BT-Drucksache 16/9761

Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten - Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben

Vom 25. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9761
16. Wahlperiode 25. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Winfried Nachtwei,
Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten –
Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der Entführung des deutschen Frachters MV Lehmann Timber wird auch in
Deutschland verstärkt die Debatte über die bereits 2005 angestiegene Piraterie
vor der Küste Somalias und die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der
deutschen Marinekräfte geführt, die im Rahmen des OEF-Mandats am Horn von
Afrika im Einsatz sind. Der UN-Sicherheitsrat hat auf die Piraterie vor der so-
malischen Küste am 2. Juni 2008 mit Resolution 1816 reagiert.

Diese Debatte über Wege zur Eindämmung der von den Piraten ausgehenden
Gewalt und der Beeinträchtigungen internationaler Handelswege ist notwendig.
Verschiedene rechtliche Aspekte des internationalen und Völkerrechts sowie des
deutschen Verfassungsrechts sind darin zu berücksichtigen und gegeneinander
abzuwägen.

Die Piraterie vor der somalischen Küste ist jedoch nur ein Symptom von für
Piraterie typischen Ursachenfaktoren: Das Zusammentreffen von Gewaltkon-
flikten und Staatsversagen in Küstenstaaten, die an wichtigen Seehandelswegen
liegen. Direkte Maßnahmen gegen Piraterie reichen nicht aus, da sie deren Ur-
sachen nicht beseitigen können.

Stattdessen sind umfassende und zugleich gezielte politische Schritte zur Lö-
sung des Somalia-Konflikts notwendig, die dessen Einbettung in regionale Kon-
fliktkonstellationen gerecht werden. Nur so wird die Wiederherstellung des
staatlichen Gewaltmonopols in Somalia möglich werden, das als Paradebeispiel
von Staatsversagen gilt. Als schlimmste Situation auf dem gesamten afrikani-
schen Kontinent bezeichnet Ahmedou Ould-Abdallah, der Sonderbeauftragte
des UN-Generalsekretärs für Somalia, die Lage in dem Land am Horn von
Afrika. Bis zu 700 000 Menschen sind allein aus der Hauptstadt Mogadischu

geflohen, in den ersten Monaten des Jahres 2008 waren es über 50 000. Men-
schenrechtsorganisationen berichten von schweren Verletzungen des Völker-
rechts durch alle Konfliktparteien.

Die Piraterie ist auch eine Folge der Destabilisierung Somalias für die in jüngs-
ter Zeit auch die Anwesenheit der äthiopischen Armee mitursächlich ist. Sie
wird von der somalischen Bevölkerung weithin als Gegner und Besatzer wahr-
genommen. Unter der Herrschaft der Union Islamischer Gerichte (UIC) war es

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gelungen, die Piraterie einzudämmen. Seit dem Einmarsch der äthiopischen
Armee und der Bekämpfung der UIC hat sich die Lage aber kontinuierlich de-
stabilisiert und die Piraterie wieder zugenommen. Da inzwischen die äthio-
pische Armee eher Teil des Problems, als Teil der Lösung geworden ist, ist ein
Rückzug der äthiopischen Armee dringend geboten.

Die Bundesregierung ist bereits vor einem Jahr, am 21. Juni 2007, durch den
Deutschen Bundestag aufgefordert worden, diesbezüglich zielende Konfliktslö-
sungsschritte zu ergreifen. Der „Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses zum Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Bundestagsdrucksache 16/4759) ‚Politische Lösungen sind Voraussetzung für
Frieden in Somalia‘“ (Bundestagsdrucksache 16/5754) wurde von allen Fraktio-
nen des Deutschen Bundestages zugestimmt. Seit einem Jahr ist die Bundes-
regierung somit aufgefordert, an Initiativen zur Lösung des Grenzkonflikts zwi-
schen Eritrea und Äthiopien mitzuwirken, auf einen regionalen Dialog zum
Ausgleich von Sicherheitsinteressen hinzuwirken, aktiv zur EU-Partnerschaft
mit dem Horn von Afrika beizutragen sowie auf einen Dialogprozess hinzuwir-
ken, der die Bildung einer repräsentativen Regierung der nationalen Einheit so-
wie eine Übereinkunft über die innersomalische Akzeptanz von AMISOM zum
Ziel hat. Die Bundesregierung wurde in der Beschlussempfehlung weiterhin
aufgefordert, dazu beizutragen, dass AMISOM auf einer solchen Basis entsandt
werden kann und als unparteiisch wahrgenommen wird, sich für einen differen-
zierten Umgang mit dem politischen Islam einzusetzen, Maßnahmen gegen die
Verletzung des UN-Waffenembargos zu ergreifen, die Initiative für einen Wie-
deraufbauplan zu ergreifen, Somalia in Aussicht zu stellen, Kooperationsland
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu werden, sobald eine breit
akzeptierte Übergangsregierung errichtet ist, sowie Gefahren für die Stabilität
Somalilands abzuwenden.

Die Aufforderungen des Deutschen Bundestags an die Bundesregierung in der
sog. Somalia-Beschlussempfehlung (Bundestagsdrucksache 16/5754) sind wei-
testgehend verhallt. Dessen Forderungen sind in weiten Teilen nach wie vor
aktuell bzw. dringlicher als zuvor. In der Antwort auf die schriftliche Frage
der Abgeordneten Dr. Uschi Eid vom 29. November 2007 (Bundestagsdruck-
sache 16/7374, Nr. 3), was die Bundesregierung zur Umsetzung getan hat, wird
deutlich, dass die Bundesregierung in der Mehrzahl der Forderungspunkte über
eigene Aktivitäten nichts zu berichten weiß.

