll, muss unabhängig sein, d. h. frei von Einflussnahmen und Weisungen
durch die Polizei, Staatsanwaltschaft, Ministerien oder politisch Verantwortliche.
Eine solche unabhängige Institution kann ein Beauftragter/eine Beauftragte sein,
der – wie von Amnesty International vorgeschlagen (www.amnestypolizei.de/
presse/hintergrund/node/148) – die Polizei auf Defizite und Fehlhandlungen
aufmerksam macht und zu Lösungen für deren Beseitigung beiträgt. Diese Auf-
gabe kann durch die Aufarbeitung von Einzelfällen polizeilichen Fehlverhaltens
erfüllt werden, bei denen sie eigeninitiativ, aufgrund von Beschwerden Betrof-
fener und Zeugen, Medienberichten oder aufgrund von Hinweisen aus der Poli-
zeiorganisation tätig werden kann. In diesem Zusammenhang gibt es eine ganze
Reihe konkreter Vorschläge zur Ausgestaltung solcher Untersuchungsmechanis-
men, bis hin zu Mustergesetzentwürfen z. B. von der Humanistischen Union, die
sich auch an den Beispielen in anderen europäischen Ländern orientieren
(www.humanistische-union.de/fileadmin/hu_upload/doku/2010/
gepolizeibeauftragter_20100702_internet.pdf). Beispiele für derartige Einrich-
tungen auf europäischer Ebene sind der „Menschenrechtsbeirat“ in Österreich,
die „Police Complaints Authority“ in Großbritannien, der „Police Ombudsman“
in Nordirland oder der „Inspecção Geral da Administração“ in Portugal.

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