BT-Drucksache 16/9479

Bundesverantwortung für den Steuervollzug wahrnehmen

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9479
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer,
Kornelia Möller, Dr. Axel Troost, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Bundesverantwortung für den Steuervollzug wahrnehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der verfassungsmäßige Gleichheitsgrundsatz wird anhaltend durch ungleich-
mäßigen Steuervollzug erheblich verletzt. Während das Lohneinkommen durch
den Quellenabzug nahezu vollständig erfasst wird, können insbesondere Steuern
auf Gewinn- und Vermögenseinkommen in großem Umfang hinterzogen wer-
den.

Die Letztverantwortung für den Gesetzesvollzug trägt die Bundesregierung.
Dass die Bundesländer im Auftrag des Bundes im Rahmen der Auftragsverwal-
tung die Steuern einziehen, ändert hieran nichts. Zudem stehen Bundesregierung
und Bundesrat bei erheblichen Gleichheitsverstößen unter Verständigungs-
zwang, um diese Verstöße zu beseitigen.

Das Bundesfinanzministerium sieht die Gefahr, dass die Bundesländer „in Ver-
suchung geraten, die Intensität der Steuererhebung an zweifelhaften standort-
politischen Interessen auszurichten“. Das Ministerium erwähnt in diesem
Zusammenhang, dass wichtige Sonderprüfungen in vielen Bundesländern „her-
untergefahren“ worden seien (Stellungnahme vom 11. Mai 2004). Trifft dies zu,
dann brechen die Bundesländer vorsätzlich den Gleichheitsgrundsatz der Ver-
fassung.

Das Problem ist allgemein bekannt und seit Jahren Gegenstand von Untersu-
chungen der Rechnungshöfe, Ministerien und externer Gutachter. Es wird auch
in der Debatte über die Föderalismusreform weitgehend anerkannt. Die Schaf-
fung einer zentralen Steuerverwaltung wäre ein wichtiger Schritt zu einem
gleichmäßigen Steuervollzug. Dieses Projekt rechtfertigt es jedoch nicht, dass
die Bundesregierung ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hat oder ausschöpft,
um die Länder zu einem Steuervollzug zu bewegen, der dem Gleichheitsgrund-
satz gerecht wird. Soweit die Mehrheit der Länder weiter unnachgiebig bleibt,
muss die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Steuerverwaltung in der
Föderalismuskommission II uneingeschränkt klar machen, dass sie im Falle
eines Scheiterns der Verhandlungen ihre Letztverantwortung wahrnehmen wird.
Dabei muss deutlich gemacht werden, dass der Bund eigenständig handeln kann,
um den Steuervollzug zu verbessern. Er verfügt über das konkrete Weisungs-
recht. Er kann ein Land anweisen, nur speziell ausgebildete Mitarbeiter und Mit-
arbeiterinnen mit einem bestimmten Verfahren zu befassen. Bei unzureichender
Prüfhäufigkeit und -intensität durch die Bundesländer ist er zum Einschreiten
verpflichtet. Der Bund kann spätestens seit der Föderalismusreform I einheit-

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liche Verwaltungsgrundsätze, gemeinsame Vollzugsziele und Regelungen zur
Zusammenarbeit der Bundes- und Landesfinanzbehörden bestimmen und all-
gemeine fachliche Anweisungen erteilen, die bindend sind, solange die Mehr-
heit der Länder nicht widerspricht. Sollten einzelne Länder hiergegen verstoßen,
muss die Bundesregierung bereit sein, ihre Zuständigkeit vom Bundesverfas-
sungsgericht klären zu lassen – ähnlich wie dies im Kompetenzstreit beim
Atomrecht der Fall war. Dies erfordert die Bereitschaft, von der pauschalen
Konsensorientierung zum Konflikt mit den Bundesländern überzugehen. Dies
ist bei einem anhaltenden Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz auch an-
gemessen.

Völlig unzureichend ist dagegen, wenn sich Bund und Länder bis zum Ende der
Legislaturperiode nur in weiteren Bestandsaufnahmen und Problembewer-
tungen ergehen und mit offenem Ergebnis eine Bundessteuerverwaltung debat-
tieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. gleichlaufend zu den Verhandlungen in der Föderalismuskommission II bis
Ende 2008 einen Katalog an Verwaltungsvorschriften und Maßnahmen zu
erstellen, mit denen die Gleichheit des Steuervollzugs sichergestellt werden
kann. Dabei ist den Schwächen des gegenwärtigen Steuervollzugs, auf die
der Bundesrechnungshof aufmerksam gemacht hat, wirksam zu begegnen:
personelle Unterbesetzung, unzureichende Möglichkeiten der laufenden
Qualifizierung und ungelöste Fragen bei der Organisation und beim Haushalt
der Behörden;

