BT-Drucksache 17/10068

NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten - Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen - Erinnerungsarbeit koordinieren

Vom 25. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10068
17. Wahlperiode 25. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger, Friedrich Ostendorff,
Agnes Krumwiede, Tabea Rößner, Ekin Deligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, Krista
Sager, Ulrich Schneider, Memet Kilic und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden systematisch aufarbeiten –
Bestandsaufnahme zur Forschung erstellen – Erinnerungsarbeit koordinieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Expertenanhörung zum Thema Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von
Bundesministerien und Behörden, die der Ausschuss für Kultur und Medien
des Deutschen Bundestages gemäß den Anträgen auf den Bundestagsdruck-
sachen 17/6297, 17/6318, 17/4696 und 17/3748 durchführte, brachte zur Sprache,
welche Mühen nötig waren, um nach der NS-Zeit die Demokratie in der Bun-
desrepublik Deutschland zu etablieren. Wichtige Anstöße zur Thematisierung
und demokratischen Aufarbeitung der NS-Zeit kamen aus der kritischen
Öffentlichkeit und von einzelnen Vertretern der Justiz und gerade nicht von
Bürokratien in Bundesministerien und Behörden, die durch große personelle
Kontinuitäten gekennzeichnet waren.

Auslöser der aktuellen parlamentarischen Behandlung der Frage war die vom
damaligen Bundesaußenminister Joseph Fischer initiierte Studie zur Vergangen-
heit des Auswärtigen Amts, die im Jahr 2010 unter dem Titel „Das Amt und die
Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundes-
republik“ veröffentlicht wurde. Die Studie verdeutlichte schlaglichtartig, wie
viel Arbeit bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der Kontinuitäten
und Brüche in Bundesministerien und Behörden auch heute noch zu leisten ist.
Seit der Veröffentlichung der Studie hat die laufende Forschung zudem drama-
tische Fälle aufgedeckt: etwa die frühe Kenntnis des Aufenthaltsortes von Adolf
Eichmann, die der Bundesnachrichtendienst bzw. seine Vorläuferorganisation
hatte, ohne etwas zur Ergreifung von Adolf Eichmann zu unternehmen. Oder
den Fall von Klaus Barbie, des sogenannten Schlächters von Lyon, der sogar
als BND-Mitarbeiter fungierte (vgl. den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN zum Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen
Klaus Barbie und Adolf Eichmann und zur Verantwortlichkeit der Bundesregie-
rung, Bundestagsdrucksache 17/4586).
Nicht zuletzt solche Forschungsergebnisse zeigen, dass ein systematisches und
koordiniertes Vorgehen bei der Aufarbeitung der Geschichte der Bundesminis-
terien und Behörden dringend nötig ist. Als Grundlage und Orientierung hierfür
benötigen das Parlament und die Bundesregierung eine Bestandsaufnahme zur
Forschungslage. Diese soll einen Überblick über die laufenden und abgeschlos-
senen Einzel- und Querschnittsforschungen sowie über biographische und in-

Drucksache 17/10068 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

stitutionengeschichtliche Fragestellungen und Ergebnisse liefern. Gleichzeitig
soll sie einen Überblick über die noch zu schließenden Lücken bei der weiteren
Erforschung der institutionellen und personellen Kontinuitäten und Brüche mit
Blick auf die NS-Vergangenheit von Behörden und Bundesministerien liefern.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/4344) zur Vorge-
schichte von Bundesministerien, Botschaften und obersten Bundesbehörden in
der NS-Zeit reicht hier keinesfalls aus. Wir brauchen eine umfassende Auf-
arbeitung und Kenntnisnahme des Forschungsstandes und der relevanten For-
schungsperspektiven auf diesem Feld. Das ist auch von großer Bedeutung für
die demokratische Selbstvergewisserung unserer staatlichen Institutionen. Zur
Unterstützung der Forschungsarbeit sollte die von Wissenschaftlern ange-
mahnte Erleichterung des Zugangs zu den Archiven von Bundesministerien
und Behörden gewährleistet werden (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestags-
drucksache 17/4339).

Auch mit den bereits vorliegenden Forschungsergebnissen muss verantwor-
tungsvoll umgegangen werden. Wie viel hier noch im Argen liegt, zeigt der Um-
stand, dass das 2005 von der damaligen Verbraucherschutzministerin Renate
Künast in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten „Rasse, Raum und
Autarkie“ zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft
in der NS-Zeit erst 2011 nach scharfer öffentlicher Kritik veröffentlicht wurde.
Ein zweites Gutachten zu personellen Kontinuitäten liegt noch immer unter Ver-
schluss (vgl. hierzu den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Bundestagsdrucksache 17/4696).

Für die weiterführende Aufarbeitung und den Umgang mit den Ergebnissen der
Forschungen ist ein Koordinierungsgremium auf Bundesebene nötig. Ein sol-
ches Gremium soll beim für die Erinnerungskultur zuständigen Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien unter breiter Einbeziehung des
Deutschen Bundestages und insbesondere des Ausschusses für Kultur und
Medien angesiedelt sein. Das Koordinierungsgremium soll Kriterien zum Um-
gang mit den Forschungsergebnissen in der vom Bund geförderten Erinne-
rungskultur entwickeln und diese auch in Konzepte für die Aus- und Weiterbil-
dung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und die Selbstdarstellung und Öf-
fentlichkeitsarbeit der Bundesministerien und Behörden einfließen lassen.
Auch die Zusammenarbeit mit Bundesministerien, Behörden und sonstigen
Institutionen in den Ländern und Kommunen soll von diesem Koordinations-
gremium angeregt und unterstützt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Forschungsauftrag zu vergeben, der einen Überblick über die laufen-
den und abgeschlossenen Forschungen zu Kontinuitäten und Brüchen in
Bundesministerien und Behörden mit Blick auf die NS-Zeit gibt und noch zu
schließende Lücken in der Forschung aufzeigt;

2. unter breiter Einbeziehung des Deutschen Bundestages und insbesondere
des Ausschusses für Kultur und Medien ein Koordinierungsgremium beim
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien einzurichten, das

– die Erinnerungsarbeit im Zusammenhang mit der NS-Geschichte von
Bundesministerien und Behörden koordiniert,

– Kriterien für einen systematischen Umgang mit den Ergebnissen der For-
schungen in den Bundesministerien und Behörden ausarbeitet,

– Vorschläge für die Nutzung der Ergebnisse in der Aus- und Weiterbil-

dung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Selbstdarstellung

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10068

und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesministerien und Behörden entwi-
ckelt sowie

– die Zusammenarbeit bei diesem Thema mit Bundesministerien, Behörden
und sonstigen Institutionen in den Ländern und Kommunen anregt und
unterstützt.

Berlin, den 25. Juni 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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