BT-Drucksache 16/9028

Kein Kind zurücklassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen

Vom 30. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9028
16. Wahlperiode 30. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Dr. Harald Terpe,
Grietje Staffelt, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann,
Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Josef Philip
Winkler, Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Ulrike Höfken
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Kind zurücklassen – Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Deutschland beraubt sich seiner Zukunft – Kinderarmut in Deutschland

Traurige Realität ist, dass sich Kinderarmut in Deutschland immer weiter aus-
breitet. Bereits in den 1990er Jahren prägten Armutsforscher den Begriff „Infan-
tilisierung der Armut“. Bis heute wächst eine bedrückend hohe Zahl von Kin-
dern in Lebenslagen auf, die durch Armut bestimmt sind und die es ihnen nicht
ermöglichen, ihre Kindheit frei und unbeschwert zu verleben.

Nach den jüngsten revidierten Daten der Bundesagentur für Arbeit lebten im
Oktober 2007 1 873 533 Kinder unter 15 Jahren in Familien, die Arbeitslosen-
geld II bezogen. Einschließlich der Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren
sowie der Kinder, deren Eltern Sozialhilfe oder Leistungen nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz beziehen, ergibt sich eine Zahl von insgesamt über
2,5 Millionen Kindern, die auf dem Niveau von Sozialhilfe leben. Aber auch
Kinder, die knapp oberhalb der Grenze des Arbeitslosengeldes II leben, sind von
Armut bedroht. Dazu zählen insbesondere die rund 124 000 Kinder, die den
Kinderzuschlag nach § 6a des Bundeskindergeldgesetzes erhalten, aber auch die
Kinder, deren Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen ihnen zustehende
Leistungen nicht in Anspruch nehmen und in verdeckter Armut leben.

Im Kinderreport 2007 wird verdeutlicht, dass man eigentlich von doppelter Kin-
derarmut sprechen muss, denn die Zahl der jährlichen Geburten hat sich seit
1965 nahezu halbiert, der Anteil der Kinder, die von Sozialhilfe bzw. Arbeits-
losengeld II leben ist im gleichen Zeitraum aber um fast das Sechzehnfache ge-
stiegen. Bezog 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren auf Dauer oder zeit-
weise Sozialhilfe, traf dies im Jahr 2006 auf mehr als jedes sechste Kind ins-
gesamt zu. In manchen Regionen stellt sich die Situation noch gravierender dar.
So lebten zum Beispiel in Berlin 40 Prozent der 25 000 Ende August 2007 ein-
geschulten Kinder von Hartz IV.

Die Start- und Lebenschancen von Kindern hängen noch immer stark von der
sozialen Herkunft ab. So sind Kinder auch nicht per se arm, sondern die Fa-
milien in denen sie leben. Diese Familien weisen wiederum bestimmte, meist
mehrere, Armutsrisiken auf. Ein-Elternfamilien, Familien mit Migrationshinter-
grund, Familien mit mehr als drei Kindern, Familien mit erwerbslosen Eltern

Drucksache 16/9028 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

und Familien, in denen die Eltern über einen niedrigen Bildungsabschluss
verfügen, sind überproportional von Armut betroffen. Da der soziale Status der
Eltern weitgehend den Bildungserfolg ihrer Kinder bestimmt, verfestigen sich
Armutslagen und drohen sich über Generationen zu vererben.

Kinder, die in Armut leben, machen nicht nur die Erfahrung, was es bedeutet,
wenig Geld zu haben, sondern sie sehen sich vielfältigen Formen der Benach-
teiligung ausgesetzt. Diese wiederum beeinflussen nicht nur ihre derzeitige
Lebenssituation negativ, sie stellen auch eine schwere Hypothek für ihr weiteres
Leben dar: Erfahrene Armut im Kindesalter bestimmt in nicht hinnehmbarer
Weise den späteren Lebensweg des Kindes – und damit einhergehend die
Zukunftschancen der gesamten Gesellschaft. Armut von Kindern stellt in einer
Wissensökonomie wie in der Bundesrepublik Deutschland ein gesamtgesell-
schaftliches Entwicklungshemmnis dar, das sich durch den demografischen
Wandel zusätzlich verschärft.

Armut zieht sich wie ein roter Faden durch alle Lebensbereiche der davon be-
troffenen Kinder. Sie weisen in vielen Fällen eine unzureichende kognitive Ent-
wicklung, ein niedrigeres Selbstwertgefühl und schlechtere schulische Leis-
tungen auf als Kinder, die nicht in Armut leben. Es mangelt ihnen häufig an Ent-
faltungsmöglichkeiten, Spielmöglichkeiten und sie sehen sich mit wachsender
Chancenungleichheit sowie Perspektivlosigkeit konfrontiert. Sie leben oft in
beengten Wohnverhältnissen und in vernachlässigten Stadtteilen. In Armut
lebende Kinder haben generell ein höheres Risiko, krank zu werden und liegen
in ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung häufig zurück. Die Studie
des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Kindergesundheit KIGGS hat bestätigt,
dass Kinder aus sozioökonomisch schwachen Schichten häufiger übergewichtig
sind, schlechtere motorische Fähigkeiten haben und generell häufiger krank
sind. Sie leiden außerdem öfter an psychischen Krankheiten wie Ängsten oder
Depressionen.

Armut erlaubt es den Kindern also nicht, ihre Potentiale und Ressourcen ange-
messen zu entwickeln. So steigt die Gefahr, dass sich Entwicklungsdefizite her-
ausbilden, die später nur schwer oder gar nicht aufgeholt werden können.

Kinderarmut ist dermaßen weitreichend, dass zu ihrer Bekämpfung bzw. Ver-
meidung auch auf verschiedenen Ebenen angesetzt werden muss. Kinder wach-
sen in einem sozialen und kulturellen Kontext auf, in dem sie gut oder weniger
gut gefördert werden. Und sie wachsen innerhalb einer Betreuungs- und Bil-
dungsinfrastruktur auf, die sie mehr oder weniger gut erreicht. Neben einer exis-
tenzsichernden materiellen Absicherung muss deshalb der Ausbau der Betreu-
ungs- und Bildungsinfrastruktur vorangetrieben werden.

