BT-Drucksache 16/9103

Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen

Vom 7. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9103
16. Wahlperiode 07. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde,
Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch, Bettina Herlitzius, Sylvia Kotting-Uhl,
Cornelia Behm, Silke Stokar von Neuforn, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
(Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid
Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs haben die USA, Großbritannien, die Sowjet-
union und die deutsche Marine große Mengen Munition und Kampfstoffe auf
dem Meeresgrund versenkt. Schätzungen gehen davon aus, dass allein an der
deutschen Nordseeküste heute noch mindestens 400 000 Tonnen konventionel-
ler Munition liegen. Dabei handelt es sich vorrangig um Minen, Torpedos, Bom-
ben und Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Für die gesamte Ostsee wird eine
aktuelle Belastung von mehreren 100 000 Tonnen konventioneller Munition an-
genommen, davon mindestens 30 000 Seeminen. Rüstungsaltlasten wie Bom-
ben, Seeminen und Torpedos gefährden Fischer, Strandbesucher, Taucher, Was-
sersportler, Fischbestände und das Meeresökosystem. Immer wieder werden
Menschen Opfer von Explosionen, Vergiftungen und Verbrennungen, verursacht
durch noch immer funktionsfähige Bomben und giftige Inhaltsstoffe. Freige-
setzte Phosphorbrocken verursachen schlimme Verbrennungen bei Strandgän-
gern, die angespülte Phosphorreste mit Bernstein verwechseln. Im vergangenen
Jahr zogen sich zwei Kinder am Strand der Ostseeinsel Fehmarn Verbrennungen
zu, als sie mit angetriebenen Phosphorresten in Berührung kamen. Gefährdet sind
auch Fischer, wenn sie mit den Netzen versehentlich Munition an Bord ziehen
und es zu Giftgasfreisetzungen oder einer Explosion kommt.

Aktuelle Messungen der Arsenkonzentration in Schollen aus der Ostsee des
Instituts für Toxikologie der Kieler Universität deuten darauf hin, dass die
Fische aus versenkter Munition freigesetztes Arsen aufgenommen haben. Beim
Menschen kann Arsen erhebliche Schäden verursachen. Rund 1 000 Tonnen
hochgiftiges Arsen sind in Kampfstoffen enthalten, die in der Nähe der Ostsee-
insel Bornholm und der schwedischen Insel Gotland versenkt wurden.
Die Hinweise auf mit den Giftgasen Chlorgas und Phosgen gefüllte Metall-
flaschen in der Lübecker Bucht verdeutlichen die Dringlichkeit einer Lösung. Es
ist nicht auszuschließen, dass giftige Munitionsinhaltsstoffe unter Wasser aus-
treten, Munition an Bord eines Fischkutters gelangt oder an Strände gespült
wird, wo sie erhebliche Schäden anrichten kann. Das Wracksuchschiff des Bun-
desamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie hat die 15 mit den hochgiftigen

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Kampfstoffen gefüllten Flaschen bisher nicht geortet, jedoch Munitionsreste ge-
funden.

Es ist zu erwarten, dass die Zahlen der durch Munitionsaltlasten verursachten
Unfallzahlen auch in der kommenden Hochsaison wieder steigen. Ohne Strate-
gie im Umgang mit den Munitionsaltlasten gefährden sie Menschen, Meeresum-
welt und Tourismusstandorte in den Küstenländern. Auf der Ferieninsel Usedom
weisen Schilder Bernsteinsammler auf das Phosphorproblem hin, ohne sie je-
doch eindringlich zu warnen. Regelmäßig kommt es trotz Schildern zu gravie-
renden Unfällen; unlängst verletzte sich Ostermontag 2008 eine junge Mutter
durch aufgesammelten Phosphor schwer. Doch nicht nur auf Usedom gefährdet
das explosive und giftige Erbe des Zweiten Weltkriegs Menschen und Meere-
sumwelt. Gefährliche Kampfmittel lagern in allen deutschen Küstengewässern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. als Mitglied des OSPAR-Abkommens den Abkommensforderungen so
schnell wie möglich nachzukommen mit dem Ziel, umfassende Untersuchun-
gen über die topographischen Koordinaten sowie Art und Umfang der ver-
senkten Munitionsaltlasten und Giftstoffe durchzuführen, verlässliche Zahlen
über topographische Koordinaten, Art und Umfang der Munitionsaltlasten in
Nord- und Ostsee vorzulegen und in einem laufend aktualisierten Munitions-
kataster zu veröffentlichen;

