BT-Drucksache 16/9487

Wohnungslosigkeit vermeiden - Wohnungslose unterstützen - SGB II überarbeiten

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9487
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Wohnungslosigkeit vermeiden – Wohnungslose unterstützen –
SGB II überarbeiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Zahl der Wohnungslosen ist in den letzten Jahren erfreulicherweise zurück-
gegangen. Allerdings besagen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Woh-
nungslosenhilfe – die mangels offizieller Erhebungen die verlässlichste Daten-
grundlage bieten –, dass im Jahr 2006 weiterhin etwa 250 000 Menschen
wohnungslos waren. Weitere 60 000 bis 120 000 Haushalte mit ca. 120 000 bis
235 000 Menschen sind von Wohnungsverlust bedroht. Der Anteil der jungen
Menschen daran steigt erheblich an. Es besteht damit unverändert ein massiver
politischer Handlungsbedarf, wohnungslosen Menschen gesellschaftliche Teil-
habe zu ermöglichen sowie Wohnungslosigkeit zu überwinden und präventiv zu
vermeiden.

Der Großteil der wohnungslosen Menschen ist bereits seit längerer Zeit erwerbs-
los. Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde daher
auch die Zuständigkeit für die Wohnungslosenhilfe weitgehend dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) übertragen. Die Grundsicherung für Arbeit-
suchende ist aber nicht ausreichend auf die speziellen Bedürfnisse der Woh-
nungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen ausgerichtet. Die
Grundausrichtung des SGB II (schnelle Integration, Fördern und Fordern etc.)
nimmt wenig Rücksicht auf die besonderen Probleme von Wohnungslosen. Die
geschaffenen Institutionen sind weder administrativ geeignet noch personell so
ausgestattet, eine erfolgreiche Prävention von Wohnungsverlusten und den
damit verbundenen sozialen Folgeproblemen zu leisten. Einzelne Regelungen
im SGB II mit besonderer Relevanz für diese Personengruppe haben sich nicht
bewährt. Andere Regelungen im SGB II sind sogar geeignet, das Problem der
Wohnungslosigkeit zu verschärfen. Das SGB II bedarf daher hinsichtlich seiner
Auswirkungen auf Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Per-
sonen der Überarbeitung.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im SGB II die Möglichkeit einzuräumen, Mietschulden bei drohendem Woh-
nungsverlust nicht nur als Darlehen, sondern in der Regel auch als Beihilfe
zu übernehmen;

2. die Regelung zu streichen, dass Menschen in stationären Einrichtungen
maximal sechs Monate SGB-II-Leistungen beziehen können;

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3. die Übernahme von Kosten der Unterkunft beim Umzug von Leistungs-
berechtigten, die jünger als 25 Jahre sind (§ 22 Abs. 2a SGB II) in dem Sinne
zu ändern, dass aus der Ermessensentscheidung der kommunalen Träger in
Satz 3 ein Rechtsanspruch der Betroffenen wird;

4. im SGB II die Sanktionsmöglichkeit der Kürzung der Kosten der Unterkunft
(§ 31 Abs. 5 SGB II) abzuschaffen;

5. durch die Bereitstellung einer flächendeckenden Hilfe- und Beratungsinfra-
struktur für von Gewalt betroffene Frauen präventiv gegen Wohnungsverlust
vorzugehen;

6. basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit gezielte Beschäftigungsange-
bote für Wohnungslose vorzuhalten;

7. bei den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgebildetes Fach-
personal für die spezifischen Belange und Anliegen von Wohnungslosen ein-
zustellen sowie für die Prävention von Wohnungsverlusten die Erfahrungen
mit dem Konzept der „Zentralen Fachstelle“ auszuwerten und ein analoges
Konzept in die administrativen Strukturen der SGB-II-Träger einzuführen.

Berlin, den 3. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Zu Abschnitt II

Zu Nummer 1

Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II) wurde unter anderem die Übernahme von Mietschulden neu geregelt.
Die erst 1996 ins Bundessozialhilfegesetz eingeführte Regelung zur Miet-
schuldenübernahme zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit wurde erheblich
eingeschränkt. Mietschulden sind aber nach den Informationen der Bundes-
arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. „der dominierende Grund für den
Wohnungsverlust“. Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundes-
regierung führt aus, dass 37 Prozent der Wohnungsverluste durch eine Räumung
aufgrund von Mietschulden und anderen Problemen verursacht sind (Bundes-
tagsdrucksache 15/5015, S. 134). Die Vermeidung von Wohnungslosigkeit ist
regelmäßig sozialer, effektiver und günstiger als die (Re-)Integration von Woh-
nungslosen.

