BT-Drucksache 16/9069

Europäische Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nehmen

Vom 7. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9069
16. Wahlperiode 07. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Rainder Steenblock, Dr. Uschi Eid,
Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller
(Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Jürgen
Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Staaten des Westlichen Balkans sind untrennbarer Teil Europas. Der Deut-
sche Bundestag bekräftigt seine Überzeugung, dass alle Nachfolgestaaten
Jugoslawiens baldmöglichst Mitglieder der Europäischen Union (EU) werden
sollen.

Die Ausgangsbedingungen für einen EU-Beitritt Bosnien-Herzegowinas, als
dem bis 1995 am meisten von Krieg, Zerstörungen und Vertreibungen betroffe-
nen Teil des früheren Jugoslawien, sind besonders schwierig. Bosnien-Herzego-
wina erhält deshalb besondere Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten,
darunter Deutschland, für die notwendigen Reformschritte. Der Deutsche Bun-
destag begrüßt im Bewusstsein dessen die Reformfortschritte der jüngsten Zeit,
die zur Bereitschaft der EU zum Abschluss eines Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommens mit Bosnien-Herzegowina geführt haben. Er ist überzeugt,
dass dieses Abkommen die Fortschritte auf dem Weg in die EU beschleunigen
wird.

Gleichwohl sind noch viele Schritte bis zum Beginn von Beitrittsverhandlun-
gen zur EU zu gehen. Die bisherigen Beschlüsse zur Polizeireform genügen
den Standards der EU nicht oder sind vertagt worden; die Verwaltungsreform
und die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stecken inhaltlich noch in
den Anfängen.

Insgesamt ist festzustellen: Die aus dem Vertrag von Dayton resultierende Ver-
fasstheit Bosnien-Herzegowinas genügt den Anforderungen an die Reformen
der Zukunft nicht. Der Gesamtstaat ist gegenüber den Befugnissen der Entitä-
ten zu schwach, die Entscheidungsmechanismen zu schwerfällig, die adminis-
trativen Strukturen zu kompliziert. Die Teilung des Landes in ethnisch definierte
Einheiten mit eigenen Legislativen und Exekutiven behindert die gesamtstaat-
liche Integration und fördert inadäquate Entscheidungen. Auf diese Weise wird

die institutionalisierte Distanz zwischen den Volksgruppen zementiert.

Der Deutsche Bundestag ermutigt die Amts- und Mandatsträger in Bosnien-
Herzegowina zu einer tiefgreifenden Verfassungsreform, die die gegenwärtige
Nachkriegsordnung überwindet und an einem multiethnischen, staatsbürgerli-
chen Verständnis des Landes orientiert ist. Er ist überzeugt, dass deren Umset-
zung die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche und ökonomische Dyna-
mik schafft, die den Beitritt des Landes zur EU erst ermöglicht.

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Das Land bedarf hierfür der nicht nachlassenden Unterstützung durch die inter-
nationale Gemeinschaft und vor allem durch die EU. Der Deutsche Bundestag
befürwortet ausdrücklich die weitestgehende Übertragung von Kompetenzen
auf die demokratisch gewählten Institutionen Bosnien-Herzegowinas; die Poli-
tik der so genannten bosnian-hercegovinian ownership. Nur so kann die Eigen-
verantwortlichkeit gestärkt werden. Die Institution des Hohen Repräsentanten
von UN und EU einschließlich seiner weitgehenden Befugnisse, der so ge-
nannte Bonn powers, bleibt dennoch bis auf weiteres notwendig. Dies hat die
Vergangenheit schmerzlich gezeigt. Der Deutsche Bundestag ist sich der Pro-
blematik dieser Befugnisse und ihrer zuweilen negativen Auswirkungen auf die
Motivation und das demokratische Verständnis der bosnisch-herzegowinischen
Partner bewusst. Er ist jedoch der Überzeugung, dass mit Augenmaß getroffene
Entscheidungen des Hohen Repräsentanten dem Land nützen. Der Deutsche
Bundestag spricht in diesem Zusammenhang dem Hohen Repräsentanten
Miroslav Lajcak sein Vertrauen aus und dankt seinen Vorgängern für die ver-
antwortungsvolle Erfüllung ihrer schwierigen Aufgabe.

Teil der Unterstützung der EU muss wie auch im Fall anderer Staaten in ihrer
Nachbarschaft die Beseitigung bestehender Hindernisse für Besuchs- und Stu-
dienreisen aus Bosnien-Herzegowina sein. Der intensive Kontakt mit den Län-
dern der EU, ihren Institutionen und Zivilgesellschaften wird die Annäherung
an die Standards der Union und ihre Maßstäbe erleichtern und beschleunigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich innerhalb der EU und bilateral einzusetzen für
● die konsequente Aufrechterhaltung der Forderung nach Erfüllung der

Kopenhagener Kriterien und ihrer spezifischen Anwendung auf Bosnien-
Herzegowina als Maßstab für die Beitrittsfähigkeit zur Europäischen Union;

● die Aufrechterhaltung des OHR einschließlich seiner weitgehenden Ein-
griffsbefugnisse ohne formale zeitliche Begrenzung;