2. auf Grundlage des Datenmaterials schnellstmöglich eine umfassende Studie
über Gefährdungspotenziale für Menschen und das Meeresökosystem vorzu-
legen und schnellstmöglich für Menschen und Umwelt verträgliche Siche-
rungs- und Bergungsmaßnahmen zu prüfen. Hierfür sind innovative Metho-
den im Umgang mit den Munitionsaltlasten zu entwickeln, zu testen (Tests
eines Unterwasserschallschutzes wurden jüngst durchgeführt), finanziell zu
unterstützen und bei der Einschätzung der Bergungs- und Entsorgungsoptio-
nen zu berücksichtigen;

3. Transparenz und Regelungen zu schaffen sowie alle Informationen über
Unfallstatistiken, Munitionsverdachtsflächen, topographische Daten lokali-
sierter Munitionsfunde sowie Bergungs- und Entsorgungsmaßnahmen und
-kosten öffentlich zugänglich zu machen;

4. die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern hinsichtlich Führung und
Veröffentlichung von Unfallstatistiken, Bewertung von Munitionsverdachts-
flächen, Warnung und Aufklärung sowie Übernahme ggf. anfallender Entsor-
gungskosten zu klären und gesetzlich zu regeln;

5. regelmäßige Untersuchungen z. B. durch das Bundesamt für Seeschifffahrt
und Hydrographie zur Lage von Munitionsaltlasten durchzuführen mit dem
Ziel, die ökologische Belastung sowie das Gefahrenpotenzial für den Men-
schen einzuschätzen, seriöse Risikoanalysen zu ermöglichen und gegebenen-
falls Sicherungs- bzw. Bergungsmaßnahmen zu veranlassen;

6. die sofortige Eintragung aller mit Kampfmitteln belasteten Flächen ein-
schließlich Verdachtsflächen in die amtlichen Seekarten zu veranlassen;

7. eine gesetzliche Meldepflicht für alle Unfälle mit Munitionsaltlasten in Nord-
und Ostsee und an den Stränden einzuführen und eine umfassende, durch in-
tensive Aufarbeitung alter Unterlagen auch rückblickende Unfallstatistik
vorzulegen und kontinuierlich zu aktualisieren;

8. eine gesetzliche Meldepflicht für Kampfmittelfunde in der Fischerei einzu-
führen;
9. eine gesetzliche Meldepflicht für alle Kampfmittelverluste durch Bundes-
wehr und NATO-Verbände einzuführen;

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10. sicherzustellen, dass an gefährdeten Stränden gut sichtbare Warnhinweise
angebracht werden und sicherzustellen, dass potenzielle Gefahren an Tou-
rismusstandorten transparent und öffentlich gemacht werden;

11. die für die eventuelle Durchführung von Maßnahmen zur Bergung und
Sicherung notwendigen Informationen an die Bundesländer sowie auf inter-
nationaler Ebene bereitzustellen;

12. im Genehmigungsverfahren der geplanten Ostseepipeline und der bei Um-
weltverträglichkeitsprüfung im Rahmen der Espoo-Konvention die Frage
der in der Ostsee lagernden Munitionsaltlasten ausführlich zu behandeln
und auf Grundlage dieser Ergebnisse eine Risikoanalyse zu erstellen und
öffentlich zu diskutieren;

13. Russland aufzufordern, die topographischen Koordinaten aller russischen
Versenkungen in der Ostsee sowie Art und Umfang der versenkten Gift-
stoffe offenzulegen;

14. in Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und unter Einbeziehung
aller Ostseeanrainer sowie ggf. anderer interessierter Staaten Vorschläge zur
Entsorgung der militärischen Altlasten im Raum Kaliningrad zu erarbeiten
und umzusetzen;