Die Mietschuldenübernahme ist daher für alle betroffenen Personen zu garan-
tieren und muss in der Regel in der Form eines Zuschusses erfolgen. Die betrof-
fenen Haushalte sind in der Regel bereits überschuldet. Die Rückzahlung eines
Darlehens während des Leistungsbezugs scheidet angesichts des Charakters der
Leistung als Existenzminimum aus. Im Gesetz ist darüber hinaus klarzustellen,
dass § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II (Tilgung von Darlehen) bei der darlehensweisen
Erbringung von Leistungen nach § 22 SGB II keine Anwendung findet. Der § 23
SGB II bezieht sich ausschließlich auf „von der Regelleistung“ umfasste Be-
darfe (§ 20 SGB II).

Eine zusätzliche Verschuldung konterkariert das Ziel der sozialen Stabilisierung
und der beruflichen Integration der betroffenen Personen; insofern ist auch eine

Rückzahlung nach der Phase des Leistungsbezugs kaum sinnvoll und nur selten
möglich. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass nach Analysen

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der Bundesagentur für Arbeit ein erheblicher Teil der Abgänger aus dem SGB II
nach einer relativ kurzen Zeit wieder in diesem Leistungsbezug sind (vgl. z. B.
Bundesagentur für Arbeit: Analytikreport 2/2008. Analyse der Grundsicherung
für Arbeitsuchende). Damit besteht auch für diese Gruppe keine reale Möglich-
keit zu einer Rückzahlung. Die Darlehensregelung verschlechtert die Chancen
eines nachhaltigen und dauerhaften Abgangs aus dem Leistungsbezug. Für eine
Umwandlung der Darlehens- in eine Beihilferegelung sprechen neben sozialen
auch verwaltungsökonomische Gründe. Höhere Kosten für die öffentlichen Trä-
ger können durch effizienteres und kostengünstigeres Verwaltungshandeln kom-
pensiert werden.

Zu Nummer 2

Nach § 7 Abs. 4 SGB II sind Personen, die für länger als sechs Monate in einer
stationären Einrichtung untergebracht sind, von dem Bezug von Leistungen
nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Regelung geht offenbar davon aus, dass
ein stationärer Aufenthalt eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeits-
markt ausschließt. Dies ist aber nicht der Fall. Es wird übersehen, dass bei der
Organisation und Ausgestaltung der Leistungen in stationären Einrichtungen
vielfach ein Konzept verfolgt wird, nach dem zwar in einer Einrichtung gelebt,
eine Integration in das Leben der Gemeinschaft außerhalb der Einrichtung aber
angestrebt wird. Dazu gehört auch eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeits-
markt. Diese Konzepte finden sich im besonderen Maße bei den Einrichtungen
der Wohnungslosenhilfe. Durch den Ausschluss von SGB-II-Leistungen werden
die Vermittlungschancen der Menschen in diesen Einrichtungen erheblich be-
einträchtigt; das Grundanliegen des SGB II – Integration in Erwerbsarbeit – wird
in nicht nachvollziehbarer Weise konterkariert. Es ist daher sinnvoll, die Rege-
lung zu streichen und durch eine individuelle Prüfung zu ersetzen, ob und inwie-
weit ein stationärer Aufenthalt der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entgegen-
steht. Diese Forderung ist jüngst auch vom Bundessozialgericht erhoben worden
(BSG Az.: B 14/7b AS 16/07 R vom 6. September 2007). Eine entsprechende
Gesetzesänderung würde die Rechtsprechung angemessen umsetzen.

Zu Nummer 3

Die Wohnungslosigkeit von jungen Menschen ist in den letzten Jahren zu einer
der größten Herausforderungen geworden. Relevant ist in diesem Zusammen-
hang, dass jüngere Wohnungslose häufig direkt aus der Herkunftsfamilie in die
Wohnungslosigkeit geraten sind. Die bisherigen Regelungen des SGB II sind ge-
eignet, dieses Problem zu verschärfen.

