BT-Drucksache 16/9308

Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen

Vom 28. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9308
16. Wahlperiode 28. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin Binder, Ulrich
Maurer, Monika Knoche, Dr. Lothar Bisky, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
Lutz Heilmann, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer
(Köln), Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion
DIE LINKE.

Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Bundesregierung hat trotz internationaler Kritik eine Exportkreditver-
sicherung über 93,5 Mio. Euro für die Beteiligung der ZÜBLIN AG am Bau
des Ilisu-Staudamms am Tigris im Südosten der Türkei bewilligt. Am
14. August 2007 sind die Bürgschaften mit Unterzeichnung der Liefer- und
Finanzierungsverträge wirksam geworden.

2. Zahlreiche Anwohner leisten gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms Wi-
derstand. Im September 2006 wurde der Bundesregierung ein Brief zuge-
stellt, den 35 000 Bewohnerinnen und Bewohner der Region unterzeichnet
haben. Darin fordern sie die Bundesregierung auf, dem Bau des Staudamms
die Unterstützung zu verweigern. Die Initiative „Rettet Hasankeyf“ hat eine
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht, die zugelassen wurde.

3. Im Bundestag wurde die Debatte um die Ausfuhrgewährleistungen (Hermes-
Bürgschaften) der Bundesregierung kritisch geführt. Sowohl die Fraktion
DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 16/2995) als auch die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 16/2626) hatten be-
reits im Jahr 2006 einen Antrag eingereicht, in dem sie die Bundesregierung
wegen der drohenden sozialen, ökologischen, menschenrechtlichen und
sicherheitspolitischen Gefahren des Staudammprojektes aufforderten, Her-
mes-Bürgschaften für das Ilisu-Staudammprojekt nicht zu bewilligen.

4. Im Februar 2008 legte eine internationale Expertenkommission im Auftrag
der Euler Hermes Kreditversicherung AG, der Österreichischen Kontroll-
bank AG und der Schweizerischen Exportrisikoversicherung einen Bericht
vor, der die in der Bundestagsdebatte geäußerten Befürchtungen bestätigte.
Der Bericht weist nach, dass die Türkei innerhalb der gewährten Frist zum

Dezember 2007 zahlreiche der an die Vergabe der Exportkreditgarantien ge-
knüpften 153 Auflagen nicht erfüllt hat. Die Experten stellen deutliche Män-
gel in der Einhaltung der internationalen Standards zum Schutz der Umwelt,
Kulturgüter und der Menschen fest und bestätigen nachdrücklich, dass die
Türkei sowohl internationale Auflagen als auch die Menschenrechte miss-
achtet hat und die ökologischen Folgen für den Wasserhaushalt und die bio-
logische Vielfalt unabsehbar sind.

Drucksache 16/9308 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

5. Im April 2008 räumte die Bundesregierung auf Frage der Abgeordneten Ute
Koczy ein, dass sie die Ergebnisse des Expertenberichtes „sehr besorgt“ zur
Kenntnis genommen habe (Bundestagsdrucksache 16/8714; Plenarprotokoll
16/153). Sie erkennt an, dass die türkischen Stellen mit der Erfüllung ihrer
Verpflichtungen im Verzug sind und dass die internationalen Weltbankstan-
dards nicht eingehalten wurden. Die im Bereich Umsiedlung bereits ein-
geleiteten Enteignungsverfahren bezeichnete die Bundesregierung als „nicht
akzeptabel“.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● aufgrund der sozialen, ökologischen, menschenrechtlichen und sicherheits-
politischen Bedenken,

● aufgrund der nicht hinnehmbaren Zerstörung des einzigartigen Kulturdenk-
mals Hasankeyf und

● der von der Türkei in diesem Zusammenhang nicht umgesetzten Verpflich-
tungen

die staatliche Ausfuhrgewährleistungen (Hermes-Bürgschaft) für das Ilisu-Stau-
dammprojekt ohne weitere Verzögerung zurückzuziehen.