15. sich gegenüber der Europäischen Kommission und den anderen EU-Mit-
gliedstaaten dafür einzusetzen, das Problem der Munitionsaltlasten in der
europäischen Meerespolitik angemessen zu berücksichtigen und auf euro-
päischer wie internationaler Ebene entsprechende Regelungen zu finden;

16. sich gegenüber der Europäischen Kommission und den anderen EU-Mit-
gliedstaaten dafür einzusetzen, dass entsprechend der Vorgabe der Meeres-
strategie-Richtlinie, bis zum Jahr 2020 einen guten Umweltzustand der
Meere zu erreichen, bis spätestens zum Jahr 2015 Strategien und Verfahren
im Umgang mit den Munitionsaltlasten erarbeitet und implementiert wer-
den;

17. sich gegenüber der Europäischen Kommission und den anderen EU-Mit-
gliedstaaten für ein sofortiges Verbot der Grundschleppnetzfischerei in allen
ausgewiesenen Kampfmittelflächen einzusetzen;

18. sich in einem ersten Schritt dafür einzusetzen, eine Selbstverpflichtung auf
Erstellung eines Munitionskatasters sowie einer Unfallstatistik in regionale
Meeresschutzabkommen wie z. B. den Baltic Sea Action Plan der Helsinki-
Kommission aufzunehmen und entsprechende Selbstverpflichtungen in
weiteren regionalen Abkommen z. B. in der Schwarzmeerregion und dem
kaspischen Raum zu verankern;

19. allen betroffenen und interessierten Staaten auf bi- und multilateraler Ebene
eine Zusammenarbeit in dieser Frage vorzuschlagen mit dem Ziel, ein um-
fassendes Programm für nationale Aktivitäten und internationale Zusam-
menarbeit zur gemeinsamen umweltgerechten und sicheren Entsorgung der
Altlasten vorzulegen;

20. Vorschläge zur nationalen und internationalen Zusammenarbeit und Finan-
zierung des zu erarbeitenden umfassenden Programms zur Entsorgung mili-
tärischer Altlasten in Nord- und Ostsee zu unterbreiten.

Berlin, den 7. Mai 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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Begründung

In der Kieler Außenförde wurden um die 8 000 Torpedosprengköpfe, rund
10 000 Seeminen und unzählige Wasserbomben versenkt. Allein bis zu
65 000 Tonnen Munition mit den Kampfstoffen Senfgas, Tabun, Phosgen,
Adamsit und Clark sind vor der Flensburger Förde, bei Bornholm und Gotland
versenkt worden (Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie: Chemische
Kampfstoffmunition in der südlichen und westlichen Nordsee, Hamburg 1993).
Große Gebiete im Skagerrak zwischen Dänemark und Norwegen und um die
Ferieninsel Bornholm sind inzwischen für die Fischerei gesperrt. In der Nordsee
werden allein im Bereich des Skagerraks etwa 170 000 Tonnen Kampfstoff-
munition vermutet.

Doch auch aus versenkter Bundeswehr-, NVA-, Sowjet- oder NATO-Munition
erwachsen neue Gefahren. Durch die anhaltende Nutzung der Küstengewässer
als Schieß- und Einsatzgebiete für Bundeswehr- und NATO-Verbände findet ein
kontinuierlicher Eintrag neuer Munition statt. Diese bildet aufgrund der vielen
Blindgänger eine wachsende Gefahrenquelle, die nicht unterschätzt werden darf
und bereits erste Opfer gefordert hat.