2. schon jetzt ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, die Bundesländer zu einem
konsequenteren Steuervollzug zu veranlassen;

3. dafür zu sorgen, dass das Bundeszentralamt für Steuern von seinem Recht
umfassend Gebrauch macht, Außenprüfungen in bestimmten Betrieben zu
verlangen und Regelungen zu Durchführung und Inhalten der Außenprüfung
festzulegen;

4. parallel zu den Verhandlungen zur Steuerverwaltung in der Föderalismus-
kommission II die Möglichkeiten zu sondieren, auf gerichtlichem Wege ihr
Weisungsrecht gegenüber den Ländern geltend zu machen und die Länder zu
einem konsequenten Steuervollzug zu verpflichten. Dadurch stärkt die Bun-
desregierung auch ihre Position in den Verhandlungen der Föderalismus-
Kommission.

Berlin, den 3. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9479

Begründung

Nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft betragen die Steueraus-
fälle durch Steuerhinterziehung rund 30 Mrd. Euro jährlich. Dies übersteigt die
Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung deutlich.

Steuerprüfungen können sehr wirksam sein. 2006 entfielen auf einen Betriebs-
prüfer durchschnittlich etwa 1,3 Mio. Euro Mehrsteuern. Die abschreckende
Wirkung von Betriebsprüfungen ist dabei noch nicht mitgerechnet.

Seit Jahren werden erhebliche Defizite im Steuervollzug der Bundesländer vom
Bundesrechnungshof (zuletzt in den Bemerkungen 2007) und von der Bundes-
regierung selbst festgestellt und kritisiert. Für die Bundesregierung ist nach
eigenen Angaben „die Gefahr einer zweifelhaften Standortpolitik – z. B. über
die Prüfungsfrequenz – nicht von der Hand zu weisen“ (Bundestagsdrucksache
16/4302). Laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 8. Dezember 2007 haben
Bundesländer ausdrücklich damit um Unternehmen geworben, dass sie auf
intensive Steuerprüfungen verzichten.

In seinem Gutachten zur „Modernisierung der Verwaltungsbeziehungen zwi-
schen Bund und Ländern“ dokumentiert der Bundesrechnungshof Fälle, in
denen die Landessteuerverwaltungen zu laxem Steuervollzug angewiesen wur-
den. Verlangt wurde ein „maßvolle[r] Gesetzesvollzug“, mit „weitgehende[m]
Verzicht auf Belege und unnötige Kontrollen“. Die Prüfungsquoten und die Fall-
zahlen je Bearbeiter sind von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. Ein-
zelne Finanzämter geben „Durchwinktage“ vor, ein Finanzamt wollte gar keine
Prüfungen von Einkunftsmillionären mehr durchführen, so der Bundesrech-
nungshof.

Der Bundesrechnungshof bemängelte in einem Gutachten über „Probleme beim
Vollzug der Steuergesetze“ zum wiederholten Male, „dass insbesondere unter
dem Druck zeitgerechter Mengenbewältigung die Steuern unvollständig und un-
gleich festgesetzt werden“. Er ist der Auffassung, „dass der gesetzmäßige und
gleichmäßige Vollzug der Steuergesetze nicht mehr gewährleistet ist.“

Zur Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen hieß es be-
reits 1996 in den Bemerkungen des Bundesrechnungshofs: „In diesem Rahmen
muss es dafür sorgen, dass sämtliche Steuerquellen – also nicht nur die Ein-
künfte aus unselbständiger Arbeit – vollständig und gleichmäßig ausgeschöpft
werden. Aufbau und Einrichtung der Betriebsprüfung – als das wesentliche In-
strument zur zutreffenden Feststellung der Gewinne der Gewerbetreibenden und
der selbständig Tätigen – obliegt zwar nach der bundesstaatlichen Arbeitstei-
lung den Bundesländern. Das Bundesministerium ist aber zumindest mitverant-
wortlich für eine bundesweit hinreichend wirksame Betriebsprüfung. Dieser
Mitverantwortung muss es durch nachdrückliche Ausübung seiner Rechts- und
Fachaufsicht gerecht werden.“