Berlin, den 27. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Der Ilisu-Staudamm bedroht die Existenzgrundlage von 55 000 bis 78 000
Menschen. Mindestens 11 000 Menschen werden ihr gesamtes Land verlie-
ren. Im Zuge der Baumaßnahmen des Staudamms wurde im Herbst 2007 mit
ersten Enteignungen begonnen, entgegen den internationalen Auflagen und
Abmachungen. Die bisher erfolgten Entschädigungen lagen weit unter dem
internationalen Standard und reichen nicht zu einer Lebenssicherung der ver-
triebenen Menschen. Die bisher vorgeschlagenen Maßnahmen zur Wieder-
herstellung der Lebensgrundlage der betroffenen Menschen wurden ohne ihr
Einverständnis entwickelt und sind unzureichend.

2. Der Tigris ist ein grenzüberschreitender Fluss. Die Anrainerstaaten Syrien
und Irak sind von der Aufstauung des Wassers maßgeblich betroffen. Der
Ilisu-Staudamm ist Teil des groß angelegten Südostanatolien-Projektes
(GAP), dessen Finanzvolumen auf insgesamt 32 Mrd. US-Dollar geschätzt
wird und in dessen Rahmen zahlreiche weitere Aufstauungen von Euphrat
und Tigris vorgesehen sind. Dennoch hat die Türkei die betroffenen Anrai-
nerstaaten völkerrechtswidrig nicht in die Planung mit einbezogen. Insbeson-
dere in den wasserarmen Sommermonaten droht der Staudamm zu einer
Quelle internationaler Spannungen zu werden, wenn der Wasserdurchfluss
nach Syrien und in den Irak drastisch reduziert werden könnte. Hier zeichnen
sich drohende Konflikte um die Ressource Wasser mit unabsehbaren Folgen
ab.

3. Es existiert kein Umweltmanagementplan für einzelne Bauphasen und -akti-
vitäten. Der im Februar 2008 vorgelegte Bericht der Umweltexperten bewer-
tet die vorhandenen Abwasserbehandlungsanlagen in der Region als unzurei-

chend. Die Fortschritte bei Planung und Bau von drei weiteren Abwasserbe-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9308

handlungsanlagen im Projektgebiet liegen weit hinter dem Zeitplan zurück.
Studien zur Wasserqualität und Biodiversität wurden noch nicht erstellt, ob-
wohl der Bau des Staudamms voranschreitet und die Umwelt sich jetzt schon
maßgeblich und unwiederbringlich verändert. Solange die Auswirkungen des
Staudamms auf Wasserführung, Wasserqualität und Artenvielfalt der Region
ungeklärt sind, ist es unverantwortlich, mit dem Projekt weiter voranzu-
schreiten.

4. Die Sicherung der regionalen Trinkwasserversorgung und die Bewässerung
der türkischen Landwirtschaft sind für die ländliche Entwicklung von hoher
Bedeutung. Doch fanden im Zuge der Debatte einer nachhaltigen Wasser-
bewirtschaftung Alternativen zum Großstaudamm – wie z. B. der Bau von
Untergrundtalsperren – keine Beachtung.

Das Ilisu-Staudammprojekt droht unwiederbringliche Kulturgüter zu ver-
nichten. Im Falle der geplanten Flutung einer Landfläche von 313 Quadrat-
kilometern würden die immensen kulturellen Schätze der Jahrtausende alten
Stadt Hasankeyf und der Umgebung für immer untergehen. Die Stadt gilt als
eine der ältesten Siedlungen der menschlichen Zivilisation. Der Expertenbe-
richt zeigt auf, dass es keinen Projektplan zu den Ausgrabungs- und Erhal-
tungsmaßnahmen für die Kulturgüter gibt. Im Oktober 2007 räumte Melik
Ayaz als Verantwortlicher für Ausgrabungen und Forschungen des türkischen
Kultur- und Tourismusministeriums ein, dass Hasankeyf „nicht in 500 Jahren
Arbeit an einem anderen Ort“ wieder aufzubauen sei.

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