Ein Großteil der Munitionsaltlasten ist auf Seekarten eingezeichnet, ohne dass
jedoch bis heute bekannt ist, was dort jeweils in welchen Mengen und in wel-
chem Zustand liegt. Die Verstreuung ist zudem sehr weiträumig, auch weil Mee-
resströmung und Fischerei die Altlasten zum Teil über ausgedehnte Gebiete ver-
teilen. Lageanalysen bergen also einen gewissen Unsicherheitsfaktor. Daher
sind regelmäßige Untersuchungen zur Lage der Altlasten eine Grundvorausset-
zung für seriöse Risikoanalysen. Verkompliziert wird die genaue Ortung vor
allem in der Ostsee durch die Weigerung Russlands, alle Erkenntnisse und Un-
terlagen zu russischen Versenkungen offenzulegen. Es gibt bisher nur unbestä-
tigte Berichte, dass Russland bis Ende der 1980er Jahre bis zu 300 000 Tonnen
eigene Kampfstoffmunition in der Ostsee entsorgt haben soll.

Gefährdungspotenziale

Verletzungen oder Vergiftungen werden teilweise schon durch einfachen Haut-
kontakt ausgelöst. Da viele Kampfmittel ihre giftige oder explosive Wirkung
über Jahrhunderte behalten, bleibt die Gefahr bestehen. Je länger die Altlasten
am Meeresboden liegen, desto höher das Risiko, dass die Metallmäntel durch-
rosten und Giftstoffe freigesetzt werden, fürchten Experten. Fachleute schät-
zen, dass seit Ende des Zweiten Weltkriegs allein in Deutschland mindestens
283 Menschen durch Munition in der Nord- und Ostsee getötet und mindestens
298 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden (Nehring, Stefan: Pulverfass
Ostsee & Pulverfass Nordsee, Zeitschrift Waterkant, Dezember 2007 und März
2008). Die Dunkelziffer ist vermutlich erheblich höher. Belastbare Daten zur
Häufigkeit und Intensität von Unfällen stellen Bund und Länder jedoch nicht
zur Verfügung. Im Gegensatz zu Dänemark, wo innerhalb der vergangenen
20 Jahre durchschnittlich pro Jahr mehr als 20 Vorfälle mit versenkten Kampf-
stoffen gezählt wurden, führt der Bund kein Verzeichnis über Unfälle mit Mu-
nitionsaltlasten. Eine rechtliche Verpflichtung zum Führen einer Unfallstatistik
besteht weder auf Bundes- noch auf Länderebene. Nach Angaben des damali-
gen schleswig-holsteinischen Innenministers Ralf Stegner vom 17. Januar 2007
führt Hamburg eine zentrale Statistik für alle Bundesländer. Dagegen erklärt
der Hamburger Senat, keine Statistik über Unfälle in der Nord- und Ostsee mit
Munitionsaltlasten zu führen (Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der
Abgeordneten Manuel Sarrazin und Antje Möller (GAL) vom 28. November
2006, Drucksache 18/5311). Der Landesregierung Schleswig-Holsteins liegen
nach Auskunft von Ministerpräsident Peter Harry Carstensen keine exakten
Unterlagen über Verklappungsmaßnahmen nach Ende des Zweiten Weltkriegs

vor (Antwort auf den Brief von Rainder Steenblock vom 22. Februar 2006).

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Solange die Munition auf dem Meeresgrund liege, gehe von den Kampfmitteln
keine Gefahr aus, so die häufige Reaktion der Landesbehörden. Tatsächlich ge-
hen die Einschätzungen über den angemessenen Umgang mit den Altlasten
auseinander.

Ungeklärte Zuständigkeiten erschweren ein abgestimmtes Vorgehen

Doch nicht nur die Entscheidung über den fachgerechten Umgang verzögert ein
entschlossenes Vorgehen, sondern auch teils ungeklärte Zuständigkeiten zwi-
schen Bund und Ländern und damit die Frage, wer eventuelle Bergungs- und
Sprengungsmaßnahmen bezahlt. Sicherung, Bergung und gegebenenfalls Besei-
tigung der Altlasten sind ein erheblicher Kostenfaktor. Die Zuständigkeiten und
damit auch die Verantwortung für eventuell anfallende Kosten sind jedoch häu-
fig nicht eindeutig geregelt. Die Beseitigung wird in aller Regel von den landes-
eigenen Munitionsräumdiensten durchgeführt, in einigen Fällen wird die Marine
unterstützend tätig. Inzwischen entsorgen nicht mehr nur staatliche Räum-
dienste, sondern vermehrt auch private Unternehmen. Die Kosten für die Besei-
tigung so genannter reichseigener Munition und Kampfstoffe übernimmt der
Bund, die Bundesländer zahlen für die Entsorgung alliierter Munition und
Kampfstoffe. Häufig sind die Zuständigkeiten jedoch strittig zwischen der
Schifffahrtsdirektion des Bundes und den Ämtern für Katastrophenschutz, die
den Innenministerien der Länder unterstellt sind.

