BT-Drucksache 16/9422

Eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik gegenüber China entwickeln

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9422
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander
Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln),
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Rainder Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik
gegenüber China entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor den Olympischen Sommerspielen in Peking und nach den jüngsten Unruhen
in Tibet ringt die internationale Gemeinschaft um den „richtigen“ Umgang mit
der Volksrepublik (VR) China bezüglich seiner Menschenrechtslage. Die Bun-
desregierung ist in dieser Frage zerstritten und ersetzt derweil die fehlende not-
wendige kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik mit Symbolmaßnah-
men.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den öffentlich ausgetragenen Streit um das „richtige“ Vorgehen gegenüber
der VR China zu beenden, ein kohärentes und konsistentes Konzept einer
Menschenrechtspolitik gegenüber der VR China zu entwickeln und umzuset-
zen und dabei statt auf reine Symbolpolitik auf einen langfristig angelegten,
kooperativen Dialogprozess zu setzen;

2. gegenüber der chinesischen Regierung Fortschritte hinsichtlich des Schutzes
und der Gewährleistung von Menschenrechten zu würdigen;

3. der chinesischen Regierung gegenüber weiterhin die Abschaffung der
Todesstrafe zu thematisieren und auf die Einhaltung wenigstens der Mindest-
standards des Zivilpaktes der Vereinten Nationen zu drängen;

4. gegenüber der chinesischen Regierung die ausstehende Ratifizierung des
Zivilpaktes der Vereinten Nationen anzumahnen;

5. gegenüber der chinesischen Regierung das absolute Folterverbot weiterhin
anzusprechen;
6. die chinesische Regierung dazu aufzufordern, ungehinderten Zugang zu allen
Haftanstalten und Lagern in China für den VN-Sonderbeauftragten für Folter,
die VN-Hochkommissarin für Menschenrechte sowie das Internationale
Komitee des Roten Kreuzes zu gewähren;

7. sich gegenüber der chinesischen Regierung dafür einzusetzen, die beschlos-
sene Reform des System der Umerziehung durch Arbeit unverzüglich um-
zusetzen und die Administrativhaft vollständig abzuschaffen;

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8. in allen Dialogforen das Thema Presse- und Meinungsfreiheit zu setzen und
sich gegenüber der chinesischen Regierung für eine politische Liberalisie-
rung der Medien, die Beendigung der Repressionen gegen kritische Jour-
nalistinnen und Journalisten und die Abschaffung der Internetzensur einzu-
setzen;

9. die chinesische Regierung zu verstärkter Einflussnahme gegenüber der
sudanesischen Regierung zur politischen Lösung des Darfur-Konfliktes
aufzufordern;

10. dazu beizutragen, die chinesische Regierung für menschenrechtsrelevante
Konsequenzen ihres Engagements in Konfliktgebieten wie Birma/Myan-
mar oder Simbabwe zu sensibilisieren;

11. gegenüber der chinesischen Regierung in bilateralen Gesprächen, im Rah-
men des Deutsch-Chinesischen Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialoges
und im Rahmen der EU auf Chinas verfassungs- und völkerrechtliche
Pflichten zum Schutz der Religionsfreiheit für alle Chinesinnen und Chine-
sen hinzuweisen;

12. sich gegenüber der chinesischen Regierung für den Schutz und die Gewähr-
leistung von Minderheitenrechten einzusetzen;

13. im Hinblick auf die Lage der Uigurinnen und Uiguren in Xinjiang gegen-
über der chinesischen Regierung auf die Wahrung ihrer Freiheitsrechte so-
wie ihrer sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechte hin-
zuweisen;

14. die Bedeutung und Notwendigkeit von rechtsstaatlichen Verfahren auch
gegenüber dem Terrorismus verdächtigter Uigurinnen und Uiguren bilateral
und im Rahmen der EU mit der VR China zu thematisieren;

15. die chinesische Regierung zu einem Ende der Repressionen und einer
Öffnung in Tibet aufzufordern;

16. sich gegenüber der chinesischen Regierung für die Gewährleistung der
Menschenrechte aller Tibeterinnen und Tibeter, insbesondere deren Glau-
bens- und Religionsfreiheit sowie den Schutz ihrer kulturellen Identität
einzusetzen;

17. gegenüber der chinesischen Regierung die Notwendigkeit ernsthafter und
konkreter Verhandlungen mit dem Dalai Lama über die Zukunft Tibets
innerhalb Chinas und die Rechte der Tibeterinnen und Tibeter zu verdeut-
lichen;

