BT-Drucksache 16/9486

Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft durch wirksame gesetzliche Regelungen fördern

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9486
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder,
Eva Bulling-Schröter, Sevim Dag˘delen, Werner Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann,
Inge Höger, Ulla Jelpke, Ulla Lötzer, Kornelia Möller, Kersten Naumann,
Elke Reinke, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft
durch wirksame gesetzliche Regelungen fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die freiwillige Vereinbarung zwischen der damaligen Bundesregierung und den
Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2001 zur Förderung der
Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft hat bisher kaum
Wirkung erzielt – in vielen Betrieben ist sie nicht einmal bekannt. Dies zeigen die in
den Jahren 2003 und 2006 vorgelegten Bilanzen der Vereinbarung.

Bisher zog die Bundesregierung daraus keine Konsequenzen, obwohl sie nach dem
Grundgesetz (Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 und 3) dazu verpflichtet ist, die „tatsächliche
Durchsetzung der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu fördern“.
Wirkungslose freiwillige Vereinbarungen können nicht länger hingenommen wer-
den.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

klare und wirksame gesetzliche Vorgaben zu schaffen, die nicht nur Diskriminierung
verbieten und sanktionieren, sondern die Unternehmen zur Förderung der Gleich-
stellung der Geschlechter verpflichten. Dazu ist ein Entwurf eines Gesetzes zur
Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft für alle Betriebe ab fünf
Beschäftigte vorzulegen.

Der Entwurf soll nach folgenden Eckpunkten ausgerichtet sein:

1. Ziele des Gesetzes sind die Evaluierung, die Entwicklung und die Verbesserung
der für die Gleichstellung der Geschlechter wesentlichen Entscheidungsprozesse
in der Privatwirtschaft. Das Gesetz setzt den Rahmen, der es den Unternehmen
und ihren Beschäftigten, den Betriebsräten und Tarifvertragsparteien ermöglicht,
eigene differenzierte Verfahren und Maßnahmen zu entwickeln, um die Gleich-
stellung zu fördern. Die an der Gestaltung beteiligten Akteurinnen und Akteure

sollen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern auf
allen Ebenen und in allen Bereichen einnehmen. Das Ziel des Gesetzes ist dann
erfüllt, wenn im Betrieb ebenso viele Frauen wie Männer beschäftigt sind und der
Durchschnittsverdienst von Frauen und Männern gleich ist oder Frauen und Män-
ner in allen Entgeltgruppen sowie auf allen Stufen der betrieblichen Hierarchie zur
Hälfte vertreten sind. Bestehende Gesetze und Verordnungen zum Verbot oder zur
Beschränkung der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen sind zu beachten.

Drucksache 16/9486 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Jeder Betrieb legt jährlich eine Bestandsaufnahme der Beschäftigtenstruktur
vor, die folgende Angaben enthält: Zahl der beschäftigten Frauen und Män-
ner (einschließlich Führungskräfte) differenziert nach Tätigkeiten sowie
Funktions- und Verantwortungsstufen (jeweils unter Angabe ihrer Arbeits-
zeit/ihres Arbeitsvolumens), Struktur der Entgelte differenziert nach Ge-
schlecht, Zahl der Auszubildenden im Betrieb differenziert nach Aus-
bildungsberuf und Geschlecht, Veränderungen in der Beschäftigten- und
Entgeltstruktur aufgrund durchgeführter Gleichstellungsmaßnahmen.

3. Betriebe entwickeln zunächst – gestaffelt nach Betriebsgröße – nach Inkraft-
treten des Gesetzes Gleichstellungskonzeptionen und setzen diese mit geeig-
neten Maßnahmen um. Die Maßnahmen enthalten nachprüfbare Ziele und
sind in einem festegelegten Zeitraum umzusetzen (höchstens 24 Monate).

4. Aus folgenden Handlungsfeldern sind geeignete Maßnahmen auszuwählen.
Dabei ist es innerhalb der ersten 24 Monate möglich, schrittweise mit Maß-
nahmen aus einzelnen Handlungsfeldern zu beginnen.

