BT-Drucksache 17/10264

Nigeria: Aktuelle Entwicklung um Boko Haram

Vom 2. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10264
17. Wahlperiode 02. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Ute Koczy,
Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Tom Koenigs,
Omid Nouripour, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Dr. Frithjof Schmidt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nigeria: Aktuelle Entwicklung um Boko Haram

Seit vielen Monaten kommt es vor allem im muslimisch geprägten Norden
Nigerias im Bundesstaat Borno immer wieder zu blutigen Anschlägen der fun-
damental islamistischen Terrorgruppe Boko Haram mit vielen Toten und Ver-
letzen. Die nigerianische Regierung hat seit Jahren große Schwierigkeiten, der
Lage Herr zu werden. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen durch Polizei und
Militär gelingt es Boko Haram immer wieder, Ziele wie Kirchen, Moscheen,
Polizeistationen, Schulen, Märkte und am 26. August 2011 sogar das Haupt-
quartier der Vereinten Nationen in der Hauptstadt Abuja anzugreifen.

Erste Aktivitäten Boko Harams sind seit 2002 registriert. Allerdings hat die Zu-
nahme der Gewalttaten (vor allem in Maiduguri, Bundesstaat Borno) erst 2009
begonnen, nachdem der damalige Anführer der Gruppe, Ustaz Mohammed
Yusuf, in Polizeigewahrsam von Sicherheitskräften unter bis heute nicht voll-
ständig geklärten Umständen getötet wurde. Seitdem erhebt Boko Haram im-
mer wieder Vorwürfe gegen die nigerianischen Sicherheitsbehörden, diese wür-
den Mitglieder ihrer Gruppe illegal hinrichten.

Die Gründe für den Feldzug der islamistischen Terrorgruppe sind auch – aber
nicht allein – religiöse. Zwar strebt Boko Haram u. a. an, im säkularen nigeria-
nischen Staat Elemente einer islamischen Ideologie durchzusetzen – mithin die
Einführung der Scharia im ganzen Land. Inzwischen soll sie sogar fordern, dass
sämtliche Christen im Norden des Landes den muslimischen Glauben anneh-
men müssten. Die in deutschen Medienberichten zuweilen als „Christenverfol-
gung“ wahrgenommenen Gewalttaten (vgl. beispielsweise Frankfurter Allge-
meine Zeitung vom 27. Dezember 2011, S. 8, DER SPIEGEL vom 2. Januar
2012, S. 78, Süddeutsche Zeitung vom 24. Januar 2012, S. 4) sind aber auch
terroristische Angriffe auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und de-
ren Einrichtungen. So wurden beispielsweise muslimische Menschen und
Moscheen ebenfalls gezielt zu Anschlagszielen von Boko Haram. Neben reli-

giösen Motiven bilden zudem politische, regionale, ethnische, soziale und kul-
turelle Aspekte den Hintergrund für die terroristischen Gewalttaten. Boko
Haram, was soviel heißt wie „Westliche Bildung ist Sünde“, sieht den west-
lichen Lebenstil als Wurzel der politischen Missstände im Land und bekämpft
ihn vehement.

Drucksache 17/10264 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Seit Dezember 2011 hat sich die Lage insbesondere im Norden des Landes dra-
matisch verschlechtert. Nach Anschlägen auf christliche Kirchen an den Weih-
nachtsfeiertagen gibt es ständig neue Nachrichten über Bombenexplosionen,
Selbstmordattentate und Drive-By-Shootings. Allein im Jahr 2011 wird Boko
Haram für mindestens 510 Morde verantwortlich gemacht und auch im laufen-
den Jahr sind bei Anschlägen bereits mehrere hundert Menschen ums Leben ge-
kommen

Die nigerianische Regierung setzt zur Bekämpfung der Gruppe – bisher wenig
erfolgreich – weiterhin auf militärische Mittel, anstatt die Ursachen des Pro-
blems anzugehen. Bei vielen Nigerianerinnen und Nigerianern schwindet daher
das Vertrauen in die Regierung um Präsident Dr. Goodluck Jonathan. Beim
Besuch Dr. Goodluck Jonathans in Berlin im April 2012 sagte Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel dem westafrikanischen Staat Unterstützung im Anti-Terror-
kampf in Form von Experten und logistischer Hilfe zu (dpa, 19. April 2012). Die
beiden Regierungschefs beschlossen außerdem verstärkte Zusammenarbeit im
Wirtschafts- und Energiebereich.