18. die chinesische Regierung zu einem Ende ihrer verbalen Attacken gegen
den Dalai Lama aufzufordern;

Berlin, den 4. Juni 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9422

Begründung

Als die Olympischen Sommerspiele an Peking vergeben wurden, verband sich
damit international die Hoffnung auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage
in China. Und Verbesserungen gibt es in den letzten Jahren. Dazu gehören grö-
ßere individuelle Freiräume für die Bürgerinnen und Bürger genauso wie die
vermehrten Anstrengungen der Regierung zu Reformen im Rechtsbereich. Die
Todesstrafe wurde erstmal unter gerichtliche Überprüfung gestellt. Es gibt einen
klaren Ansatz zur Bekämpfung von Amtsmissbrauch und Korruption, es gibt
eine Sachenrechtsreform, größeren arbeitsrechtlichen Schutz, der gerade auch
für Wanderarbeiterinnen und -arbeiter bedeutsam ist. Es gab in den letzten Jah-
ren eine vorsichtige Liberalisierung der Medien, und eine Reform des Systems
der Umerziehung durch Arbeit wurde immerhin im Grundsatz beschlossen.
China hat sich darüber hinaus im Darfur-Konflikt erstmals zur Ausübung eines
gewissen Drucks auf die sudanesische Regierung eingelassen, und dem ist maß-
geblich auch Sudans Zustimmung zur UNAMID-Mission (Mission der Verein-
ten Nationen und der Afrikanischen Union in Darfur) zu verdanken. All dies
sind Fortschritte, die gerade auch von vielen Chinesinnen und Chinesen als
solche wahrgenommen werden und von der internationalen Gemeinschaft
gewürdigt werden sollten, will man in seiner Kritik glaubwürdig und über-
zeugend sein.

Dies ist notwendig, um mit China einen effizienten kritischen Dialog über die
nach wie vor vorhandenen, gravierenden Defizite der Menschenrechtslage im
Land führen zu können. Nach wie vor wird mit großer Härte gegen politische
Dissidentinnen und Dissidenten vorgegangen, die als Bedrohung der Politik der
chinesischen Führung gesehen werden. Die Todesstrafe wird noch immer
exzessiv und auch für viele minder schwere Vergehen verhängt. Die Öffnung der
Medien und gerade die größeren Freiheiten für ausländische Journalistinnen und
Journalisten haben einen empfindlichen Rückschlag seit den Unruhen in Tibet
erlitten. Das Internet wird an vielen Stellen zensiert. China hat nach wie vor den
Zivilpakt der Vereinten Nationen noch nicht ratifiziert, obwohl sie sich bei ihrer
Wahl in den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen dazu verpflichtet haben.
Die Olympischen Spiele haben in mancher Hinsicht zu einem Rückschlag in der
Entwicklung der Menschenrechte geführt. Menschenrechtsaktivistinnen und
- aktivisten wie Hu Jia wurden mit noch größerer Härte verfolgt, kritische Jour-
nalistinnen und Journalisten unter Druck gesetzt. Im Zuge der Vorbereitungen
für die olympischen Spiele wurden viele Menschen zwangsenteignet und erhiel-
ten keine oder keine angemessene Entschädigung für die Zerstörung ihres
Wohnraumes. Darüber hinaus ist China als wichtigster Investor nach wie vor im
Sudan tätig und nutzt längst nicht alle Möglichkeiten, um im Darfur-Konflikt auf
die Regierung einzuwirken. Auch seine Rolle in Birma/Myanmar oder in Sim-
babwe ist z. T. weit davon entfernt, Menschenrechte zu fördern oder zumindest
nicht zu ihrer Verletzung beizutragen.

Seit den Unruhen in Tibet im März 2008 ruht ein besonderes Augenmerk auf der
Region. Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen hat sich die
Lage in Tibet seit den Unruhen auch noch nicht grundsätzlich gebessert. Nach
wie vor sind Dörfer und Klöster abgeriegelt, und es wird weiter mit Härte „auf-
geräumt“, was Inhaftierungen, so genannte patriotische Umerziehungsmaßnah-
men und andere Repressalien beinhaltet. Menschenrechte der Tibeterinnen und
Tibeter, vor allem ihre Rechte zur freien Ausübung ihrer Religion und dem
Schutz ihrer kulturellen Identität, bleiben stark eingeschränkt. Nicht weniger
dramatisch, dafür aber von der internationalen Gemeinschaft kaum beachtet,
werden die Rechte der Uigurinnen und Uiguren in der Autonomen Uigurischen
Region Xinjiang beschnitten. Die uigurische Bevölkerung stellt heute sieben bis
acht Millionen der 20 Millionen in China lebenden Muslime. Unter dem Gene-

ralvorwurf von Separatismus und Islamismus wird ihnen die freie Ausübung
ihres Glaubens weitgehend versagt. Damit einher gehen weitere schwere