Ostseepipeline

Akut wird die Frage nach dem Umgang mit den Munitionsaltlasten beim geplan-
ten Bau der Ostseepipeline. Die schwedische Regierung hat jüngst den Bau-
antrag der Betreibergesellschaft Nord Stream als „unzureichend“ und „lücken-
haft“ abgelehnt. Nord Stream hatte den geplanten Streckenverlauf in schwe-
dischen Hoheitsgewässern nach Munitionsaltlasten abgesucht, aber nach eige-
nen Angaben keine relevanten Funde gemacht. Im April 2008 wird Nord Stream
im Rahmen der Espoo-Konvention über grenzüberschreitende Umweltverträg-
lichkeitsprüfungen eine Analyse vorlegen, der alle Ostseeanrainer zustimmen
müssen. Für das Frühjahr 2008 wird der Bauantrag von Nord Stream bei der
Bundesregierung erwartet. Bestandteil der Unterlagen werden auch Angaben zu
eventuellen Munitionsaltlasten im geplanten Streckenkorridor sein.

Kaliningrad

Der Raum Kaliningrad stellt sowohl see- als auch landseitig die wahrscheinlich
dichteste Anhäufung großer Mengen militärischer Altlasten im Ostseeraum dar.
Experten gehen davon aus, dass beim Rückzug der Deutschen Wehrmacht große
Mengen konventioneller Munition an Land zurückgelassen bzw. in der Ostsee in
gefährlicher Nähe zum Festland versenkt wurden. Hinzu kommen die großen
Mengen der nach dem Zweiten Weltkrieg im Gebiet Kaliningrad gelagerten
Waffen und Munition. Die Russische Föderation hat in der OSZE auf die von
diesen Altlasten ausgehenden Gefahren aufmerksam gemacht und eine interna-
tionale Zusammenarbeit bei der Entsorgung vorgeschlagen.

Neue Verfahren im Umgang mit Munitionsaltlasten

Unter Experten ist umstritten, welche Methoden den größtmöglichen Schutz vor
einem unkontrollierten Austritt der giftigen Munitionsinhaltsstoffe bieten.
Außerdem ist im Umgang mit den Altlasten nach Art der Munition zu unter-
scheiden.

Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass Ummantelungen von Munition durchros-
ten und porös werden. Das Einsammeln solcher Munition kann jedoch unter

Umständen genau jene Explosionen vorzeitig auslösen, die mit der Bergung ver-
mieden werden sollten. Daher plädieren einige Experten dafür, die Altlasten auf

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dem Meeresgrund liegen zu lassen. Die Folgen können allerdings unkontrol-
lierte Explosionen unter Wasser und schwerwiegende bis tödliche Auswirkun-
gen auf Schiffsverkehr, Off- und Nearshore-Aktivitäten und Meeresumwelt
sein. Die Altlasten auf dem Meeresgrund zum Schutz vor unkontrollierten Ex-
plosionen zuzuschütten bzw. abzukapseln, bietet nur bedingt langfristig Schutz,
da Ummantelungen möglicherweise porös werden und Giftstoffe austreten
könnten.

Eine weitere Möglichkeit ist die kontrollierte Sprengung unter Wasser. Bei die-
ser Methode können allerdings ebenfalls Giftstoffe frei werden. Darüber hinaus
gefährden Explosionen Meeressäuger wie die ohnehin bedrohten Schweinswale.
Durch die Druckwelle und den Schalldruck bei der Sprengung eines Groß-
kampfmittels werden Meeressäugetiere in einer Entfernung von vier Kilometern
getötet. Somit stehen die Sprengungen aus Sicht von Natur- und Umweltschutz-
verbänden im Widerspruch zu EU- und Völkerrechtsverträgen wie der FFH-
Richtlinie und dem Übereinkommen zur Erhaltung der wandernden wild leben-
den Tierarten (Bonner Konvention).

