BT-Drucksache 16/9485

Mobilfunkstrahlung minimieren - Vorsorge stärken

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9485
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Lutz Heilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
Karin Binder, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Hans-Kurt Hill,
Katrin Kunert, Michael Leutert, Dorothee Menzner, Dr. Ilja Seifert,
Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorge stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die bisher erfolgte und fortschreitende Verdichtung des Mobilfunksystems, ins-
besondere die Erhöhung der Anzahl der Sendemasten durch den Ausbau des
UMTS-Netzes und das Anbieten weiterer Funkdienste führen zu wachsenden
gesundheitlichen Gefahren. Die derzeitigen Grenzwerte bieten davor keinen
ausreichenden Schutz, da auch bei deren Einhaltung gentoxische Effekte entste-
hen können, wie eine Studie im Rahmen des EU-Mobilfunkforschungspro-
gramms REFLEX in mehreren Zellversuchen festgestellt hat.

Wissenschaftlich unumstritten sind die thermischen Effekte elektromagne-
tischer Felder des Mobilfunks. Die in der 26. Verordnung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes (26. BImSchV) diesbezüglich festgelegten
Grenzwerte für stationäre Anlagen sind unzureichend, da sie keine Vorsorge-
komponente enthalten und nicht die Strahlungsdauer berücksichtigen, der ein
Mensch ausgesetzt ist. Sie liegen zudem deutlich über den Grenzwerten einiger
Nachbarstaaten. Auch der Regelungsbereich ist zu eng gefasst, da die Verord-
nung nur für gewerbliche Anlagen sowie Anlagen, die im Rahmen wirtschaft-
licher Unternehmungen Verwendung finden, gilt. Außerdem werden nur orts-
feste Sendeanlagen erfasst, Mobilfunktelefone und Schnurloshaustelefone
fallen vollständig aus dem Anwendungsbereich heraus. Für die zulässige Strah-
lung von Mobilfunktelefonen und Schnurloshaustelefonen gibt es somit keine
verbindlichen Vorgaben.

Drahtlose Netzwerktechnologien, insbesondere lokale drahtlose Netzwerke wie
WLAN (Wireless Local Area Networks), die wie Mobilfunktelefone hochfre-
quente elektromagnetische Felder erzeugen, gewinnen immer mehr an Bedeu-
tung. Angesichts steigender Verbreitung öffentlicher WLAN-Hotspots in Cafes,
an Schulen, Universitäten und Flughäfen etc. zeichnet sich ab, dass die Dichte
öffentlicher Hotspots weiter zunehmen wird. Auch in Haushalten werden zuneh-

mend WLAN-Geräte eingesetzt und teilweise durchgehend in Betrieb gelassen.
Das führt zu einer Erhöhung der Strahlenexposition an Orten, an denen sich
Menschen länger aufhalten. Für WLAN-Geräte gibt es zwar Grenzwerte, diese
berücksichtigen jedoch nicht die Strahlungsdauer.

Absolut unzureichend ist die 26. BImSchV wegen der Nichtberücksichtigung
von nichtthermischen Wirkungen elektromagnetischer Felder im Mobilfunk-
bereich und wegen der Nichtbeachtung des Vorsorgeprinzips sowie der Zeit-

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dauer der Belastung. Wissenschaftliche Studien führen eine Vielzahl von ernst
zu nehmenden Hinweisen hinsichtlich biochemischer und neurologischer Wir-
kungen auf. Diese beruhen u. a. auf der in der Mobilfunktechnologie angewand-
ten niederfrequenten Pulsung der hochfrequenten elektromagnetischen Felder,
d. h. ihrer Abstrahlung in einzelnen Frequenzstößen. Diese schwachen Felder
sind in der Lage, die für den menschlichen Organismus und seine Funktionen
notwendigen biologischen Abläufe zu beeinflussen und zu stören.

Um Mobilfunknetze lückenlos und qualitativ vorzuhalten, müssen je nach Um-
feld alle 200 bis 2 000 Meter Mobilfunksendeanlagen aufgestellt werden. Auch
Wohngebiete werden davon nicht ausgenommen. Durch die erwartete enorme
räumliche Verdichtung von Sendeanlagen, erst recht durch den Ausbau des
UMTS-Netzes und der Vielzahl von Netzbetreibern befürchten Expertinnen und
Experten eine unverantwortliche dauerhaft hohe Belastung der Bevölkerung
durch hochfrequente elektromagnetische Felder.