Im Gutachten von Professor Wolfgang Löwer zu Verfassungsrechtsfragen der
Steuerauftragsverwaltung von 2000 heißt es zur Absicht des Verfassungsgebers
der Finanzverfassungsreform 1969: „Betont wurde auch, dass das Weisungs-
recht die parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung begründe, weil
die Bundesauftragsverwaltung die Letztverantwortung für den Gesetzesvollzug
der Bundesregierung zuweise.“ An anderer Stelle schreibt der Gutachter: „An-
gesichts des Verfassungsgrundsatzes rechtlicher und tatsächlicher Besteue-
rungsgleichheit besteht die Verfassungsrechtspflicht für den Bundesverwal-
tungsvorschriftengeber im Falle divergenter, zu Gleichheitsverstößen von
einigem Gewicht führender Vollzugspraktiken auf einheitlichen Gesetzesvoll-
zug hinwirken zu müssen. Das bedeutet im Ergebnis, dass Bundesregierung und
Bundesrat in solchen Fällen unter Verständigungszwang stehen, sich auf einen

gleichheitssichernden Inhalt der Verwaltungsvorschriften einigen zu müssen.“

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Bundesregierung und Bundesrat sind diesem Verständigungszwang nicht ge-
recht geworden.

Auch eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun-
destages vom 10. August 2007 beschäftigt sich mit der Bundesaufsicht über die
Steuerverwaltung. Dort heißt es: „Wenn die Länder die einheitliche Ausführung
der Gesetze nicht gewährleisten, ergibt sich aus Artikel 3 Abs. 1 GG die Ver-
pflichtung des Bundesgesetzgebers zum Tätigwerden.“ Die Tatsache, dass die
Länder „nur“ im Auftrag des Bundes tätig werden, gebe dem Bundesministe-
rium der Finanzen jedenfalls im konkreten Fall ein inhaltlich sehr weitgehendes
Weisungsrecht, das sich nicht nur auf verfahrensabschließende Entscheidungen
beziehe, sondern auch auf das entscheidungsvorbereitende Verwaltungshandeln.
Bezüglich der Mitarbeiterqualifizierung hält der wissenschaftliche Dienst kon-
krete Weisungen an ein Land für denkbar, nur speziell ausgebildete Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen mit einem bestimmten Verfahren zu befassen. Schließlich
heißt es in der Ausarbeitung: „Die Prüfhäufigkeit und -intensität ist hingegen ein
Bereich, in dem die Bundesregierung nach wohl herrschender Meinung sogar
zum Einschreiten verpflichtet sein kann, wenn die Länder die Steuergesetze
uneinheitlich und gleichheitswidrig vollziehen.“

Es ist keineswegs so, dass nur die Bundesländer den Steuervollzug systematisch
vernachlässigen würden, während der Bund mit allen seinen Möglichkeiten für
eine Stärkung der Steuerverwaltung eintritt. Auf die Forderung der Deutschen
Steuergewerkschaft nach 10 000 zusätzlichen Stellen bei den Finanzämtern
jedenfalls reagierte der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück, äußerst
zurückhaltend. Auch der Abschlussbericht zur Quantifizierung möglicher
Effizienzgewinne in der Steuerverwaltung von Kienbaum Management Consul-
tans GmbH und Prof. Dr. jur. Roman Seer zeigt auf, dass der Bund sich in der
Frage der Steuerverwaltung bisher freiwillig auf einen konsensualen Stil im
Umgang mit den Ländern beschränkt hat, obwohl im Rahmen der Bundesauf-
tragsverwaltung auch konfrontativere Abstimmungsformen möglich sind, wie
der Fall der Atomaufsicht zeigt: „[D]ie Gegenpole von Steuerverwaltung und
Atomaufsicht [markieren] die Endpunkte von kooperativer und konfrontativer
Konfliktbewältigung“ (S. 37). Zum Verhältnis von Bund und Ländern in der
Steuerverwaltung heißt es im Bericht: „Alle Beteiligten sind darauf bedacht, das
sich im Laufe der Jahre verfestigte Vertrauensverhältnis nicht zu stören. Der
Bund hat seinen Standpunkt zum Weisungsrecht nie aktuell werden lassen“
(S. 35).

Die Bundesregierung wird ihrer Verantwortung für einen gleichmäßigen Steuer-
vollzug nicht gerecht. Sie hat nicht die Absicht, innerhalb der laufenden Legis-
laturperiode einheitliche Verwaltungsgrundsätze, gemeinsame Vollzugsziele
oder Regelungen zur Zusammenarbeit der Bundes- und Landesfinanzbehörden
zu bestimmen beziehungsweise allgemeine fachliche Anweisungen zu erteilen.
Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. hervor (Bundestagsdrucksache 16/4302). Stattdessen
sollen eine „umfassende Bestandsaufnahme“ mehrerer Themen vorgenommen
und die Ergebnisse anschließend „umfassend bewertet und eine abgestimmte
Strategie entwickelt werden“. Diese Maßnahmen sind völlig unzureichend, die
Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes mit der gebotenen Dringlichkeit herbei-
zuführen, so dass der Beschluss des Bundestages erforderlich wurde.

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