§ 22 Abs. 2a SGB II fordert von Leistungsberechtigten, die noch nicht das
25. Lebensjahr vollendet haben, dass sie sich vor einem Umzug eine Geneh-
migung des kommunalen Trägers einholen müssen, wollen sie weiter Leistun-
gen beziehen. Dies ist prinzipiell abzulehnen, weil nicht nachvollziehbar ist,
warum erwachsene Menschen nicht aus freien Stücken einen eigenen Hausstand
gründen dürfen. Darüber hinaus folgt aus dieser Regelung aber „mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine spürbare Zunahme von wohnungslosen jungen Voll-
jährigen“ (so die BAG Wohnungslosenhilfe), weil diese teilweise die benötigte
Zustimmung des Trägers vor dem Umzug nicht einholen oder an dem Nachweis
eines „sonstigen, ähnlich schwerwiegenden Grund(es)“ scheitern. § 22 Abs. 2a
ist daher mit dem Ziel zu reformieren, dass Wohnungslosigkeit nicht eintritt. Da-
für ist die Mindestforderung, dass aus der Ermessensentscheidung des kommu-
nalen Trägers bei Vorliegen der in § 22 Abs. 2a Satz 3 SGB II genannten Gründe
ein Rechtsanspruch der Betroffenen wird.

Zu Nummer 4
§ 31 Abs. 5 SGB II sieht vor, dass bei wiederholter Pflichtverletzung durch Leis-
tungsberechtigte das Arbeitslosengeld II einschließlich der Kosten der Unter-

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kunft vollständig gestrichen wird. Durchführungshinweise der Bundesagentur
für Arbeit zu § 31 Abs. 5 schränken ein, dass der Träger Leistungen für die Kos-
ten der Unterkunft nach Ermessen erbringen kann, sofern die betroffene Person
sich nachträglich bereit erklärt, ihren bzw. seinen Pflichten nachzukommen. Die
Möglichkeit, dass durch den kompletten Entzug der Leistungen einschließlich
der Kosten der Unterkunft Wohnungslosigkeit entstehen kann, wird in den
Durchführungshinweisen eingeräumt. Notwendig ist eine gesetzliche Klarstel-
lung, dass bei leistungsbedürftigen Personen keine Kosten der Unterkunft ge-
kürzt oder gar gestrichen werden dürfen, da diese Sanktion dem Ziel der Vermei-
dung von Wohnungslosigkeit diametral zuwiderläuft.

Zu Nummer 5

Nach den Informationen des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bun-
desregierung sind die wichtigsten Auslöser des Wohnungsverlustes bei Frauen
die Trennung von einem Partner, der Auszug von den Eltern sowie die akute
Gewalt des Partners. Diese spezifischen Gründe müssen beachtet werden. So ist
eine ausreichende Infrastruktur an Hilfeangeboten und Hilfe leistenden Einrich-
tungen wie Frauenhäuser zur Verfügung zu stellen sowie bei den Hilfeleistungen
im Rahmen des SGB II auf die spezifischen Bedürfnisse und Probleme dieser
Frauen einzugehen (vgl. etwa die Forderungen aus der Bundestagsdrucksache
16/6928).

Zu Nummer 6

Für Wohnungslose sind in Kooperation mit den Trägern der Wohnungslosen-
hilfe spezielle Beschäftigungs- sowie Aus- und Weiterbildungsangebote vor-
zuhalten, die den konkreten Lebensumständen angepasst sind. Mit dem Ziel der
sozialen Stabilisierung sowie der Integration in den Arbeitsmarkt sind Sank-
tionen für die Gruppe der Wohnungslosen in besonderer Weise kontraproduktiv
und daher abzuschaffen. Stattdessen sind niedrig schwellige und nicht repressive
Angebote zu unterbreiten.

Zu Nummer 7

Das Personal bei den Trägern des SGB II ist bislang nicht auf die besonderen
Bedürfnisse und Anliegen von Wohnungslosen bzw. von Wohnungslosigkeit be-
drohten Personen vorbereitet. Bei den einzelnen Trägern sind daher einschlägig
ausgebildete und sensibilisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen.

Die Erfahrungen, die in den Kommunen seit den späten 1980er-Jahren mit dem
Konzept der „Zentralen Fachstelle“ als Praxis der Koordination mit allen
relevanten internen und externen Stellen der Wohnungslosenhilfe gemacht wur-
den, müssen ausgewertet und in eine analoge Praxis in die Strukturen des SGB II
integriert werden, wie dies der Deutsche Verein für öffentliche und private
Fürsorge (Empfehlung vom 8. März 2007) sowie die BAG Wohnungslosenhilfe
(Wohnungspolitisches Programm vom 27. Oktober 2006) fordern. In diesem
Zusammenhang ist sicherzustellen, dass Meldungen der Amtsgerichte über
Räumungsklagen unverzüglich bei den zuständigen Stellen ankommen und
Wohnungslosigkeit vermeidende Aktivitäten auslösen.

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