Das am 9. Juni 2008 unter der Schirmherrschaft des Sonderbeauftragten des
UN-Generalsekretärs für Somalia in Dschibuti geschlossene Übereinkommen
zwischen der somalischen Übergansregierung und der „Allianz zur Wiederbe-
freiung von Somalia“ (ARS), einer breiten Allianz somalischer Oppositions-
kräfte ist eine herausragende, wenn auch fragile Chance für Somalia, die es zu
nutzen gilt. Das Übereinkommen beinhaltet eine Waffenstillstandsvereinbarung,
die Übereinkunft, die Vereinten Nationen aufzufordern, binnen 120 Tagen eine
internationale Stabilisierungstruppe zu entsenden, um den Abzug der äthiopi-
schen Truppen möglich zu machen. Der UN-Sicherheitsrat hatte in Resolution
1814 vom 15. Mai 2008 seine Bereitschaft erklärt, eine Friedensmission der UN
in Erwägung zu ziehen, in Abhängigkeit von Fortschritten im politischen Pro-
zess und einer Verbesserung der Sicherheitsbedingungen vor Ort. Das Überein-
kommen vom 9. Juni beinhaltet weiterhin die Zusage der ARS, sich öffentlich
von Kräften loszusagen, die das geschlossene Übereinkommen nicht befolgen,
den ungehinderten humanitären Zugang, die Einrichtung eines gemeinsamen
Sicherheitskomitees und eines hochrangigen Komitees unter dem Vorsitz der
UN einzurichten, das Fragen der politischen Kooperation zwischen den Parteien
sowie der Gerechtigkeit und Versöhnung weiterverfolgt. Es ruft die internatio-
nale Gemeinschaft auf, Ressourcen zur Implementierung zur Verfügung zu stel-

len und innerhalb der nächsten sechs Monate eine internationale Wiederaufbau-
konferenz für Somalia einzuberufen.

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Die Umsetzung des AMISOM-Mandats steht seit geraumer Zeit still, weil die
Zusagen afrikanischer Staaten nicht eingehalten wurden. Die Übereinkunft vom
9. Juni könnte eine breite Akzeptanz einer Friedensmisssion in der somalischen
Bevölkerung deutlich befördern, die Sicherheitslage verbessern und damit auch
die Bereitschaft befördern, Truppen für eine Friedensmission zu stellen. Die
Umsetzung dieser Übereinkunft drängt, auch in der Entsendung einer Friedens-
mission der Vereinten Nationen. In der Zwischenzeit muss AMISOM gestärkt
werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Somalia-Konflikt zu einer Priorität ihrer Afrikapolitik zu machen und
die Chance, die das Übereinkommen vom 9. Juni bietet, entschlossen zu
nutzen,

2. den Bundestagsbeschluss (Bundestagsdrucksache 16/5754) endlich umzu-
setzen, dessen Forderungen in weiten Teilen nach wie vor aktuell bzw.
dringlicher und erfolgversprechender als zuvor sind,

3. aktiv an bereits eingeleiteten Initiativen mitzuwirken, den Konflikt zwi-
schen Äthiopien und Eritrea einer dauerhaften friedlichen Lösung zuzufüh-
ren, Äthiopien zur Anerkennung der im April 2002 von der internationalen
Grenzkommission festgelegten Grenze zu bewegen und wieder konstruk-
tive zwischenstaatliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu
etablieren, nachdem sich zwischenzeitlich die Situation der äthiopisch-
eritreischen Grenze zugespitzt hat und die internationale Grenzkommission
im November 2007 ihre Arbeit eingestellt hat, nachdem ein Einvernehmen
zwischen beiden Staaten nicht zu erzielen war,

4. auf einen regionalen Dialog zwischen Nachbarstaaten und Regionalmäch-
ten hinzuwirken, in dem die Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten
aufgegriffen werden,

5. dem Sondergesandten für Somalia des UN-Generalsekretärs die aktive
Unterstützung der Bundesregierung anzubieten, insbesondere in Bezug auf
das Übereinkommen der somalischen Übergansregierung und der ARS vom
9. Juni,

6. mit dazu beizutragen, dass die äthiopische Armee sich schnellstmöglich aus
Somalia zurückzieht,

7. dazu beizutragen, dass eine Stabilisierungstruppe der Vereinten Nationen
bzw. zwischenzeitlich AMISOM auf der Grundlage der Übereinkunft vom
9. Juni und einer breiten innersomalischen Akzeptanz einer solchen Mis-
sion schnell und vollständig entsandt werden kann, adäquat finanziert und
ausgerüstet ist und ihrer Zusammensetzung nach als unparteiisch wahr-
genommen wird,

8. dem Sondergesandten des UN-Generalsekretärs anzubieten, dass die Bun-
desrepublik Deutschland die Initiative zur Ausarbeitung eines finanziell an-
gemessen ausgestatteten, konfliktsensiblen internationalen Wiederaufbau-
plans ergreift,

9. Somalia in Aussicht zu stellen, es in die Liste der Kooperationsländer für
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit aufzunehmen und Verhandlun-
gen über wirtschaftliche, sicherheitspolitische und entwicklungspolitische
Kooperation aufzunehmen, nachdem eine von allen maßgeblichen politi-
schen Kräften getragene Übergangsregierung errichtet ist,

10. deutlich zu machen, dass sie alles dafür tun wird, dass Verletzungen des

Menschen- und Völkerrechts nicht straflos bleiben, und sich für einen
ungehinderten humanitären Zugang einzusetzen,

Drucksache 16/9761 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
11. darauf hinzuwirken, Gefährdungen für die Stabilität Somalilands entgegen-
zuwirken.

Berlin, den 25. Juni 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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