Die anhaltend schlechte Sicherheitslage könnte ausländische Investoren und in
Nigeria tätige Unternehmen abschrecken und dazu verleiten, sich aus dem Land
zurückzuziehen bzw. sich gar nicht erst dort zu engagieren. Anfang des Jahres
2012 wurde der deutsche Ingenieur R., Mitarbeiter eines deutschen Bauunter-
nehmens, in Kano entführt. Ende Mai 2012 wurde er vermutlich bei einem Ein-
satz der nigerianischen Sicherheitsbehörden zur Festnahme von mutmaßlichen
Terroristen tot aufgefunden.

Inzwischen soll sich Boko Haram in drei Fraktionen aufgespalten haben. Es gilt
als wahrscheinlich, dass Teile über internationale Kontakte zu den Al-Schabaab-
Milizen aus Somalia bzw. dem afrikanischen Flügel von Al-Qaida im Islami-
schen Maghreb (AQMI) verfügen und von diesen bei der Ausbildung von Mit-
gliedern und Beschaffung von Waffen Unterstützung erhalten.

Es besteht Anlass zur Sorge, dass Nigeria in einen Bürgerkrieg abgleitet und
sich die Aktivitäten Boko Harams auf die Region, insbesondere auf die nörd-
lichen Nachbarstaaten wie Tschad und Niger ausweiten. Zudem soll die Gruppe
nach neuesten Berichten auch in den Konflikt im Norden des Nachbarlandes
Mali involviert sein.

Nigeria ist in der Region (ECOWAS) und auf dem afrikanischen Kontinent
(Afrikanische Union) einer der zentralen Akteure für Frieden, Stabilität und
Integration. Eine weitere Destabilisierung des bevölkerungsreichsten Landes
Afrikas hätte daher auch aus diesem Grund erhebliche Auswirkungen weit über
die Grenzen des Landes hinaus.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Umstände und den
Ablauf des Einsatzes der nigerianischen Sicherheitskräfte, bei dem der deut-
sche Staatsbürger R. Ende Mai 2012 in Kano tot aufgefunden wurde, und
darüber, wie und von wem die Geisel getötet wurde?

2. Treffen Berichte zu, dass die Bundesregierung ihr Einverständnis für einen
gewaltsamen Befreiungsversuch des Entführten R. durch nigerianische
Sicherheitskräfte gab (Meldung AFP, 12. Juni 2012)?

3. Hat es vor der Geiselnahme Warnungen vor Entführungen gegeben, und wie
haben deutsche Stellen darauf reagiert?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10264

4. Welche Bemühungen hatte die Bundesregierung unternommen, um nach
der Geiselnahme die deutsche Geisel freizubekommen?

Gab es konkrete Forderungen der Geiselnehmer für die Freilassung?

Wenn ja, welche im Laufe der Geiselhaft, und wie hat die Bundesregierung
reagiert?

5. Hatte die Bundesregierung Vermittler beauftragt?

6. Hat sich nach Einschätzung der Bundesregierung die generelle Sicherheits-
lage in Nigeria in den letzten sechs Monaten verschlechtert?

Wenn ja, wie reagiert die Bundesregierung darauf, besonders in Bezug auf
eine Gefährdung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von deutschen
Firmen, der Botschaft, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit (Deutsche Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, KfW Bankengruppe) usw.?

7. Sieht die Bundesregierung die nigerianische Armutsbekämpfungsstrategie
und die deutsch-nigerianische Entwicklungszusammenarbeit durch die an-
gespannte Sicherheitslage in Nigeria in Gefahr?

a) War die Sicherheitslage Gegenstand der letzten deutsch-nigerianischen
Regierungsverhandlungen?

Wenn ja, was wurde dahingehend vereinbart?

b) Sind der Bundesregierung Bedrohungen von Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder deren Part-
nerorganisationen bekannt?

Wenn ja, um welche handelt es sich?

8. Welche politischen, religiösen, regionalen, ethnischen, sozialen, kulturellen
oder gegebenenfalls anderen Hintergründe haben die terroristischen Ge-
walttaten Boko Harams nach Wissen der Bundesregierung?

9. In welche kriminellen Aktivitäten ist Boko Haram nach Wissen der
Bundesregierung involviert (beispielsweise Menschenhandel, Drogen-
schmuggel o. Ä.)?

10. Richtet sich die von Boko Haram ausgeübte Gewalt besonders stark gegen
einzelne religiöse, politische, ethnische oder soziale Gruppierungen und
deren Einrichtungen?

Wenn ja, gegen welche?

Treffen Medienberichte (s. o.) zu, dass insbesondere Christinnen und
Christen sowie deren Kirchen Opfer und Anschlagziele von Boko Haram
werden?

11. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über Verbindungen Boko Harams
zu anderen international agierenden Terrororganisationen?