Der aktuelle Kenntnisstand reicht nicht aus, um die unterschiedlichen teils neuen
Verfahren abschließend zu bewerten. Daher sollten innovative Bergungs- und
Entsorgungsmethoden, die sich zum Teil in der Anwendungs-, zum Teil in der
Erprobungsphase befinden, geprüft und finanziell gefördert werden. Möglicher-
weise bieten sie Alternativen zu herkömmlichen Verfahren und erfordern gege-
benenfalls eine neue Einschätzung und Bewertung der bisherigen Bergungs- und
Entsorgungsoptionen: Eine innovative Lösungsoption ist der Einsatz eines Bla-
senvorhangs bei der kontrollierten Sprengung unter Wasser, der Lärm und Druck
vermindert. Das Verfahren wird zurzeit getestet. Weitere Alternativen können
beispielsweise die Munitionsbeseitigung mit UV-Licht und die Bergung durch
Vereisung sein. Dabei sollen die Explosionsgefahr beim Heben der Munition
minimiert und der Weitertransport gesichert werden, um die Munition dann kon-
trolliert fachgerecht an Land zu entsorgen.

Europäische Meerespolitik blendet Munitionsaltlasten aus

Auf europäischer Ebene wird das Problem der Munitionsaltlasten bisher weitge-
hend ausgeblendet. Im so genannten Blaubuch mit dem Titel „Eine integrierte
Meerespolitik für die Europäische Union“ der Europäischen Kommission vom
Oktober 2007 werden die Munitionsaltlasten nicht berücksichtigt. Das Euro-
päische Parlament hatte jedoch auf Initiative der Fraktion The Greens/EFA For-
derungen zum Umgang mit Munitionsaltlasten in seine Resolution zur Meeres-
strategie-Richtlinie aufgenommen. In der nun verabschiedeten Meeresstrategie-
Richtlinie werden die Munitionsaltlasten jedoch nicht erwähnt. Die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft hat die Chance verstreichen lassen, den Umgang mit
Munitionsaltlasten zum Thema einer europäischen Meerespolitik zu machen.

Regionale Abkommen

Laut dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
hat sich die Bundesregierung im Rahmen der Helsinki-Kommission zum Schutz
der Ostsee mit Munitionsaltlasten befasst, gehe aber nicht von einer großräumi-
gen Gefährdung aus; die Aussage beschränkt sich jedoch nur auf die bekannten
Versenkungen von Kampfstoffen. Die Meeresschutzkonvention OSPAR (Con-
vention for the Protection of the Marine Environment of the North-East Atlantic,
unterzeichnet 1992 in Oslo und Paris) fordert die Mitglieder auf, alle Informa-
tionen über Gebiete, in denen Munitionsaltlasten geortet wurden, zu sammeln
und zu veröffentlichen. Die Aufnahme einer entsprechenden Selbstverpflichtung,
ergänzt um eine umfassende Unfallstatistik, wäre ein sinnvoller erster Schritt, die
Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee zu entschärfen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/9103

Expertise der Bundesrepublik Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland hat sowohl bei der umfassenden Entsorgung
der militärischen Altlasten der ehemaligen NVA und der Westgruppe der Russi-
schen Streitkräfte als auch im Rahmen verschiedener multilateraler Entsor-
gungsprogramme (G8, OSZE, NATO, EU u. a.) einmalige Erfahrungen gesam-
melt, deutsche Firmen verfügen über Spitzentechnologien und Verfahren. Aus-
gehend von diesen Erfahrungen und auch angesichts der Herkunft der Altlasten
sollte die Bundesregierung eine internationale Initiative zur Entsorgung militä-
rischer Altlasten in Nord- und Ostsee und die Bereitschaft zur Koordinierung
dieser Initiative erklären.

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