Jedes Kind jeglicher Herkunft muss die Möglichkeit haben, unversehrt und
selbstbestimmt aufzuwachsen und seine Potentiale zu entfalten. Kein Kind darf
zurückgelassen werden – dies muss Maßstab einer Politik sein, die auf Inte-
gration und Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen setzt und ihrer wirtschaft-
lichen, sozialen und kulturellen Ausgrenzung entschieden entgegenwirkt.

2. Das Ausmaß der Kinderarmut wächst und die Regierung schaut untätig zu

Die Bundesregierung zeigt sich der Herausforderung durch die Kinderarmut
nicht gewachsen. Auch nach über zwei Jahren Großer Koalition gibt es weder
effiziente Maßnahmen zur Bekämpfung von Kinderarmut noch ein schlüssiges
Gesamtkonzept. Etliche Kinder und ihre Familien könnten von den alltäglichen
Beschwernissen, die sich aus Armutslagen notwendig ergeben, zumindest ent-
lastet werden. Noch gravierender ist aber, dass zentrale Barrieren für erfolgrei-
che soziale, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe von Kindern nicht beseitigt
werden. Ohne angemessene Förderung und Unterstützung wird auch langfristig
ein beachtlicher Teil dieser Kinder diese Barrieren nicht überwinden können.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9028

Die Bundesregierung muss sich einerseits daran messen lassen, welche kon-
kreten Verbesserungen sie bei der Förder- und Bildungsinfrastruktur vorweisen
kann und andererseits daran, welche konkreten materiellen Schritte sie ergreift.
Auf beiden Feldern steht sie gemeinsam mit den Bundesländern in der poli-
tischen Verantwortung.

Notwendige Verbesserungen in Bezug auf Umfang und Qualität der Angebote
bei der frühkindlichen Förderung, der Schule, in den diversen Unterstützungs-
und Hilfsmaßnahmen der Jugendhilfe, aber auch bei der gesundheitlichen Prä-
vention und beim Verbraucherschutz sind einzuleiten und langfristig abzu-
sichern. Es ist zwar ein Fortschritt, dass die Bundesregierung den Ausbaubedarf
bei der Kindertagesbetreuung der unter Dreijährigen eingestanden und einen
Ausbauplan vorgelegt hat. Die geplante Umsetzung bis 2013 bleibt allerdings
hinter den zeitlichen Erfordernissen weit zurück. Noch immer sind etliche Um-
setzungs- und Finanzierungsfragen ungeklärt. Unabhängig davon sind bei dieser
mit den Bundesländern abgestimmten Initiative keinerlei nennenswerten Quali-
tätsverbesserungen bei der frühkindlichen Förderung absehbar. Diese sind
jedoch vor allem in bildungs- und armutspolitischer Hinsicht unumgänglich. Die
durchschnittlich vorhandene Angebotsqualität ist nicht ausreichend, um eine
sehr gute, individuelle Förderung und Bildung der Kinder zu bewerkstelligen.
Ganz offensichtlich mangelt es den Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und
SPD, der Regierung und der Mehrheit der Länder an Entschlossenheit – mögli-
cherweise sogar an Einsicht – hier wirklich umzusteuern.

Die Diskussion und die Entscheidung zum Betreuungsgeld sind ein eindrucks-
voller Beleg hierfür. Statt eine breite öffentliche Qualitätsdebatte zu führen, soll
im bevorstehenden Kinderfördergesetz ein Instrument verankert werden, wel-
ches einzig den finanziellen Anreiz bietet, Kinder von früher Förderung und
Mütter vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Und besonders „lukrativ“ ist das An-
gebot für Familien, deren Kinder in der Regel von externen Förderangeboten
besonders profitieren würden. Die – bisher ungedeckten ! – Kosten von rund
2,5 Mrd. Euro nimmt man in Kauf, ohne zu bedenken, welche weitreichenden
Qualitätsmaßnahmen damit finanziert werden könnten.

Ebenso problematisch ist, dass in Deutschland keine übergreifende Strategie für
mehr Bildungsgerechtigkeit auszumachen ist. Notwendig sind gemeinsame An-
strengungen von Bund und Ländern insbesondere für längeres gemeinsames
Lernen, für individuelle Förderung und für eine bessere Qualifizierung von
Pädagoginnen und Pädagogen. Doch sehenden Auges hat die Bundesregierung
gemeinsam mit den Ländern durch die Föderalismusreform I die Möglichkeit
abgeschafft, große Reformprojekte im Bildungsbereich vom Bund weiterhin
finanziell zu unterstützen. Deshalb muss z. B. das Ganztagsschulprogramm
2009 auslaufen.

Auch im Bereich der materiellen Förderung bzw. Armutsbekämpfung werden
selbst bescheidene Maßnahmen nur schleppend umgesetzt, aber dennoch als
Erfolg gefeiert. Nach zweijähriger Untätigkeit hat die Bundesregierung jetzt
endlich den schon lange überfälligen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des
Kinderzuschlags vorgelegt. Dies ist zwar zu begrüßen – vor dem Hintergrund
des Ausmaßes von Kinderarmut ist der Bundesregierung aber fachliches Ver-
sagen vorzuwerfen. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend will durch die angekündigte Weiterentwicklung des Zuschlags für etwa
250 000 Kindern gerade mal einen kleinen Teil der in Armut lebenden Kinder
erreichen.