● den Beginn einer Verfassungsreform mit dem Ziel der Einlösung des multi-
ethnischen Anspruchs als Maßstab für die innere Verfasstheit Bosnien-
Herzegowinas noch im Jahr 2009 und ihre zügige Durchführung bis zu den
Parlamentswahlen im Oktober 2010;

● eine Stärkung des bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaats im Rahmen der
Verfassungsreform, die diesem die Kompetenzen für alle in den zukünftigen
Beitrittsverhandlungen relevanten Politikbereiche zuordnet;

● eine Verwaltungsreform, die unter Beibehaltung des föderalen Charakters
des Staates die gegenwärtige nach ethnischen Gesichtspunkten definierte
territoriale und personelle Struktur überwindet und modernen verwaltungs-
wissenschaftlichen und menschenrechtlichen Erfordernissen gerecht wird;

● eine in der Verfassung geregelte Zuständigkeit des Gesamtstaats für die Ent-
schädigung für im Zusammenhang mit dem Krieg 1992 bis 1995 erlittenes
Unrecht;

● die umfassende Kooperation der zuständigen Institutionen auf allen staat-
lichen Ebenen in Bosnien-Herzegowina mit dem Internationalen Gerichts-
hof zu Jugoslawien in Den Haag, insbesondere die Auslieferung aller Ange-
klagten und Beschuldigten;

● die Weiterarbeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag über das
Jahr 2010 hinaus angesichts der noch ausstehenden Auslieferung einer
Reihe von Angeklagten und der langen Dauer laufender Prozesse;

● die zügige und umfassende Umsetzung des Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommens in allen politischen und wirtschaftlichen Bereichen;
● die Etablierung eines gesamtstaatlichen öffentlich-rechtlichen Senders für
Bosnien-Herzegowina;

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● die konsequente Weiterentwicklung der Polizeireform mit dem Ziel entitäts-
übergreifender und damit multiethnischer Polizeibezirke;

● die umgehende Aufnahme eines Dialogs mit Bosnien-Herzegowina mit dem
Ziel schnellstmöglicher Abschaffung der Visapflicht parallel zu den anderen
Staaten des Westlichen Balkans.

Berlin, den 7. Mai 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung
Der Vertrag von Dayton, bis heute die konstitutive Grundlage des Staates
Bosnien-Herzegowina (BiH), hatte die Aufgabe, den Krieg 1995 zu beenden.
In dieser Leistung und dem seitdem herrschenden Frieden besteht sein his-
torischer Verdienst. Als Verhandlungsergebnis ist er Ausdruck einer Gleich-
behandlung von Tätern und Opfern sowie der Akzeptanz der zum Ende des
Krieges dominanten nationalistischen Kräfte auf allen Seiten innerhalb Bos-
nien-Herzegowinas und seiner Nachbarstaaten Serbien und Kroatien. Die EU
und ihre Mitgliedstaaten haben als wesentlicher Teil des Verhandlungsprozes-
ses und Nachbarn des Krieges Mitverantwortung sowohl für dieses Resultat als
auch für dessen notwendige Überwindung übernommen.

Das Ergebnis der Implementierung des Vertrags von Dayton ist ein Staat, der
als Gesamtstaat nur über jene minimalen Kompetenzen verfügt, die seine Aner-
kennung überhaupt möglich machten. Zwar sichert er prinzipiell die universell
gültigen Grundrechte und Freiheiten der Staatsbürger, überlässt aber den weit-
aus größten Teil ihrer Umsetzung und der staatlichen Entwicklung insgesamt
den ethnisch definierten Entitäten und Kantonen. Um den daraus resultierenden
Entwicklungshemmnissen zu begegnen, unterliegen seit Inkrafttreten des Ver-
trags alle staatlichen Entscheidungen, gleich auf welcher administrativen
Ebene, dem Vetorecht des Hohen Repräsentanten von VN und EU (OHR). Ver-
suche, diese internationale Aufsicht zu beenden, zumindest ihre Kompetenzen
zu reduzieren oder wenigstens nur eingeschränkt wahrzunehmen, sind geschei-
tert. Die Präsenz des OHR und die Aufrechterhaltung seiner Befugnisse sind
weiterhin notwendig. Denn trotz unzweifelhafter Fortschritte im Kleinen und
erstarkender nichtnationalistischer Parteien, insbesondere auf kommunaler
Ebene, sind die sich gegenseitig misstrauenden und die gesamte Entwicklung
hemmenden nationalistischen Kräfte die dominierenden Faktoren in der Politik
Bosnien-Herzegowinas geblieben. Ausschlaggebendes Kriterium für die politi-
schen, administrativen und personellen Entscheidungen aller staatlichen Ebenen
sind nach wie vor die partikularen Interessen ethnischer Gruppen. Sie verhin-
dern nicht nur eine dringend notwendige gesellschaftliche und wirtschaftliche
Dynamik, die den Staat zu einer sich selbst tragenden sozialen Marktwirtschaft
befähigen würden; sie stehen auch einem gesamtstaatlichen Selbstbewusstsein
aller Bürger Bosnien-Herzegowinas entgegen. Die notwendige Überwindung
von Misstrauen zwischen den Repräsentanten der Volksgruppen erfordert mehr
Zeit und Engagement als ursprünglich angenommen. Durch die so genannten
Bonn Powers erzwungenen Verwaltungsakte können diesen Prozess nicht er-
setzen. Sie können jedoch Fehlsteuerungen vermeiden und Weichenstellungen
ermöglichen.