Durch eine dauerhafte Handynutzung erhöht sich das Hirntumorrisiko auf dra-
matische Weise. So kommt die „Bioinitiative Group“ der Europäischen Union,
ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in ihrer
Auswertung von 2 000 Studien zur Wirkung von elektromagnetischen Feldern
im August 2007 zu dem Ergebnis, dass sich nach zehn Jahren Handynutzung das
Hirntumorrisiko um 20 bis 200 Prozent erhöht.

Mobilfunkstrahlung hat auch enorme Folgen für die Lebenserwartung in vielen
Regionen. So hat ein statistischer Vergleich der Lebenserwartung der Bewoh-
nerinnen und Bewohner zweier Dörfer in Österreich ergeben, dass der um den
Faktor 10 000 höher mit Mobilfunkstrahlung belastete Ort in den Jahren 2004
bis 2007 ein signifikant um ca. zehn Jahren früheres Sterbealter aufwies.

Weitere schwerwiegende Folgen können sich für bestimmte Hirnfunktionen
ergeben. Schwedische Forschungen zeigen, dass die Strahlung von Mobiltele-
fonen die Blut-Hirn-Schranke, eine Zellschicht zum Schutz des Gehirnes vor
schädigenden Stoffen aus dem Blutkreislauf, öffnen und so Schadstoffe leichter
in das Gehirn eindringen können.

Diese und andere wissenschaftlichen Hinweise auf gesundheitliche Beeinträch-
tigungen durch nichtthermische Auswirkungen elektromagnetischer Mobilfunk-
felder belegen, dass durch die 26. BImSchV keine hinreichende Schutzwirkung
gegeben ist.

Bemühungen von Bürgerinitiativen und Betroffenenverbänden, sich gegen die
Installation von Mobilfunksendeanlagen, insbesondere auf Schulen und Kran-
kenhäusern zu wehren, laufen auf Grund der nur auf thermische Wirkungen
ausgelegten Grenzwerte sowie fehlender verbindlicher baurechtlicher Geneh-
migungsverfahren überwiegend ins Leere. Zur Errichtung von Mobilfunk-
anlagen muss lediglich eine Standortgenehmigung beantragt werden. Ferner
wird nur die Vereinbarkeit mit baurechtlichen Bestimmungen geprüft. Gesichts-
punkte des Immissionsschutzes bleiben unberücksichtigt. Eine Absenkung der
Immissionswerte auch unter Berücksichtigung der Pulsung sowie der zeitlichen
Belastung ist bei ihrer Neufestlegung insofern unerlässlich und beinhaltet für die
Betreiber technisch einfach zu bewältigende Anforderungen.

Durch die im Jahr 2001 abgegebene freiwillige Selbstverpflichtung der Mobil-
funkbetreiber wurde lediglich der Informationsaustausch zwischen Netzbetreibern
und Kommunen intensiviert. Dies geschieht jedoch nur auf freiwilliger Basis.

Eine Genehmigung von Mobilfunkanlagen muss wie bei anderen die Umwelt
belastenden Anlagen verpflichtend werden. Im Verlauf eines Genehmigungs-
verfahrens muss vom beantragenden Mobilfunkbetreiber zukünftig der verbind-
liche Nachweis des Ausschlusses gesundheitlicher Risiken durch Einhaltung der

Grenzwerte für die zu errichtenden Mobilfunksendeanlagen erbracht und alle

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aus dem Betrieb resultierenden Haftungsrisiken übernommen werden. Die
Beweislast für die Unbedenklichkeit der Mobilfunkstrahlung muss nach dem
Verursacherprinzip bei den Mobilfunkbetreibern liegen. In einem Anhörungs-
verfahren müssen zudem betroffene Bürgerinnen und Bürger über die Art,
Größe und Leistung der zu errichtenden Anlage informiert werden. Letztendlich
muss für die Errichtung der Sendeanlage die Herstellung des Einvernehmens
zwischen allen Beteiligten des Verfahrens Voraussetzung sein.