Nicht nur in den so genannten Schwellenhaushalten ist die materielle Absiche-
rung der Kinder ungenügend. Statt endlich sicherzustellen, dass Kinder und
Jugendliche im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und
SGB XII) ihren Bedarfen entsprechend abgesichert werden, schiebt die Bundes-
regierung die Überprüfung der Regelsätze auf die lange Bank. Die bereits im

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August 2007 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales zugesagte Über-
prüfung der Regelsätze wird offenbar nach dem Ministerwechsel nicht ernsthaft
weiter verfolgt. Aus einem internen Bericht des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales vom 4. November 2007 zum Anpassungsmechanismus der Regel-
sätze bei Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende geht hervor, dass
eine eigenständige Bedarfserhebung für Kinder und Jugendliche nicht geplant
ist. Eine Überprüfung der Regelsätze für Kinder soll erst nach dem Vorliegen der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 vorgenommen werden.
Da die Ergebnisse der EVS 2008 erst in der zweiten Jahreshälfte 2009 vorliegen
werden, ist mit einer Überprüfung der Kinderregelleistungen nicht vor dem Jahr
2010 zu rechnen. Selbst die von der Bundesregierung angekündigten sym-
bolischen Brosamen für arme Familien, das sog. Schulstart-Paket von einmalig
150 Euro und der Bundeszuschuss für Schulessen, werden offenbar nicht
weiterverfolgt.

Völlig unzureichend sind auch die Bemühungen der Bundesregierung, die ge-
sundheitliche Prävention bei Kindern und Jugendlichen zu stärken. Im Zu-
sammenhang mit Armutsrisiken wichtige verbraucherschutzpolitische Maß-
nahmen bleiben unterentwickelt. So nimmt die Verschuldung Jugendlicher seit
Jahren zu, ohne dass von der Bundesregierung in angemessener Weise, z. B. in
Form von stärkeren Verbraucherrechten oder zielgruppengerechten Informa-
tionen, reagiert würde.

3. Teilhabechancen für alle – Fördernde und befähigende Infrastruktur

Um armen Kindern und ihren Familien die Unterstützung zu bieten, die sie brau-
chen, sind personenbezogene Angebote auszubauen. Problematische Lebens-
lagen und eingeschränkte Ressourcen dürfen nicht dazu führen, dass ihnen die
Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt bleibt. In Armut lebende Kinder brauchen
von Anfang an gleichen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Infra-
strukturen, also zu Räumen der Befähigung und Bildung.

Mit Hilfe von vielfältigen, abgestimmten hochwertigen Förderangeboten gilt es,
die Verstrickung von materieller, sozialer und kultureller Armut zu lösen. Eine
zentrale Rolle spielen dabei soziale Dienstleistungen und Strukturen, die Bera-
tungen und Unterstützung anbieten, Kompetenzen stärken und bilden, bei der
Familienarbeit entlasten oder auch mit konkreten Hilfsmaßnahmen intervenie-
ren. Zu nennen sind das System der Kindertagesbetreuung, der Bereich der
Familienbildung, die Schule oder auch die differenzierten Hilfemaßnahmen der
Jugendhilfe. Ebenso notwendig ist ein gutes Zusammenspiel der verschiedenen
Professionen und Institutionen. Damit diese Systeme den heutigen Anforde-
rungen gerecht werden können, ist vielfach ein Ausbau bzw. eine Weiterent-
wicklung notwendig – aber natürlich auch eine bessere finanzielle Ausstattung.

Investitionen in eine hochwertige Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur sind
Armutsprävention und Zukunftsinvestition zugleich. Sie sind ein wesentlicher
Beitrag dazu, das Aufwachsen von Kindern chancengerecht und perspektivisch
zu gestalten. Des Weiteren weisen sie das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis auf,
denn alle späteren Ausgaben für Bildung oder Sozialtransfers sind teurer und
weniger effektiv.

3.1 Kinder fördern und befähigen

Die frühkindliche Förderung und Bildung wurde in Deutschland lange unter-
schätzt. Es hat sich aber gezeigt, dass die Lernbedingungen gerade in der frühen
Kindheit besonders günstig sind, da Kinder eine intrinsische Neugier besitzen,
die sie entdecken und ausprobieren lässt. Sie können also spielend an Bildung
herangeführt werden und sich so die Schlüsselressource der Zukunft erschlie-
ßen.

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Kinder, die in einem für sie günstigen Umfeld aufwachsen, profitieren zusätzlich
von einer qualitativ hochwertigen Betreuung und frühen Förderung in Kinder-
tageseinrichtungen. Bei Kindern, die in einem weniger günstigen Umfeld auf-
wachsen, können eine gute Betreuung und Förderung helfen, Defizite recht-
zeitig auszugleichen – dies gilt insbesondere für Kinder aus benachteiligten
Familien oder mit Migrationshintergrund. Defizite und Lücken in der familiären
Unterstützung können durch eine frühzeitige externe, individuelle Förderung
der Kinder und Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenzen wettgemacht
werden. Der deutlich negative Zusammenhang zwischen familiärem Hinter-
grund und Bildungserfolgen kann so durchbrochen werden. Dabei gilt, dass
durch qualifizierte Formen der Kindertagesbetreuung elterliche Erziehungs-
verantwortung nicht ersetzt, sondern unterstützt und ergänzt werden soll.

Damit die Kinder auch ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend gefördert
werden können, muss der quantitative Ausbau von Angeboten für Familien mit
qualitativen Verbesserungen einhergehen. Notwendig sind verträgliche Grup-
pengrößen, ein angemessener Personalschlüssel und die Einführung eines Qua-
litätsmanagements im frühkindlichen Betreuungs- und Bildungssystem. Gleich-
zeitig ist die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern in der Kindertages-
betreuung zu verändern. Die Anforderungen an die pädagogische und bildungs-
orientierte Arbeit mit Kindern werden zunehmend komplexer. Um dem sich
ändernden Anforderungsprofil von Erzieherinnen und Erziehern gerecht zu wer-
den, empfiehlt sich die Ausbildung von Frühpädagoginnen und Frühpädagogen
an Fachhochschulen oder Universitäten. Langfristig sollte in den vorschulischen
Einrichtungen ein Personalmix erreicht werden. Personen mit unterschiedlicher
Ausbildung können dann für Betreuung, Bildung und Erziehung sorgen.

