BT-Drucksache 17/10622

Drohende humanitäre Krise im griechischen Gesundheitssystem und das Engagement des Bundesministeriums für Gesundheit

Vom 6. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10622
17. Wahlperiode 06. 09. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Weinberg, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Yvonne Ploetz, Kathrin
Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Drohende humanitäre Krise im griechischen Gesundheitssystem
und das Engagement des Bundesministeriums für Gesundheit

Die Situation im griechischen Gesundheitssystem ist nach Medieninformatio-
nen dramatisch, es droht eine humanitäre Krise. Für viele Krankenversicherte
besteht bereits heute faktisch kein Versicherungsschutz mehr. Das Kranken-
versicherungssystem ist pleite und zahlt Rechnungen bestenfalls mit langem
Verzug. Deshalb werden in Apotheken Medikamente fast ausschließlich gegen
Barzahlung ausgegeben, viele Ärzte behandeln Patienten nur bei Vorkasse und
in staatlichen Krankenhäusern finden Behandlungen und Operationen nicht
statt, weil es am Nötigsten fehlt – vom Katheter über Verbandmaterial bis
zum Operationsbesteck (vgl. www.news-magazin.at/articles/1226/510/332383/
griechenland-ihr). In den Fällen, in denen die Krankenversicherung noch zahlt,
müssen die Versicherten dennoch mit Mehrkosten rechnen; die Eigenbeteiligung
der Versicherten steigt permanent an. Dies führt dazu, dass viele von ihnen kei-
nen Arzt mehr aufsuchen, teils auch nicht bei schweren Krankheiten. Überhaupt
keine Leistungen erhalten mittlerweile 30 Prozent der Griechen; sie sind nicht
mehr krankenversichert (vgl. www.sueddeutsche.de/wirtschaft/griechenland-
im-freien-fall-1.1288560-4).

Die Sparmaßnahmen, die Griechenland von der Troika (Europäische Kommis-
sion, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) verordnet
wurden, sind die wesentliche Ursache für diese Missstände und drohen die Lage
weiter zu verschärfen. Auf Anweisung der Troika wurde im Herbst 2011 der
Nationale Träger für Gesundheitsdienstleistungen (EOPYY) geschaffen, in die
mehrere Berufskrankenkassen überführt wurden. Die meisten Krankenkassen
waren bereits verschuldet, so dass die EOPYY nun Verbindlichkeiten in Höhe
von ca. 2 Mrd. Euro gegenüber Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Pharma-
konzernen begleichen müsste. Es gibt aber kein Konzept für eine tragfähige Fi-
nanzierung der EOPYY, im Gegenteil: Sie erhält 500 Mio. Euro weniger staatli-
che Zuschüsse als die einzelnen Krankenkassen vor der Fusion (vgl. www.taz.de/
Finanzkrise-in-Griechenland/!94746). Das Bundesministerium für Gesundheit
(BMG) hat mit dem „Memorandum of Understanding“ vom 11. April 2012
aufseiten der EU die Federführung für den Umbau des griechischen Gesund-

heitssystems übernommen. In der zwischen dem BMG, dem griechischen Mi-
nisterium für Gesundheit und soziale Solidarität und der Task Force Griechen-
land der Europäischen Kommission (TFGR) geschlossenen Vereinbarung heißt
es: „Die Hauptaufgabe und Verantwortung des federführenden Staates besteht in
erster Linie darin, die griechischen Behörden bei der Vorbereitung der Gesamt-
struktur und der Strategie zur Umsetzung von Reformen im öffentlichen Ge-
sundheitswesen zu unterstützen“ (vgl. www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/

Drucksache 17/10622 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Pressemitteilungen/2012/2012_02/120411_Anlage_PM_MOU_on_Health_-_
Final_clean.pdf). Die Zusammenarbeit zwischen dem BMG und dem
griechischen Ministerium für Gesundheit und soziale Solidarität ist nicht neu,
bereits im Februar 2011 wurde die „Declaration of Intent“ unterzeichnet.
Zu diesem Anlass erklärte der Staatssekretär im Bundesministerium für Ge-
sundheit, Stefan Kapferer, es ginge darum, „mit substantiellen und wirksamen
Veränderungen in der Organisation des Gesundheitswesens die Effizienz und
Effektivität der medizinischen Versorgung langfristig zu erhöhen“ (vgl. www.
bmg.bund.de/ministerium/presse/pressemitteilungen/2011-01/deutschland-
unterstuetzt-griechenland.html). Angesichts der momentanen Verhältnisse im
griechischen Gesundheitssystem scheint diese Zielsetzung bei Weitem nicht er-
reicht zu sein.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung des griechischen Ge-
sundheitssystems der letzten drei (Krisen-)Jahre unter dem Aspekt der Be-
reitstellung einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle
Einwohnerinnen und Einwohner Griechenlands?