Losgelöst von den bereits nach heutigem Wissensstand sofort nötigen Maßnah-
men zur Eindämmung gesundheitlicher Gefahren durch den Mobilfunk muss die
Bundesregierung die unabhängige Forschung auch weiterhin mit finanziellen
Mitteln unterstützen. Es ist zu verhindern, dass die Mobilfunkfirmen über eine
Kostenbeteiligung Einfluss auf die Gestaltung der Studien und Abschluss-
berichte nehmen können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die in der 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte unter Berücksichtigung
der nichtthermischen Wirkungen, der Expositionsdauer sowie des Vorsor-
geprinzips so weit abzusenken, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen
ausgeschlossen werden können; zusätzlich ist für Mobilfunkgeräte ein
maximal zulässiger SAR-Wert verbindlich bei 1 W pro kg festzusetzen,
der nach Ablauf von drei Jahren auf 0,6 W pro kg zu reduzieren ist, um die
elektromagnetische Strahlung zu minimieren; für WLAN-Geräte und
Schnurloshaustelefone sind ebenfalls am Vorsorgegedanken und der Ex-
positionsdauer ausgerichtete Grenzwerte einzuführen;

2. auf der Basis von regelmäßigen Kontrollmessungen ein allgemeines öf-
fentlich zugängliches Strahlenkataster für die gesamte hochfrequente
Strahlung durch die Bundesnetzagentur einzurichten;

3. rechtlich zu verankern, dass Genehmigungen für Mobilfunksendeanlagen
nur befristet erteilt werden und eine Wiedererteilung nur bei Einhaltung
der dann jeweils geltenden aktuellen Grenzwerte erfolgen darf. Sämtliche
bereits erteilten Genehmigungen sind nachträglich auf die Einhaltung der
neu festzulegenden Grenzwerte zu überprüfen; bei Nichteinhaltung sind
nachträgliche Anordnungen entsprechend § 17 BImSchG vorzusehen;

4. die rechtlichen Grundlagen zu schaffen, dass Schutzzonen in einem
angemessenen Abstand zu Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten und
Altenheimen festgelegt werden können, in denen Mobilfunk empfangen
werden kann, jedoch keine Sendeleistungen erfolgen;

5. zusätzlich wirksame Maßnahmen zur Begrenzung des Strahlenrisikos für
Kinder und Jugendliche zu veranlassen;

6. eine auf den Geräten und den Verpackungen deutlich sichtbare und für alle
verständliche Kennzeichnungspflicht der Strahlungen von Mobilfunktele-
fonen, WLAN-Geräten, Schnurloshaustelefonen und schnurlosen Baby-
fonen, differenziert nach ein- und ausgeschaltetem Zustand, einzuführen;

7. auf die Hersteller einzuwirken, schnurlose Telefone so zu konstruieren,
dass die Funkübertragung zwischen Basisstation und Mobilteilen auto-
matisch unterbrochen wird, wenn das Gerät in der Basisstation verbleibt
und dass eine effiziente Leistungsregelung in Abhängigkeit von der Ent-
fernung zur Basisstation erfolgt;

8. das Deutsche Mobilfunkforschungsprogramm angesichts der fehlenden
Bereitschaft der Mobilfunknetzbetreiber zukünftig ohne deren Beteili-
gung durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reak-

torsicherheit und das Bundesinstitut für Strahlenschutz fortzuführen und
dieses mit mindestens 5 Mio. Euro auszustatten;

Drucksache 16/9485 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
9. die fortzuführenden Untersuchungen hinsichtlich der Gefährlichkeit für
Menschen auf Tiere und Pflanzen auszudehnen;

10. eine demokratische und transparente Kontrolle und öffentliche Verwaltung
der Forschungsgelder einzurichten;

11. in einer Aufklärungskampagne die Bevölkerung auf die Empfehlung der
Bundesregierung hinzuweisen, „die persönliche Strahlenbelastung zu mini-
mieren“, sowie „auf die Nutzung von WLAN und anderen Funkverbindun-
gen zu verzichten und kabelgebundene Systeme zu bevorzugen“.

Berlin, den 4. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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