3.2 Familienbildung – Eltern nicht alleine lassen

Wer Kinder fördern will, muss auch deren Familien erreichen und besonders die
Eltern stärken. Ergänzend zum Ausbau der Betreuungs- und Bildungsinfrastruk-
tur müssen daher Angebote geschaffen bzw. ausgebaut werden, die die Möglich-
keit bieten, den Familien spezifische Unterstützung und Hilfe zukommen zu las-
sen. Eine zentrale Aufgabe dabei ist es, die Erziehungskompetenzen der Eltern
zu fördern und zu stärken. Damit vor allem Familien und ihre Kinder mit so ge-
nanntem Risikohintergrund in schwierigen Lebenslagen guten und frühen Zu-
gang zu öffentlichen Angeboten bekommen, sind die Unterstützungssysteme so
zu konzipieren, dass sie einen niedrigschwelligen Zugang sowie ein wohnum-
feldbezogenes Hilfeangebot gewährleisten.

Anknüpfend an Grundüberlegungen zu den britischen sog. Early Excellence
Centres sollten Betreuungseinrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren ausgebaut
werden. Erfolgreiche Modellprojekte und damit das Wissen, wie diese Zentren
erfolgreich funktionieren können, existieren in Deutschland. Der Schritt hin zu
einer flächendeckenden Umsetzung ist jedoch bislang nicht gelungen.

Entsprechend der Erweiterung von Einrichtungen und ihres Aufgabengebietes
bedarf es einer ausreichenden finanziellen Ausstattung. Der Vorteil solcher Zen-
tren ist, dass sie zum einen die Möglichkeit bieten, Eltern in ihrer Erziehungs-
kompetenz zu stärken und zu unterstützen, und zum anderen als Stätten dienen
können, die die Elternschulung für Erziehung mit Gesundheitsvorsorge und ge-
sellschaftlicher Integration verbinden. Die Eltern-Kind-Zentren zeichnen sich
auch durch das Element der Vernetzung aus. Für verschiedenste Lebenssitua-
tionen können diese Zentren selber konkrete Angebote unterbreiten oder eben
zumindest einen wertvollen Lotsendienst zu anderen Stellen und Angeboten
leisten. Dieser Vernetzungsgedanke kann und muss auf die gesamte Jugendhilfe
übertragen werden. Es ist nicht immer so, dass Konzepte, Leistungen und Res-
sourcen noch nicht verfügbar wären. Deshalb ist immer darauf zu achten, dass
diese sinnvoll aufeinander abgestimmt und untereinander vernetzt werden.

Drucksache 16/9028 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Auch wenn im politischen Raum die Bedeutung der Familienbildung zuneh-
mend erkannt wird, besteht hier nach wie vor eine sehr heterogene, vielfach
zersplitterte Angebotslandschaft. Die Vernetzung und Abstimmung der vielfäl-
tigen, auf verschiedenste Institutionen verteilten Angebote ist unzureichend.
Eine stringente Finanzierung wäre ebenso erforderlich wie eine abgestimmte
Zusammenarbeit. Ebenso wichtig ist es, Problem- oder Risikogruppen viel ge-
zielter anzusprechen und ihnen spezifisch zugeschnittene Angebote zu unter-
breiten. Um Kinder und Jugendliche langfristig und nachhaltig zu fördern, müs-
sen Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern integraler Bestandteil der
Ganztagsangebote für Kinder vor der Schule und im Schulalter sein – die För-
derung der Kinder darf nicht mit der Einschulung enden.

3.3 Dabei sein statt sitzenzubleiben

Die Startchancen von Kindern sind in Deutschland immer noch erheblich durch
die soziale und ethnische Herkunft bestimmt. Die Sozialerhebung des Deut-
schen Studentenwerks förderte zu Tage, dass von 100 Kindern von Nichtakade-
mikern es nur 46 auf das Gymnasium und davon wiederum nur 23 auf die Hoch-
schule schaffen. Dagegen studieren 83 von 100 Akademikerkindern. Um diesen
Zusammenhang zu durchbrechen, ist zusätzlich zu einer frühen Förderung in der
Kindertagesbetreuung eine Veränderung der Unterrichtskultur notwendig. Unter
den Bedingungen der Wissensgesellschaft wird der Bildungserfolg zu einem
entscheidenden Faktor für soziale Teilhabe – gute Bildung bestimmt zunehmend
über die Beschäftigungsfähigkeit, ein eigenes Einkommen und ein selbst-
bestimmtes Leben.

In Deutschland ist weder der gleichberechtigte Zugang zu Bildungsangeboten
gegeben noch genügt die Qualität vieler Bildungsangebote dem Anspruch, jeden
Menschen individuell nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu fördern.
Notwendig ist ein Schulsystem, das auf individuelle Förderung, Eigeninitiative,
Selbstständigkeit und längeres gemeinsames Lernen setzt, statt auf frühe Selek-
tion. Und nur durch eine ganztägige Schule, in der alle Kinder länger gemeinsam
lernen, erhalten gerade auch Kinder aus bildungsfernen Schichten notwendige
Unterstützung in ihrer Entwicklung.

Aufbauend auf dem von der vorherigen Bundesregierung 2003 gestarteten
„Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ müssen mittelfristig
alle Schulen zu gebundenen Ganztagsschulen mit kleineren Klassen und indi-
vidueller Förderung ausgebaut werden. Dabei geht es nicht nur um eine bessere
Infrastruktur durch eine ausreichende Ausstattung jeder Schule. Es bedarf auch
zusätzlichen Personals und zusätzlicher Kompetenzen – Unterrichtsassistentin-
nen und -assistenten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Pädagoginnen und
Pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher und Psychologinnen und Psychologen.
Darüber hinaus sollten die Schulen ein Budget erhalten, um auch die kulturelle
Bildung, Sportangebote oder andere Lernfelder anbieten zu können.