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Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang wie die Einschränkung von Versamm-
lungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, wie Folter in Hafteinrichtungen
und Arbeitslagern und der Vollstreckung der landesweit meisten Todesurteile.

Das Thema Menschenrechte bzw. die Einschätzung der Fortschritte in der Men-
schenrechtslage bleibt auch vor den Olympischen Sommerspielen kontrovers
zwischen der Volksrepublik und einem Großteil „westlicher“ Staaten. Letztere
waren dabei in der Vergangenheit mit ihrer Kritik nicht immer glaubwürdig und
haben aufgrund eigener massiver Menschenrechtsverletzungen viel an Argu-
mentationskraft verloren und der Sache der Menschenrechte damit einen Bären-
dienst erwiesen. Es bleibt Aufgabe und Herausforderung, die universellen Men-
schenrechte gegenüber der Volksrepublik weiter anzusprechen, Fortschritte zu
würdigen, Kritik nicht zu verschweigen und die eigene Glaubwürdigkeit zu be-
wahren.

Es darf in der Kritik nicht ausgeblendet werden, dass viele Menschen in China
selbst ihre Lage als besser beurteilen im Vergleich zur Situation vor zehn oder
15 Jahren. Es muss auch berücksichtigt werden, dass es in der chinesischen
Regierung und in der Bevölkerung ein starkes Problembewusstsein gibt und das
Erkennen, dass ohne mehr politische Partizipation und Rechte der Einzelnen die
Unruhen im Land nur noch mehr zunehmen werden. Die größte Schwierigkeit
liegt hier in der Angst der Kommunistischen Partei (KPCh) vor einem Macht-
verlust – diese Angst verhindert derzeit weit gehende Änderungen hin zu effek-
tiver politischer Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern.

Eine ernsthafte Menschenrechtspolitik gegenüber China beruht auf Dialog und
Kooperation, aber auch auf Klarheit in der Beschreibung der Realitäten. Sie ist
langfristig angelegt und auf jeweils erreichbare Benchmarks konzentriert. Der
Deutsche Bundestag setzt sich weiter konsequent für den von BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN initiierten und unter der rot-grünen Bundesregierung begonne-
nen Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialog mit der Volksrepublik China ein.
Der Dialogansatz ist langfristig angelegt und erfordert den achtsamen Umgang
mit dem Dialogpartner sowie große Beharrlichkeit. Dieser Ansatz verbietet
Schulmeisterei ebenso wie Leisetreterei. Er beinhaltet ein klares Formulieren
der gegenseitigen Erwartungen und konkrete Zielvereinbarungen. Ein solcher
Dialogprozess kann auf Dauer dazu beitragen, dass sich die Menschenrechtslage
in China nachhaltig verbessert. Eine Politik dagegen, die China primär ausgren-
zen will, ist naiv und wird in keinem Bereich Erfolg haben.

Leider hat die Bundesregierung wiederholt gezeigt, dass sie kein Konzept einer
menschenrechtsorientierten China-Politik hat. Spätestens seit dem Empfang des
Dalai Lama durch die Bundeskanzlerin im Herbst 2007 streiten sich die Koa-
litionspartner öffentlich über den richtigen Umgang mit China und die Frage der
Menschenrechte. Der Deutsche Bundestag begrüßt zwar ausdrücklich, wenn
sich die Bundesregierung mit dem Thema Menschenrechte auseinander setzt; er
bedauert aber den endlosen Streit um die richtigen Mittel und Wege und kri-
tisiert, dass dabei allein Tibet ein Rolle spielte und die allgemeine Menschen-
rechtslage sowie die Situation anderer Minderheiten wie die der Uigurinnen und
Uiguren vollständig vernachlässigt wurde. Die offenkundige Konzeptlosigkeit
und der Streit darüber senden ein fatales Signal eigener menschenrechtspoli-
tischer Schwäche und schaden dem Ansehen der Bundesrepublik in Menschen-
rechtsfragen gewaltig.

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