Wenn ja, welche (bitte auch auf mögliche lokal agierende Partnerorganisa-
tionen internationaler Netzwerke eingehen)?

12. Welche Informationen hat die Bundesregierung dazu, woher Boko Haram
sein erweitertes „Know-how“, von Drive-by-shootings zu Hightechbomben
(Anschlag auf das UN-Hauptquartier), bezieht?

13. Teilt die Bundesregierung die Bewertung US-amerikanischer Sicherheits-
behörden, dass von Boko Haram auch eine Gefahr für westliche Ziele
außerhalb Nigerias ausgeht?

a) Wenn ja, wie geht die Bundesregierung mit dieser Bedrohung um?
b) Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/10264 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

14. Hat die Bundesregierung Hinweise darauf, dass Boko Haram über libysche
Rebellen auch an deutsche Waffen aus Muammar al-Gaddafis Beständen
gelangt ist?

Wenn nein, woher stammt die Bewaffnung Boko Harams nach Kenntnis
der Bundesregierung?

15. Hat die Bundesregierung Hinweise darauf, dass die nigerianische Polizei
bzw. das Militär Mitglieder der Gruppe Boko Harams illegal hingerichtet
hat oder andere Menschenrechtsverbrechen begangen hat?

16. Welche Unterstützung hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim
Besuch des nigerianischen Präsidenten Dr. Goodluck Jonathan zur Be-
kämpfung Boko Harams konkret zugesagt?

Handelt es sich auch um personelle Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe?

Welchen Umfang hat die Hilfe konkret und finanziell?

17. Sieht die Bundesregierung die derzeitige nigerianische Regierung unter
Präsident Dr. Goodluck Jonathan in der Lage, Boko Haram kurz- und lang-
fristig Einhalt zu gebieten?

Wie beurteilt die Bundesregierung angebliche Versicherungen des Präsi-
denten, Boko Haram werde bis Ende Juni 2012 besiegt sein – insbesondere
angesichts der Anschläge der letzten Tage?

18. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, woher Boko Haram seine
(finanziellen) Mittel bezieht?

Wie schätzt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang den generellen
Rückhalt für die Gruppe und ihre Taten in der nordnigerianischen Bevölke-
rung ein?

19. Wie reagiert die Bundesregierung auf die Gefahr der Instabilität der gesam-
ten Region aufgrund der Situation in Nigeria und verstärkt durch die Ent-
wicklungen in Libyen und Mali?

20. Welche Verbindungen unterhält Boko Haram nach Wissen der Bundes-
regierung zu Rebellengruppen im Norden Malis, zu den Tuareg der MNLA
(Mouvement National pour la Libération de l’Azawad) bzw. zu den isla-
mistischen Ansar Dine?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die fortschreitende Destabilisierung
Nigerias im Hinblick auf Frieden und Stabilität in der Region und auf dem
afrikanischen Kontinent insgesamt? Sieht die Bundesregierung in Nigeria
einen Fall für Maßnahmen der Prävention im Rahmen ihrer und Europas
Schutzverantwortung (Responsibility to protect)?

22. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Aktivitäten Boko
Harams außerhalb Nigerias, insbesondere im Norden Malis?

23. Welche Verbindungen unterhält Boko Haram nach Wissen der Bundes-
regierung zu Regierungen oder staatlichen Institutionen anderer Länder der
Region?

24. Plant die Bundesregierung die Entwicklung eines strategischen ressort-
übergreifenden Konzeptes für den Umgang mit den Problemen in der
Region bzw. für die Region?

25. Wie soll die beim Besuch von Präsident Dr. Goodluck Jonathan in Berlin
im April 2012 auch zugesagte verstärkte Zusammenarbeit der Bundesrepu-
blik Deutschland und Nigeria in den Bereichen Wirtschaft und Energie
konkret aussehen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10264

26. Welche Möglichkeiten der gerechteren Verteilung des Reichtums, der
Bekämpfung der Korruption und der Entwicklung des Landes, gerade im
Norden, wurden bei diesem Treffen erörtert?

Welche Unterstützung zur Erreichung dieser Ziele können die Bundesrepu-
blik Deutschland und die Europäische Union leisten, und gibt es Pläne für
die Realisierung solcher Maßnahmen?

27. In welcher Form und Höhe bestehen Lieferbindungen in der deutsch-
nigerianischen Entwicklungszusammenarbeit?

28. In welcher Form fördert die Bundesregierung deutsche Unternehmen für
ein Engagement in Nigeria, und mit welchen Problemen ist sie in diesem
Zusammenhang konfrontiert?

Berlin, den 2. Juli 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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