Besonders wichtig ist die schrittweise Überführung des Förderschulangebots in
die Regelschule. Das deutsche Bildungssystem ist bisher von der Idee und der
Praxis der Aussonderung geprägt, welches zuletzt von internationaler Ebene im
Bericht 2006 des UN-Sonderbeauftragten Vernor Muñoz Villalobos erneut hef-
tig kritisiert wurde.

Des Weiteren sollten zur Senkung der Schulabbrüche und zur Verbesserung der
Abschlüsse Produktionsklassen an möglichst vielen Schulen eingerichtet
werden.

Um den Besuch der Schule auch tatsächlich zu ermöglichen, müssen weiterhin
einige derzeit bestehende finanzielle Anforderungen an die Familien aufgeho-
ben und die Kosten stattdessen staatlich finanziert werden: die Beförderungs-
kosten, die in der Sekundarstufe 2 bei Leistungsbezug auf der Basis des SGB II
oder SGB XII, des Asylbewerberleistungsgesetzes oder des Kinderzuschlags

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/9028

derzeit nicht übernommen werden. Auch muss die Benutzung von Schulbüchern
während des gesamten Schulbesuchs frei sein und es müssen Lösungen für die
Finanzierung von Mahlzeiten im Ganztagsbetrieb gefunden werden.

3.4 Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen

Kinder, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, haben ein höheres
Risiko zu erkranken als Kinder aus anderen Familien. Dies belegen die Ergeb-
nisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys. Diese Benachteiligung betrifft
insbesondere solche Erkrankungen, die durch die Lebensumstände bedingt sind.
Mangelnde Bildungsangebote, fehlende Bewegung und schlechte Ernährung,
Umweltbelastungen und Gewalterfahrungen verringern die Möglichkeiten von
Kindern, gesund aufzuwachsen, ganz erheblich. Kinder aus sozial benachteilig-
ten Familien haben zudem ein höheres Risiko, im Laufe ihrer Entwicklung
psychisch zu erkranken, und sie laufen eher Gefahr, im Fall einer chronischen
Erkrankung nicht ausreichend behandelt zu werden. Die Gründe für diese
Ungleichheiten liegen zu einem erheblichen Teil in den Umständen, unter denen
diese Kinder aufwachsen. Beispielsweise werden Vorsorgeuntersuchungen und
andere Hilfs- und Beratungsangebote der Gesundheitsfürsorge durch sozial
benachteiligte Familien seltener in Anspruch genommen. Die Bekämpfung von
Kinderarmut ist damit eine direkte Voraussetzung für die Verbesserung der Ge-
sundheitschancen von Kindern.

3.5 Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer ermöglichen

In der Fachwelt ist man sich einig, dass der beste Schutz gegen Kinderarmut die
Erwerbstätigkeit beider Eltern ist. Dies gilt insbesondere, wenn es zu Familien-
krisen wie Trennung, Scheidung, Krankheit, Tod, Arbeitslosigkeit eines Eltern-
teils oder Ähnlichem kommt.

Vor diesem Hintergrund kommt dem Ausbau einer verlässlichen und hochwer-
tigen Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur eine besondere Bedeutung zu. Der
Ausbau ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass Beruf und Familie auch wirk-
lich miteinander vereinbar sind und Frauen und Männer gleichberechtigt einer
Erwerbstätigkeit nachgehen können. Denn besonders die Schwierigkeit, Beruf
und Familie zu vereinbaren, verschärft das Armutsrisiko von Familien. Deutlich
wird dies insbesondere bei Alleinerziehenden – sie haben durch eine unzu-
reichende Sicherung durch eigene Erwerbstätigkeit und durch unzureichende
Kinderbetreuungsmöglichkeiten ein besonders hohes Armutsrisiko zu tragen.
Gerade Frauen ist es oft aufgrund des mangelnden Angebotes an (ganztägigen)
Betreuungsplätzen und Ganztagsangeboten in Schulen nicht möglich, einer qua-
lifizierten (Vollzeit-)Tätigkeit nachzugehen.

Während es auf der einen Seite Frauen ermöglicht werden muss, einer Erwerbs-
tätigkeit nachgehen zu können, müssen auf der anderen Seite Männer bzw. Väter
die Chance bekommen, ihre Erwerbstätigkeit zu verringern, um mehr Zeit für
Familien- und Hausarbeit zu haben. Generell ist im Hinblick auf die Arbeitszei-
ten eine größere Flexibilisierung notwendig, um auch wirklich familienfreund-
liche Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt zu schaffen.

4. Armut bekämpfen – Für eine verlässliche Existenzsicherung

4.1. Existenzsichernde Regelleistungen garantieren und besondere Bedarfe von
Kindern anerkennen

Teilhabe- und Existenzsicherungspolitik müssen ineinander greifen. Damit so-
zial-, bildungs- und beschäftigungspolitische Reformansätze wirken können,
müssen die materiellen Grundvoraussetzungen geschaffen werden. Ein ganz-
tägiger Schulbesuch ist Kindern nicht zumutbar, wenn sie mit knurrendem
Magen den Unterricht verfolgen müssen. Auch ist Teilhabe dann eingeschränkt,
wenn Kinder nicht das nötige Schulmaterial mitbringen, weil die Eltern das Geld
dafür nicht aufbringen können.

Drucksache 16/9028 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die pauschalierten Regelleistungen, die im Zuge der Arbeitsmarktreformen zum
1. Januar 2005 eingeführt wurden, sind nicht existenzsichernd und verschlech-
tern die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen. Neben der finanziellen
Unterstützung von Niedrigeinkommen müssen die Regelleistungen nach dem
SGB II, SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz neu bemessen und
künftig an die Preisentwicklung angepasst werden. Insbesondere die Regelleis-
tungen für Kinder und Jugendliche sind künftig so zu bemessen, dass sie deren
besonderen entwicklungsbedingten Bedarf abdecken.