Weder geschriebene Verfassung noch Verfassungswirklichkeit entsprechen den
Standards, wie sie für die Aufnahme in die EU gefordert werden müssen. So

hat der Gesamtstaat derzeit nicht die Kompetenzen, die für eine verantwortliche
Führung von Beitrittsverhandlungen zur EU erforderlich wären. Um die Vor-

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aussetzungen hierfür erfüllen zu können, muss der Dominanz ethnisch definier-
ter Interessenvertretungen die Grundlage entzogen werden. Solange diese sich
auf die Verfassung des Vertrags von Dayton berufen können, werden diese Vor-
aussetzungen fehlen. Sie sind nur mit einer umfassenden Verfassungsreform
möglich, auf der Reformen wesentlicher staatlicher Regelungsbereiche auf-
bauen können. Bisherige Versuche einer solchen Reform sind nach Einschät-
zung von Experten trotz einer Reihe von Fortschritten inhaltlich unzureichend
geblieben. Ungeachtet dessen scheiterten sie im parlamentarischen Verfahren,
zuletzt im April 2006.

Die im April 2008 nach jahrelangen Verhandlungen beschlossene Polizei-
reform erfüllt aus zwei Gründen nicht die in sie gesetzten Hoffnungen auf eine
qualitative Überwindung der ethnisch definierten Entscheidungsprozesse und
Kompetenzen: Sie tritt erst ein Jahr nach Annahme einer neuen Verfassung mit
gleichem Ziel in Kraft, und sie erhält die ethnische Zuordnung der Polizeibe-
zirke. Ein Koordinierungsgremium als Aufsichtsinstanz der Zentralregierung,
aber ohne Kommandogewalt kann dies nicht ausgleichen. Nur dieser Beschrän-
kungen wegen war die Annahme durch die Regierungsparteien der Republika
Srpska möglich.

Weitere ursprüngliche Bedingungen für die Unterzeichnung eines Stabilisie-
rungs- und Assoziierungsabkommens wie die Reform des öffentlich-recht-
lichen Rundfunks und die Verwaltungsreform sind nicht erfüllt und wurden sei-
tens der EU fallengelassen.

Unverzichtbarer Bestandteil der Bildung einer gesamtstaatlichen Identität und
eines entsprechenden staatsbürgerlichen Bewusstseins ist die Aufarbeitung der
Vergangenheit. Hier fehlen noch wesentliche Fortschritte. Der Umstand, dass
eine Reihe mutmaßlicher Kriegsverbrecher, die vor dem Internationalen Ge-
richtshof in Den Haag angeklagt sind, darunter Radovan Karadzic, weiterhin
nicht gefasst sind, ist dafür symptomatisch. Das Problem ist jedoch weit umfas-
sender. So wurde auch im Entwurf einer reformierten Verfassung im Jahr 2006
die Zuständigkeit für die Entschädigung für erlittenes Unrecht den Entitäten zu-
geordnet. Da diese in erster Linie als Interessenvertretungen der in ihnen leben-
den ethnischen Mehrheiten agieren, bliebe so eine angemessene Wiedergutma-
chung für die Opfer innerhalb der jeweiligen Minderheiten fraglich.

Die Unterzeichnung und Inkraftsetzung eines Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommens ist vor dem Hintergrund der realen Situation und in Kenntnis
der nicht erfüllten Voraussetzungen für einen solchen Schritt eher als Demonst-
ration der Heranführungsstrategie seitens der EU anzusehen, denn als Anerken-
nung der fortgeschrittenen Entwicklung Bosnien-Herzegowinas. Gleichwohl
wird so der Beschluss der EU aus dem Jahr 2003 bekräftigt, Bosnien-Herzego-
wina wie alle Staaten des Westlichen Balkans als Teil Europas zu sehen und
ihm auf dem Weg in die EU jede mögliche Unterstützung anzubieten. Dazu ge-
hört nicht zuletzt die Erleichterung der Visavergabe bis hin zur Abschaffung
der Visapflicht, die es Menschen aus Bosnien-Herzegowina nicht zuletzt auch
finanziell ermöglichen muss, in die Staaten des Schengen-Abkommens einzu-
reisen. Diese dient der notwendigen Vertiefung gesellschaftlicher und wirt-
schaftlicher Kontakte.

Notwendig für einen erfolgreichen Weg in die EU bleibt die Erfüllung der Vor-
aussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft durch den Staat Bosnien-Herzego-
wina. Die Attraktivität der EU speist sich nicht zuletzt aus ihren hohen
demokratischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Standards, die auch der
Maßstab für einen Beitritt sind.

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