2. Welche konkreten Kooperationen und Maßnahmen sind auf der Grundlage
der „Declaration of Intent“ entstanden, die am 16. Februar 2011 zwischen
dem BMG und dem Ministerium für Gesundheit und soziale Solidarität der
Hellenischen Republik unterzeichnet wurde?
Wie bewertet die Bundesregierung die Durchführung und die Ergebnisse der
einzelnen Maßnahmen?

3. Auf wessen Initiative ist das „Memorandum of Understanding“ zustande
gekommen, dass im April 2012 zwischen dem BMG, der TFGR und dem
griechischen Ministerium für Gesundheit und soziale Solidarität vereinbart
wurde?

4. Welche der im „Memorandum of Understanding“ vereinbarten Maßnahmen
ist auf Initiative der Bundesregierung, welche auf Initiative der griechischen
Regierung und welche auf Initiative der TFGR aufgenommen worden?

5. Welche anderen EU-Mitgliedstaaten sind an dieser Kooperation beteiligt?

6. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Leiters der TFGR, Horst
Reichenbach, dass das übergeordnete Ziel für die Beratung der griechischen
Regierung im Gesundheitswesen die Senkung der Gesundheitsausgaben auf
6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist (DER TAGESSPIEGEL vom
23. März 2012, www.tagesspiegel.de/wirtschaft/griechenland-ist-nicht-die-
ddr/6362542.html)?
a) Wenn ja, welche politische Folgenabschätzung liegt dieser Zielsetzung zu-

grunde?
b) Wenn nein, wie definiert die Bundesregierung ihre Zielsetzungen im Be-

zug auf das Engagement für das griechische Gesundheitssystem?
c) Wie hoch sind die öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben (bitte

getrennt ausweisen) Griechenlands, Deutschlands und nach Kenntnis der
Bundesregierung der anderen EU-Staaten in absoluten Zahlen pro Ein-
wohner und relativ zum BIP derzeit?

7. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Horst Reichenbach, dass ins-
besondere durch einen stärkeren Generikaeinsatz sowie durch Einsparungen
bei Krankenhausverwaltungen das in Frage 5 genannte Ziel zu erreichen sei?

8. Wie hoch sind die öffentlichen und nach Kenntnis der Bundesregierung die

privaten Ausgaben für Arzneimittel und Krankenhäuser Deutschlands und
Griechenlands im Vergleich (in absoluten Zahlen und relativ zum BIP)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10622

9. Welche politische Zielsetzung wurde mit der Schaffung der EOPYY ver-
folgt, wie ist der derzeitige Stand der Umsetzung der Ziele, und wie bewer-
tet die Bundesregierung diesen Stand?
a) Kann die Bundesregierung Presseberichte bestätigen, wonach der

EOPYY nahezu zahlungsunfähig ist und viele Krankenversicherte not-
wendige Medikamente und Behandlungen nicht mehr bzw. nur noch bei
Barzahlung auf eigene Rechnung erhalten?

b) Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung im Rahmen
des „Memorandum of Understanding“, um die drohende Zahlungsun-
fähigkeit der EOPYY zu verhindern?

c) Sollten diesbezüglich keine Maßnahmen geplant sein, warum sieht die
Bundesregierung keine Notwendigkeit, im Hinblick auf die drohende
humanitäre Katastrophe in Griechenland diesbezüglich tätig zu werden,
obwohl der Bundesminister für Gesundheit Daniel Bahr in einer Presse-
erklärung zur Unterzeichnung des „Memorandum of Understanding“ am
20. April 2012 erklärte: „Die Bereitschaft zur Hilfe ist da. Es kommt
jetzt entscheidend auf das Engagement aller Beteiligten an, diese Chan-
cen im Interesse der Patienten zu nutzen“?

d) Welche Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der griechischen
Bevölkerung erwartet die Bundesregierung bei einem dauerhaften Zah-
lungsausfall der EOPYY?

10. Welche strukturellen Reformen beabsichtigt die Bundesregierung Grie-
chenland vorzuschlagen, um für die mittlerweile 30 Prozent der griechi-
schen Bevölkerung, die nicht mehr krankenversichert sind, schnellstmög-
lich wieder einen Versicherungsschutz bereitzustellen?
Wie sollen die sich daraus ergebenden Mehrkosten finanziert werden, wenn
gleichzeitig der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP – bei fallendem
BIP – gesenkt werden sollen?
a) Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung richtig, dass Arbeitslose, die

nach zwölf Monaten den Anspruch auf staatliche Unterstützung ver-
lieren, damit auch aus der Krankenversicherung ausscheiden?

b) Wenn ja, ist diese Regelung aus Sicht der Bundesregierung sinnvoll?

11. Kann die Bundesregierung Presseberichte bestätigen, wonach derzeit nur
noch circa die Hälfte der 500 in Griechenland gängigsten Medikamente pro-
blemlos in Apotheken erhältlich sind (vgl. http://news.in.gr/greece/article/
?aid=1231185106)?