Das Sozialhilferecht sieht zwar vor, dass bei Kindern und Jugendlichen der not-
wendige Lebensunterhalt auch den besonderen, insbesondere den durch ihre
Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf umfasst (§ 27 Abs. 2
SGB XII). Dieser besondere, entwicklungsbedingte Bedarf von Kindern wird
durch die derzeitige Ausgestaltung der Regelsätze nach dem SGB II und dem
SGB XII jedoch nicht abgedeckt. Anstatt die besonderen Bedarfe von Kindern
und Jugendlichen alters- und bedarfsspezifisch zu erheben, werden die Regel-
sätze für Kinder pauschal aus dem Eckregelsatz abgeleitet. Diese prozentuale
Ableitung der Kinderregelleistungen ist weder sachlich begründet noch geeig-
net. Denn die Eckregelsätze orientieren sich an den Verbrauchsausgaben der un-
teren 20 Prozent der Einkommen von Alleinstehenden auf der Basis der Ein-
kommens- und Verbrauchsstichprobe. Die Orientierung an den Verbrauchsaus-
gaben von Alleinstehenden ist ungeeignet, um die Bedarfe von Familien abzu-
bilden, denn die Gruppe der Alleinstehenden besteht zu einem großen Teil aus
Rentnern. Kindspezifische Bedarfe wie Spielzeug, Schulmaterial, Sonderbe-
darfe an Bekleidung bei schnellem Wachstum etc. fallen bei dieser Bezugs-
gruppe nicht an. Die für die Entwicklungschancen für Kinder und Jugendliche
besonders wichtigen Aufwendungen für Bildung, wie z. B. die Teilnahme an
Kursen oder an einem Schüleraustausch, sind aus den Ausgaben der Alleinste-
henden gezielt herausgerechnet worden, da diese zur Existenzsicherung nicht er-
forderlich seien. Außerdem handelt es bei den unteren 20 Prozent der Einkom-
men von Alleinstehenden um eine Teilgruppe mit hohem Armutsrisiko, die in
besonderer Weise von Verschuldung betroffen ist.

Im Ergebnis stellt der Regelsatz für Kinder eine realitätsferne Größe dar. So ste-
hen für Kinder bis 14 Jahre neben den Unterkunftskosten monatlich nur 208
Euro zur Verfügung. 2,64 Euro pro Tag sind für Nahrungsmittel und Getränke
im Regelsatz enthalten, obwohl nach Auffassung von Experten eine gesunde,
die Entwicklung fördernde Ernährung mindestens vier Euro am Tag kostet. Ab-
solut unzureichend für junge Menschen, die im Wachstum befindlich sind, ist
ein Ansatz von 20,80 Euro im Monat für Bekleidung und Schuhe. Für Bus und
Bahn sind 8,46 Euro und für den Kauf eines Fahrrades 0,40 Euro vorgesehen.

Als bedarfsfern und bildungsfeindlich erweist sich zudem die Aufhebung von
Altersklassen bei den pauschalen Regelsätzen. Seit dem 1. Januar 2005 werden
nicht mehr die besonderen Bedarfe von Kindern im schulpflichtigen Alter von
7 bis 14 Jahren berücksichtigt. Während es für kleine Kinder im Arbeitslosen-
geld II zu einer Verbesserung gekommen ist, stehen Kinder ab dem siebten Le-
bensjahr heute schlechter da als in der alten Sozialhilfe. Ihre Bedarfe werden mit
den Bedarfen von Säuglingen gleichgestellt.

Die bedarfsfernen Regelsätze führen zu einer strukturellen Unterversorgung von
Familien, die Sozialleistungen beziehen. Eine existenzsichernde materielle Ab-
sicherung durch bedarfsgerechte Regelleistungen ist jedoch eine notwendige
Bedingung für die Sicherung von Teilhabechancen und für die Inanspruchnahme
von staatlichen Bildungs- und Betreuungsinfrastrukturleistungen. Diese für die
gesamte Gesellschaft bedrohliche Entwicklung hat inzwischen eine Vielzahl
von sowohl SPD- als auch CDU-geführten Bundesländern erkannt. Der Deut-
sche Bundestag begrüßt deshalb im Grundsatz die Bundesratsinitiativen der
Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin und Bremen, die

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eine Neubemessung der Kinderregelleistungen auf der Grundlage einer speziel-
len Erfassung der Kinderbedarfe fordern.

4.2 Armut trotz Arbeit vermeiden

Generell gilt die Erwerbstätigkeit von Eltern als bester Schutz vor Kinderarmut.
Aber selbst Erwerbstätigkeit kann nicht vor Armut schützen, wenn diese zu
niedrig entlohnt wird. So reicht in zunehmend mehr Familien das erwirtschaftete
Einkommen nicht aus, um den Gesamtbedarf der Familie zu decken – dies gilt
insbesondere für den Niedriglohnbereich und wird umso schwieriger, je mehr
Kinder in der Familie leben.

Da es insbesondere für Familien schwierig ist, ein ausreichendes Einkommen
für die gesamte Familie zu erwirtschaften, wurde zur Unterstützung einkom-
mensschwacher Familien der Kinderzuschlag eingeführt. Mit diesem Instrument
wird das Ziel verfolgt, zu verhindern, dass erwerbstätige Eltern allein aufgrund
des Vorhandenseins von Kindern in den Arbeitslosengeld-II-Bezug geraten. Die
derzeit geltenden Regelungen sind allerdings so restriktiv, bürokratisch und in-
transparent, dass trotz eines immensen Verwaltungsaufwands nur sehr wenige
Familien von dem Zuschlag profitieren. Um den Kreis der Anspruchsberechtig-
ten auszuweiten und dafür Sorge zu tragen, dass kurzfristig mehr einkommens-
schwache Familien von dem Instrument profitieren, sind Änderungen im Hin-
blick auf die Mindest- und Höchsteinkommensgrenze sowie die Transferent-
zugsrate notwendig. Des Weiteren ist der maximale Kinderzuschlag um 10 Euro
zu erhöhen, damit sichergestellt ist, dass der Kinderzuschlag zusammen mit dem
Kindergeld das Existenzminimum von 304 Euro deckt.