Förderung der Gleichstellung der Geschlechter

a) Personalstruktur; Erhöhung des Frauenanteils in Funktionsebenen, in de-
nen Frauen bislang unterrepräsentiert sind;

b) Entgeltgerechtigkeit zwischen den Geschlechtern; Angleichung der Ent-
lohnung von Tätigkeiten, die überwiegend von Frauen ausgeführt werden,
an vergleichbare Tätigkeiten, die überwiegend von Männern ausgeführt
werden;

c) Führungskräfteverantwortung; Erhöhung der Gleichstellungskompetenz
und -motivation von Führungskräften;

d) Ausbildung; Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen, um die Aus-
bildungsplätze zur Hälfte mit Frauen zu besetzen;

e) Qualifizierung; besondere Berücksichtigung von weiblichen Beschäftig-
ten in Weiterbildungsprogrammen, mehr und bessere Qualifizierung von
Personen, die nach längerer Familienarbeit wieder in das Erwerbleben
zurückkehren;

f) geringfügige Beschäftigung; Umwandlung in sozialversicherungspflich-
tige Arbeitsverhältnisse;

g) sexuelle Belästigung; Entwicklung und Umsetzung von präventiven Maß-
nahmen;

h) ausgleichende Strukturen beim Personalabbau; Entwicklung und Um-
setzung von Maßnahmen, die verhindern, dass der Frauenanteil an der
Gesamtzahl der Beschäftigten bei Personalabbau sinkt.

Förderung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit

a) Arbeitszeit; Entwicklung familienfreundlicher Arbeitszeitmodelle für die
Beschäftigten (inklusive Fach- und Führungskräften);

b) Telearbeit; Bereitstellung von Telearbeitsplätzen und Verpflichtung für
die Unternehmen, die Rückkehrerinnen und Rückkehrer an einen betrieb-
lichen Arbeitsplatz zu ermöglichen beziehungsweise Rückkehrer bevor-
zugt zu berücksichtigen;

c) Elternzeit; Entwicklung und Umsetzung von Modellen der Arbeitsorga-
nisation, die männlichen Beschäftigten die Übernahme von Elternarbeit
ermöglichen, Kontakthaltemaßnahmen während der Elternzeit;
d) Kinderbetreuung; Bereitstellung betrieblicher oder betrieblich mitfinan-
zierter externer Kinderbetreuung.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9486

5. Sind die genannten Maßnahmen innerhalb von 24 Monaten nach Inkrafttreten
des Gesetzes nicht umgesetzt, sind folgende Maßnahmen zwingend umzusetzen:

a) Wahl einer betrieblichen Gleichstellungsbeauftragten für jeden Betrieb, die
über jede strukturelle, organisatorische, personelle und soziale Maßnahme
zur Gleichstellung der Geschlechter im Betrieb rechtzeitig und umfassend zu
unterrichten ist. Sie hat das Recht, dazu Stellung zu nehmen und an Vorstel-
lungsgesprächen teilzunehmen, soweit diese nicht durch ein Gremium ge-
führt werden, dessen Zusammensetzung durch Gesetz geregelt ist. Einstel-
lungen, Beförderungen, arbeitsorganisatorische Umstrukturierungen und
ordentliche Kündigungen, die nicht die Vorgaben des Gesetzes zur Gleich-
stellung erfüllen, sind ohne die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten
unwirksam;

b) Durchführung einer jährlichen Bestandsaufnahme der Beschäftigtenstruktur
unter Beteiligung der betrieblichen Akteurinnen und Akteure;

c) Umsetzung der Maßnahmen aus den Handlungsfeldern Personalstruktur,
Entgeltgerechtigkeit, Ausbildung, Qualifizierung sowie Arbeitszeit und

d) Korrektur der Auswahlverfahren und -kriterien für die Einstellung, berufli-
che Entwicklung und Weiterbildung.

Die verpflichtenden Maßnahmen enden, wenn ein Unternehmen ihnen zwei
Jahre lang nachgekommen ist und eine geeignete Gleichstellungskonzeption in
Kraft gesetzt hat.

6. Der Betriebsrat ist zur Mitwirkung an der Gleichstellungskonzeption verpflich-
tet und hat hinsichtlich der Auswahl und Ausgestaltung der Handlungsfelder ein
Initiativrecht. Er erhält ein Mitbestimmungsrecht bei der Bildung und Beauftra-
gung der Koordinationsstelle sowie zusätzlich ein Auswahlrecht bezüglich der
Handlungsfelder nach Nummer 4, wenn das Unternehmen nicht innerhalb von
zwei Monaten seine Auswahl dem Betriebsrat mitgeteilt hat. Das Unternehmen
hat mit dem Betriebsrat die Gleichstellungsmaßnahmen zu beraten. Kommt eine
Einigung nicht zustande, so ersetzt der Spruch der Einigungsstelle die Einigung.

7. In Betrieben ohne Betriebsrat berät das Unternehmen mit der Koordinations-
stelle und/oder der Gleichstellungsbeauftragten die Maßnahmen zur Förderung
der Gleichstellung und legt im Einvernehmen mit diesen betriebliche Richt-
linien fest.

8. Bei der Vergabe öffentlicher Bundesaufträge werden ausschließlich Unterneh-
men berücksichtigt, die nachweislich den Verpflichtungen des Gesetzes zur
Gleichstellung in der Privatwirtschaft nachkommen.