12. Welche Beratungsleistungen und Maßnahmen beabsichtigt die Bundes-
regierung im Bereich der Einführung von „Diagnosebezogenen Fallgrup-
pen“ (DRGs) der griechischen Regierung vorzuschlagen?
a) Welche politische Folgenabschätzung liegt den angestrebten Beratungs-

leistungen und Maßnahmen zugrunde?
b) Welche Auswirkungen auf die Krankenhausversorgung in Griechenland

erwartet die Bundesregierung durch die Einführung von DRGs?
c) Inwieweit sind die Auswirkungen der DRGs in der Bundesrepublik

Deutschland evaluiert, und auf welcher Grundlage ist die Bundesregie-
rung zu der Einschätzung gekommen, dass DRGs für die Umstrukturie-
rung der griechischen Krankenhausversorgung geeignet sind?

d) Welche sozialpolitischen Auswirkungen erwartet die Bundesregierung
bei Durchführung der von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen zur Einfüh-
rung von DRGs?

e) Welche finanziellen Auswirkungen hätte die Einführung von DRGs auf

öffentliche und private Krankenhäuser sowie auf den EOPYY?

Drucksache 17/10622 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

f) Womit ist belegt, dass DRGs eine effizientere Mittelverwendung
fördern?

g) Wie funktioniert derzeit die Krankenhausfinanzierung in Griechenland?

13. Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung im Bereich der
Arzneimittelversorgung und -preisgestaltung der griechischen Regierung
vorzuschlagen?
a) Welche politische Folgenabschätzung liegt den angestrebten Beratungs-

leistungen und Maßnahmen zugrunde?
b) Inwieweit sind die angestrebten Beratungsleistungen und Maßnahmen

geeignet, die derzeitige Situation bei der Arzneimittelversorgung zu ver-
bessern?

c) Welche sozialpolitischen Auswirkungen, beispielsweise bei einer etwa-
igen Erhöhung der Selbstbeteiligung für Arzneimittel, erwartet die Bun-
desregierung bei Durchführung der von ihr vorgeschlagenen Maßnah-
men?

14. Zu welchen Ergebnissen sind die Expertengutachten und -besuche gekom-
men, die im „Memorandum of Understanding“ vereinbart wurden und auf
deren Grundlage der Aktionsplan für die Unterstützung der griechischen
Regierung durch das BMG und die TFGR bestimmt werden sollten?
Wie ist der genaue Stand dieses Aktionsplans, welche Schritte sind bereits
festgelegt, welche sind anvisiert?

15. Welche sonstigen gesundheitspolitischen Schwerpunkte wurden für die
beratende Unterstützung, die Griechenland vom BMG, der TFGR und wei-
teren EU-Mitgliedstaaten erhalten soll, festgelegt?

16. In welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung, die im „Memorandum
of Understanding“ vereinbarten Kooperationsvorhaben zu betreuen bezie-
hungsweise zu überwachen?
Welche Maßnahmen sind für den Fall vorgesehen, wenn die vereinbarten
Kooperationen vonseiten der griechischen Regierung nicht eingehalten
werden?

17. Welche öffentlichen Einrichtungen des deutschen Gesundheitssystems sind
an Beratungsinitiativen beteiligt bzw. sollen beteiligt werden?
Erhalten die Einrichtungen für ihre Beratungstätigkeit Geld?
Wenn ja, von wem?

18. Welche privaten Unternehmen sind an Beratungsinitiativen beteiligt bzw.
sollen beteiligt werden?
a) Erhalten die Unternehmen für ihre Beratungstätigkeit Vergütungen?

Wenn ja, von wem?
b) In welchen Ländern haben die beteiligten Unternehmen ihren Hauptsitz?

19. Welche Positionen nehmen die Parteien im griechischen Parlament zur
Führungsfunktion des BMG bei den Strukturreformen des griechischen Ge-
sundheitssystems ein?

20. Bedürfen die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Strukturreformen
der Zustimmung durch das griechische Parlament?
a) Wenn nicht alle Reformen zustimmungbedürftig sind, welche sind es

nicht?
b) Gibt es bereits verabschiedete Gesetze oder Verordnungen, die der

deutsch-griechischen Zusammenarbeit entsprungen sind, und wenn ja,
welchen Inhalts sind diese?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10622

21. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit die Zuzahlungen
in Griechenland bei Medikamenten, Arztbesuch, Krankenhausaufenthalt,
Heil- und Hilfsmitteln, Zahnarztbesuch, Psychotherapie, Krankentransport
und Rettungsdienst?
Gibt es Befreiungen für soziale Härtefälle?
Welche Änderungen sind geplant?

22. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung das durchschnittliche
Nettoeinkommen in Griechenland?
Wie hoch ist die durchschnittliche Rente?
Wie hoch sind die Sozialleistungen für Kurz- und Langzeitarbeitslose, und
wie hoch ist die Arbeitslosenquote sowie die Armutsrisikoquote?

Berlin, den 6. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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