Aber auch andere Instrumente, wie die Einführung eines Mindestlohns und
progressiv gestaffelte Sozialbeiträge oder eine Aufwertung des Wohngeldes sind
zentrale Ansatzpunkte, um die sich ausweitende Armut von erwerbstätigen
Menschen zu bekämpfen.

4.3 Überprüfung der Familienförderung

Im Zuge einer notwendigen Bestandsaufnahme des komplizierten deutschen
Systems der Familien- und Eheförderung wäre zu prüfen, wie eine mögliche
Neugestaltung Kinderarmut schon im vorgelagerten Bereich vermeiden helfen
könnte. So ist das Steuer- und Abgabensystem noch immer stark auf das Allein-
bzw. Hauptverdienermodell ausgerichtet, was zu einer geringen Lukrativität von
Erwerbstätigkeit vorwiegend für Frauen bzw. Mütter führt. In Fällen von Tren-
nung und Scheidung oder auch bei Arbeitslosigkeit des Partners ist dann das
Armutsrisiko extrem groß.

Steuerliche Regelungen, wie das Ehegattensplitting oder die Kinderfreibeträge,
entfalten ihre höchste Entlastungswirkung in hohen Einkommensbereichen.
Dasselbe gilt für den Vorschlag, ein Familiensplitting einzuführen. Da Familien
mit geringem Einkommen nur wenig oder gar nicht davon profitieren, ist dieses
Modell abzulehnen. Nicht zuletzt durch die einseitige Begünstigung bestimmter
Familienformen können Familienkonstellationen wie Mehrkindfamilien oder
Alleinerziehende sich trotz einträglicher Erwerbstätigkeit nicht dauerhaft aus
dem prekären Einkommensbereich lösen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Hinblick auf die teilhabesichernde Infrastruktur

1.1 in dem bevorstehenden Gesetzesverfahren zum Ausbau der Kinder-
tagesbetreuung für Kinder zwischen dem vollendeten ersten bis zum
dritten Lebensjahr im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) einen
konditionierten Rechtsanspruch bezogen auf die Bedarfskriterien in
§ 24 Abs. 3 zum 1. Oktober 2009 sowie einen allgemeinen Rechts-

Drucksache 16/9028 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

anspruch für Kinder dieser Altersklasse zum 1. Oktober 2011 zu veran-
kern. So kann möglichst zeitnah ein bedarfsgerechtes Angebot zur För-
derung dieser Kinder sowie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und
Beruf errichtet werden;

1.2 eine Kinderbetreuungskarte als Bundesleistung einzuführen, die eine
zweckgebundene Geldleistung für Betreuungsangebote für diese
Altersklasse bereitstellt. Leistungsberechtigt sind alle Eltern mit
Kindern zwischen vollendetem ersten bis dritten Lebensjahr. Die Leis-
tung wird pro Kind gewährt und ist ausschließlich an die tatsächliche
Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung in Einrichtungen und
Kindertagespflege (gemäß SGB VIII) gekoppelt. An die Karte gebun-
den ist eine pauschale Geldleistung, die zwischen Betreuung in Einrich-
tungen oder in Kindertagespflege unterscheidet;

1.3 das bestehende Ehegattensplitting in eine Individualbesteuerung mit
übertragbarem Höchstbetrag von 10 000 Euro umzuwandeln und dafür
Sorge zu tragen, dass die sich daraus ergebenden gesamtstaatlichen
Mehreinnahmen in Höhe von rund 5 Mrd. Euro für die Inanspruch-
nahme von Kindertagesbetreuung sowie in den Ausbau und in die Qua-
litätsverbesserung der Betreuungsangebote sowie zur Gebührenredu-
zierung investiert werden;

1.4 den Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung mittelfristig für Kinder
zwischen drei und sechs Jahren auf ein ganztägiges Angebot festzuset-
zen;

1.5 auf die Ankündigung einer gesetzlichen Verankerung des Betreuungs-
geldes im bevorstehenden Artikelgesetz zur Änderung des Achten
Buches Sozialgesetzbuch sowie des Finanzausgleichsgesetzes zu ver-
zichten und die Einführung eines Betreuungsgeldes nicht weiter zu ver-
folgen;

1.6 die gegenwärtigen Ausbaubemühungen in der Kindertagesbetreuung
auch dahingehend zu nutzen, entscheidende Schritte zu Qualitätsver-
besserungen verbindlich mit den Ländern zu vereinbaren. Dazu gehört

a) die flächendeckende Verbesserung der Strukturqualität der An-
gebote;

b) die qualitative Anhebung der Ausbildung der Erzieherinnen und
Erzieher auf Hochschulniveau, um in den vorschulischen Einrich-
tungen perspektivisch einen Personalmix zu etablieren;

c) die Verankerung einer verbindlichen Grundqualifizierung von Kin-
dertagespflegekräften und die Schaffung adäquater Weiterbildungs-
möglichkeiten;

d) die Gewährleistung einer gesunden, qualitativ guten und kindge-
rechten Verpflegung innerhalb der institutionellen Betreuungsan-
gebote sowie die Bereitstellung einer kostenlosen Verpflegung in
Kitas und Schulen zumindest für Kinder aus einkommensschwachen
Familien;

e) die Vereinbarung über qualitative Grundstandards im Elementar-
bereich. Zudem ist zu prüfen, inwieweit Qualitätsmanagementsys-
teme, wie Gütesiegel oder Zertifizierungsverfahren, für die Kinder-
tagesbetreuung in Einrichtungen und in der Kindertagespflege ver-
bindlich und flächendeckend eingeführt werden können;