9. Gleichstellungskonzeptionen und betriebliche Maßnahmen sind den Beschäf-
tigten im Betrieb bekannt zu machen.

10. Zusätzliche Ansprüche, die sich bei Verstößen gegen das Gesetz ergeben:

a) Anspruch auf Einstellung/Beförderung bei Diskriminierung;

b) Anspruch auf Übernahme der Kinderbetreuungskosten und Anspruch auf
Vereinbarung des vom Arbeitnehmer/von der Arbeitnehmerin gewünschten
Arbeitsvolumens und der Lage und Verteilung der Arbeitszeit, wenn das
Unternehmen den Verpflichtungen zur Förderung von Familie und Beruf
nicht nachgekommen ist;

c) Anspruch auf Kostenübernahme für außerbetriebliche Bildungsmaßnahmen,
wenn das Unternehmen den Verpflichtungen zur Förderung der Qualifizie-
rung nicht nachgekommen ist.

11. Unternehmen ab 20 Beschäftigte richten eine nicht weisungsgebundene und

unter besonderem Schutz stehende Koordinationsstelle ein, die Unternehmen,
Betriebsrat und Beschäftigte zu Fragen der Gleichstellung berät.

Drucksache 16/9486 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
12. Verbände, die satzungsgemäß die Förderung der Gleichstellung der Ge-
schlechter zum Ziel haben, und Gewerkschaften können die Einhaltung des
Gesetzes zur Gleichstellung in der Privatwirtschaft aus eigenen Rechten
überwachen und einfordern. Die Umsetzung der verpflichtenden Maßnah-
men kann von ihnen vor dem Arbeitsgericht durchgesetzt werden (Ver-
bandsklagerecht).

13. Zur Unterstützung und Beratung der Koordinierungsstellen und Gleichstel-
lungsbeauftragten wird auf Bundesebene eine überbetriebliche staatliche
Stelle zur Förderung der Gleichstellung aufgebaut.

Berlin, den 3. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung
Vereinbarungen zur Chancengleichheit von Frauen und Männern sind immer
noch die große Ausnahme. Laut Betriebsrätebefragung des Wirtschafts- und So-
zialwissenschaftlichen Instituts (WSI) 2003 haben nur 60 von knapp 5 000 be-
fragten Betrieben tatsächlich Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit
durchgeführt. Auch mit Blick auf den öffentlichen Dienst ist erkennbar, dass es
ohne ein verpflichtendes Gleichstellungsgesetz in der Regel nicht zu mehr
Aktivitäten auf diesem Gebiet kommt.

Zwar ist der Anteil der erwerbstätigen Frauen in den letzten Jahren gestiegen, ihr
tatsächliches Arbeitsvolumen ist jedoch gesunken. Hinter dem Anstieg der
Frauenerwerbsquote steht also vor allem eine Umverteilung der Arbeit auf mehr
Frauen. Frauenarbeitsplätze wurden in nicht Existenz sichernde und nur teilweise
sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit zerstückelt, es fand keine Umver-
teilung von Arbeit zwischen Männern und Frauen statt. Dazu hatte auch der
CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen in seinem Bericht vom Januar 2007
seine Besorgnis über die wachsende Anzahl an Frauen in gering qualifizierten
Arbeitsverhältnissen beziehungsweise Teilzeitarbeitsverhältnissen geäußert.

Trotz unterschiedlicher Strukturen in der Privatwirtschaft existieren diskriminie-
rende Grundmuster zu Lasten von Frauen: Frauen arbeiten nach wie vor zu hohen
Anteilen in Berufen, die weniger günstige Perspektiven bieten, und sie sind kaum
in Führungspositionen vertreten. Zudem werden Berufe, in denen vorwiegend
Frauen arbeiten, niedriger entlohnt. Frauen stellen nahezu konstant mehr als zwei
Drittel aller geringfügig Beschäftigten. Bei gleichwertiger Tätigkeit verdienen
Frauen immer noch rund 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.

Die Förderung der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann weitere
gleichstellungspolitische Anstrengungen nicht ersetzen. Im Gegenteil, es muss
verhindert werden, dass Vereinbarkeit nur als Thema für Frauen verstanden
wird. Eine grundsätzliche Veränderung der Rollenverteilung von Frauen und
Männern muss in den Blick genommen werden.

Das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im
August 2006 ersetzt die Forderung nach einem Gesetz zur Gleichstellung in der
Privatwirtschaft nicht. Über die Bekämpfung der Diskriminierung hinaus ist die
verbindliche Verankerung von Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im
Erwerbsleben notwendig. Aus diesem Grund ist auch eine Reform des Allge-
meinen Gleichbehandlungsgesetzes nötig.

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