1.7 gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, dass

a) bestehende Modelle zur Erweiterung von Kindertageseinrichtungen
zu Eltern-Kind-Zentren in der Breite als Regelangebote realisiert
werden können;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/9028

b) alle Länder zumindest Ausführungsgesetze zur Familienbildung an-
knüpfend an § 16 SGB VIII erlassen, um überall zu klaren und ver-
bindlichen Regelungen im Bereich der Familienbildung zu kommen;

c) eine umfassende Initiative entwickelt wird, um die vielfältigen An-
gebote der Familienbildung mit mehr Ressourcen auszustatten, bes-
ser miteinander und mit angrenzenden Bereichen wie der Erwachse-
nenbildung oder Gesundheitsaufklärung zu vernetzen und die Zu-
gänge zu den Angeboten zu verbessern;

d) für einen flächendeckenden Ausbau gebundener Ganztagsschulen
bei qualifizierter Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen ge-
sorgt wird;

e) das Ziel des längeren gemeinsamen Lernens auch für Schülerinnen
und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erreicht wird.
Dazu muss das Förderangebot schrittweise in die Regelschule über-
führt werden. Hierfür bedarf es einer entsprechenden Aufstockung
der Ressourcen für den gemeinsamen Unterricht. In einem ersten
Schritt müssen Eltern ein echtes Wahlrecht erhalten, ob sie ihre Kin-
der auf die Sonderschule oder auf eine wohnortnahe Regelschule
bringen möchten;

f) die schulbezogene Jugendsozialarbeit bedarfsgerecht gestärkt und
weiterentwickelt wird, weil sie durch explizite Bildungsangebote
und kompensatorische Leistungen Chancengleichheit, soziale Inklu-
sion und Integration verbessert und Schulmüdigkeit und Schulab-
bruch von Kindern und Jugendlichen präventiv entgegenwirkt;

g) die Bildungsangebote der Jugendarbeit die so genannten Risiko-
gruppen des formalen Bildungssystems besser erreichen und unter-
stützen;

h) zielgruppenorientierte Beratungs- und Hilfsangebote zur Stärkung
der Gesundheitskompetenz von Kindern und Eltern in sozial benach-
teiligten Familien entstehen;

i) Vorsorgeuntersuchungen und die Angebote der öffentlichen Ge-
sundheitsdienste eine qualitative und quantitative Aufwertung erfah-
ren und hierbei für positive Anreize zur Teilnahme an diesen Ange-
boten Sorge zu tragen;

2. im Hinblick auf eine verlässliche materielle Absicherung

2.1 die Regelleistungen als Referenzgröße für Sozialleistungen nach dem
SGB II, SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz so auszuge-
stalten, dass sie dem sozialstaatlichen Gebot der Deckung des Existenz-
minimums für alle Menschen genügen. Die Regelleistung für Erwach-
sene muss dafür auf mindestens 420 Euro erhöht werden. Der Anpas-
sungsmechanismus ist künftig an die Preisentwicklung zu koppeln;

2.2 unverzüglich eine unabhängige Kommission mit Vertretern aus der
Fachwissenschaft, den Wohlfahrtsverbänden, Vertretern der Träger der
Sozialhilfe und der Jugendhilfe einzusetzen, die Bemessungsgrundla-
gen und angemessene Regelungen für bedarfsgerechte altersspezifische
Regelleistungen für Kinder und Jugendliche erarbeitet. Die Ermittlung
und Festlegung der Bedarfe muss nachvollziehbar und transparent sein.

Zu prüfen sind insbesondere

a) wie durch regelmäßig durchzuführende wissenschaftliche Erhebun-
gen die alterspezifischen entwicklungsbedingten Bedarfe erfasst
werden können, z. B. in Form einer neu einzurichtenden und zu er-

Drucksache 16/9028 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
hebenden Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für Kinder und
Jugendliche,

b) ob kurz- bis mittelfristig zur zeitlichen Überbrückung der länger-
fristigen Durchführung von wissenschaftlichen Erhebungen und
Auswertungen die alterspezifischen, entwicklungsbedingten Kin-
derbedarfe im Rahmen eines Kinderwarenkorbes durch ein Exper-
tengremium, bestehend aus Verbandsvertretern und Sachverstän-
digen, festgelegt werden sollten;

2.3 die Regelsätze anhand der Ergebnisse der unabhängigen Expertenkom-
mission unverzüglich zu überarbeiten. Die Überarbeitung erfolgt durch
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit
den Bundesländern und ist in Form eines Gesetzentwurfs in den Deut-
schen Bundestag einzubringen;

2.4 bis zu einer endgültigen Regelung sofort gesetzliche Regelungen zu
schaffen, die es den Kostenträgern des SGB II, des SGB XII und des
Asylbewerberleistungsgesetzes ermöglichen, Sachleistungen zu ge-
währen, die der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen dienen, soweit diese Leistungen nicht durch
die Kommune oder ein Bundesland gewährt werden;

2.5 es Kindern aus einkommensschwachen Familien zu ermöglichen, an
sprachlichen, sportlichen und musischen Förderangeboten teilzuneh-
men. Für kommunale Sportangebote, Musikschulen, Bibliotheken,
gegebenenfalls Nachhilfe und ähnliche Angebote ist eine Kinderfrei-
zeitkarte in Form eines Gutscheins zur Verfügung zu stellen. Das schu-
lische Angebot kann so ergänzt werden;

2.6 einen ambitionierteren Reformvorschlag zur Weiterentwicklung des
Kinderzuschlags vorzulegen, um sicherzustellen, dass der Kreis der
Anspruchsberechtigten nennenswert ausgeweitet wird; perspektivisch
ist eine Neuordnung der Familien- und Eheförderung notwendig und
damit einhergehend die Einführung einer Kindergrundsicherung, die
Armut vermeidet;

2.7 darüber hinaus weitere Maßnahmen zu ergreifen und insbesondere
durch Mindestlöhne und progressiv gestaffelte Sozialabgaben die
finanzielle Situation von Geringverdienern zu verbessern. Eine abge-
stimmte Erhöhung der Wohngeldleistungen sowie eine anteilige, gede-
ckelte Einbeziehung der Kosten für Heizung und Warmwasser, die im
Bedarfsfall zu einer deutlichen Entlastung der Miet- und Wohnkosten
führen, sind ebenfalls unverzüglich vorzunehmen.

Berlin, den 30. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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